CHINA: Ein Brief aus China

von Zhang Wei, 12.12.2022, Veröffentlicht in Archipel 320

Es ist sehr selten, dass Chines·inn·en, die nicht zur Elite gehören, ihre Gedanken über die Entwicklung der Gesellschaft ihres Landes, die soziale Kontrolle oder die politischen Tabus äussern. Wir veröffentlichen hier einen Brief, der uns von einer glaubwürdigen Quelle erreicht hat und uns einen Einblick in die aktuelle Situation gibt, wie sie von innen heraus erlebt werden kann.

Heute ist der Alltag der Chinesen·inn·en sehr beschwerlich, man muss alle drei Tage einen PCR-Test machen, um normal reisen zu können. Chinas Anti-Epidemie-Politik hat zu vielen unmenschlichen Situationen und Tragödien geführt. Auch wenn diese Informationen in China gesperrt sind, kann man einen Teil davon immer noch auf YouTube finden.

Die wirtschaftliche Lage Chinas, gekoppelt mit der Politik der Seuchenprävention, hat sich verschlechtert und alle Lebensbereiche wurden in Mitleidenschaft gezogen. Es ist schwieriger geworden, Geld zu verdienen und einen Arbeitsplatz zu finden. Dies gilt für viele Berufe. Viele Menschen haben die grossen Metropolen verlassen und sind in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. Manche Menschen mit gesundheitlichen Problemen möchten ins Ausland auswandern, und diejenigen, die keine gesundheitlichen Probleme haben, können nur ausharren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Man kann nur an sich selbst denken, was zu Egoismus und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft führt.

Ich weiss nicht, was wir ändern können, zumindest in China ist die Macht des Einzelnen zu schwach, und es gibt keine Chance, eine kollektive Macht zu bilden. Als ich älter wurde, war die Kontrolle über das gesprochene Wort am stressigsten; viele Nachrichten überlebten keine fünfzehn Minuten im chinesischen Internet. Ich weiss nicht, wie das Leben in einem demokratischen Land aussieht, aber zumindest kann jeder seine Unzufriedenheit ausdrücken. Hier kann man nicht einmal sprechen. Ich bin froh, dass Sie bereit sind, mir zuzuhören. Viele sind abgestumpft, aber es gibt auch Menschen, die mit ihrem derzeitigen Leben unzufrieden sind.

Sensible Wörter und Themen

Die meisten Menschen diskutieren im Alltag nicht über die Taiwan-Frage. Viele verstehen die grundlegende Geschichte der Taiwan-Frage nicht. Selbst wenn einige Menschen darüber diskutieren, bleiben ihre Meinungen von der Erziehung und Propaganda der Kommunistischen Partei Chinas geleitet. Zum Beispiel: «Taiwan ist ein unveräusserlicher Teil Chinas.»

Ich habe Freunde aus Taiwan, die mit Ingenieuren in Peking kommunizieren, und wir diskutieren gelegentlich über diese Fragen. Meine persönliche Meinung ist, dass die Frage, ob Taiwan zu China gehört oder nicht, historisch umstritten ist, dass es unmöglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen, das alle zufrieden stellt. Deshalb denke ich, es ist besser, den Status quo beizubehalten, weil jede grössere Veränderung das Leben der einfachen Leute beeinflussen wird. Es würden Umwälzungen geschehen, gute und schlechte, aber Umwälzungen sind oftmals schlechter als ein stabiles Leben. Ich denke jedoch, dass die Kommunistische Partei Schritte unternehmen wird, um Taiwan zu annektieren. Dies entspricht ihrem politischen Bedürfnis nach einer «grossen Verjüngung der chinesischen Nation».

Es gibt zu viele «sensible Themen» und «sensible Wörter», die im Internet nicht erwähnt werden dürfen. Wenn davon eine wichtige Gruppendiskussion betroffen ist, kann es sein, dass Personen eine Verwarnung erhalten oder sogar von der Polizei festgehalten werden. Daher sprechen kluge Menschen selten im Internet. Diejenigen, die sich dort äussern, sind oft irrationale Personen, die ihren Patriotismus zum Ausdruck bringen. Viele sprechen sogar absichtlich über sinnlose patriotische Themen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Sie irrationalen, patriotischen Kommentaren widersprechen, werden Sie möglicherweise denunziert, Ihr Konto wird mit Redeverbot belegt oder sogar gesperrt.

Die Angst der Regierung

In der ersten Hälfte dieses Jahres hat sich im Internet etwas Interessantes abgespielt. In diesem Zeitraum ereigneten sich, während des Lockdowns in Shanghai, zahlreiche Tragödien. Viele Menschen nahmen ihr Leben auf Video auf. Eine Person schnitt diese Videos schliesslich zusammen und drehte einen fünf- oder sechsminütigen Dokumentarfilm. In diesem Kurzfilm gibt es keine Bemerkungen gegen die Regierung oder direkte Stellungnahmen. Er fügt lediglich Sequenzen zusammen, welche die tatsächlichen Veränderungen im Leben eines jeden Einzelnen zeigen. Natürlich können viele Menschen verstehen, was das bedeutet. Das Video wurde vielfach im Internet neu gepostet und von der Regierung gelöscht. Dies dauerte mehrere Tage. Die Internetnutzer·innen sagten, dass sie es erneut posten würden, wenn es verschwindet. Es wurde zu einem Wettbewerb zwischen den Internetnutzer·innen und der Regierung. Natürlich hat sich diese Angelegenheit nach einigen Tagen allmählich beruhigt. Glücklicherweise betraf es eine relativ grosse Anzahl von Menschen und, soweit ich weiss, wurde niemand dafür bestraft. Dies machte mir einen Punkt bewusst: Wenn eine Gruppe gross genug ist, um sich zusammenzuschliessen, hat die Regierung Angst; sie kann nicht so viele Menschen verhaften, sie kann nur «ein Huhn töten, um die Affen zu verscheuchen», ein Sprichwort, das bedeutet: Sie kann nur ein Exempel statuieren. Das ist auch der Grund, warum die chinesische Regierung Angst vor der Macht der Zivilgesellschaft hat und deren Organisationen kontrolliert. Heute werden sogar christliche Kirchen überwacht, und die Aktivitäten der Kirchen müssen unter von der Regierung installierten Kameras stattfinden.

Ein so schwerwiegender Vorfall wie der auf der SiTong-Brücke ist in China sehr selten. Am 8. Oktober hängte ein als Arbeiter verkleideter Mann Transparente an diese Strassenbrücke in Peking: Slogans gegen die Gesundheitspolitik und vor allem gegen den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Der Mann wurde festgenommen und verschwand, ebenso wie die Bilder und Kommentare zu dem Ereignis, die in den sozialen Netzwerken Chinas vollständig zensiert wurden. Die meisten Menschen trauen sich nicht zu protestieren, dennoch haben sich viele Einzelpersonen, die ungerecht behandelt wurden, anschliessend bei der Regierung beschwert. Die Überlebensdauer im Internet ist in China sehr kurz. Es heisst, dass nach dem SiTong-Vorfall die meisten Kontosperren in der chinesischen Geschichte verhängt wurden – mit über 600.000 gesperrten WeChat(1)-Konten.

Ich fasse die Logik der Sprachkontrolle grob zusammen: Private Gespräche unter vier Augen oder Gruppendiskussionen, an denen nur wenige Menschen teilnehmen, sind in der Regel kein Problem. Aber wenn jemand aus der Gruppe auf öffentlichen Plattformen wie Moments(2) oder Weibo(3) veröffentlicht, wird sein Konto in der Regel gelöscht, und wenn er die öffentliche Meinung in grossem Umfang beeinflusst, kann er bestraft werden.

Ich rede für mich

Was ich gerade erzählt habe, ist das, was ich sehe und was ich denke. Natürlich kann ich «die Chinesen» nicht repräsentieren, und ich bin auch nicht typisch. Meiner Meinung nach sind die meisten Menschen politisch unsensibel, und vielen fehlt sogar der grundlegende gesunde Menschenverstand, um alle diese Fragen zu beurteilen. Und überhaupt: Jede·r hat Angst, über Politik zu sprechen. Man kann es nur vorsichtig und im Privaten tun. Ich weiss nicht, wie viele Menschen unabhängig denken, aber es muss sich um eine Minderheit handeln. Ein Freund sagte mir, er habe den Eindruck, dass während der Epidemie der letzten Jahre immer mehr Menschen aufwachten, aber ich stimme dem nicht zu. Ich denke, dass die meisten immer noch betäubt und passiv sind. (…)

Ich behaupte nicht, dass das, was ich geschrieben habe, richtig ist, und ich respektiere, dass andere eine andere Meinung haben, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass zu viele Menschen zu stark durch Ideologie, Bildung und staatliche Propaganda (wir haben ein Wort dafür: xi nao, Gehirnwäsche) indoktriniert werden, so dass sie den gesunden Menschenverstand und die einfachste Logik verlieren. Und vielen Menschen fällt es schwer zu akzeptieren, dass jemand eine andere Meinung hat als sie selbst, also ist es besser, nicht zu sprechen, als eine unangenehme Diskussion zu führen. Ich benutze seit langem ein VPN(4) und es kostet jedes Jahr Hunderte von Dollar. Wenn es nicht mehr funktionieren würde, fühlte ich mich sehr gefährdet, weil es die einzige Möglichkeit für mich ist, eine normale Verbindung zur Aussenwelt zu haben. In meinem Beruf habe ich einen grossen Bedarf an Informationen. Sie müssen wissen, wie schlecht die Suchmaschine von Baidu(5) ist. Wenn Sie eine Suchanfrage stellen, sind die ersten Inhalte, auf die Sie stossen, in der Regel irreführende kommerzielle Werbung, und wenn es um berufliche Inhalte geht, findet Baidu nicht viel. Wie dem auch sei, ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

Zhang Wei (6)

  1. In China sehr beliebte mobile Anwendung für Text- und Sprachnachrichten. Im Jahr 2018 und zählte weltweit mehr als eine Milliarde Konten.

  2. Von WeChat bereitgestellter Mikroblog-Dienst

  3. Chinesische Webseite für Mikroblogging.

  4. Ein System, das eine direkte Verbindung zwischen entfernten Computern herstellt, deren Austausch vom übrigen Datenverkehr in öffentlichen Telekommunikationsnetzen isoliert ist und so Diskretion gewährleistet.

  5. Chinesisches Internetunternehmen mit einer chinesischsprachigen Suchmaschine. Vor dem Hintergrund der Zensur wird der Chef von Baidu im Jahr 2018 Vizepräsident eines Verbandes, in dem 300 Internetunternehmen zusammengeschlossen sind, um die «zentralen Werte des Sozialismus» und die regierende Kommunistische Partei zu unterstützen.

  6. Aus Sicherheitsgründen verwendet der Autor das Pseudonym Zhang Wei, das die in China gebräuchlichste Kombination aus Vorname und Nachname ist.