Amalia van Gent, langjährige Korrespondentin der NZZ in Istanbul, war in den letzten Monaten in der Schweiz unterwegs, um ihr neues Buch über die Türkei vorzustellen. Sie hat uns in Basel besucht. Es war ein freudiges Wiedersehen mit einer alten Freundin, denn Amalia und Werner haben uns in den 1980 Jahren bei unserem Engagement für kurdische und türkische Flüchtlinge immer wieder unterstützt, sie als WOZ-Mitarbeiterin und er als DRS-Journalist.
Mit ihrem Buch «Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst» schließt sie ihre 20-jährige Tätigkeit in Istanbul ab. Amalias Großeltern waren Griechen und mussten aus der Türkei fliehen. Ihre Eltern zogen in die Schweiz, als sie noch jung war. Heute hat sie sich entschieden, zu ihren Wurzeln nach Griechenland zurückzukehren.
Ihr Buch gibt einen kompakten, klaren Überblick über das Land und seine Politik. Die Lektüre macht einem bewusst, wie wenig wir hier über die Türkei wissen und wie bruchstückhaft die Informationen sind, die bis zu uns kommen.
Die Gewalt zieht sich wie ein roter Faden, wie eine Blutspur durch die Geschichte der Türkei, noch viel mehr, als man es allgemein annimmt: Dreimal hat das Militär geputscht. Jedes Mal mit unzähligen Toten, Verschwundenen und Gefolterten. Hier der Völkermord an den Armeniern, dort der blutige und schmutzige Krieg gegen die Kurden, der zur Zerstörung und Entvölkerung ganzer Landstriche führte, und der ja bereits in den 1930er Jahren begann. (Unser Freund, der kurdische Anwalt Huseyin Yildirim, hat über den heroischen Widerstand der Kurden von Dersim ein Buch geschrieben).
Dann die brutale Repression 1979, unmittelbar vor dem Militärputsch, gegen das Selbstverwaltungsexperiment in der kleinen Schwarzmeerstadt Fatsa. (Ein von türkischen Flüchtlingen errichtetes Haus in der Longo Mai Kooperative in Limans erinnert an dieses tragische Ereignis). Da war aber auch das Massaker von Sivas 1993 an den Aleviten, ein Pogrom, an dessen Folgen diese islamische Minderheit noch heute leidet. Und die Septemberereignisse von 1955: Damals fiel ein Mob über das weltläufige Istanbuler Viertel Beyoglu her, zerstörte in einer Nacht den wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt der Istanbuler Armenier und Griechen.
Immer wieder stellt sich Amalia die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört. Es gebe kein zweites Land in der islamischen Welt, das sich über ein Jahrhundert fast inbrünstig gewünscht habe, «europäisch» zu werden, in diesem Wunsch sich immer wieder grundlegend verändere und dennoch den letzten großen Schritt nicht wage, schreibt die Autorin. Sie stellt dar, wie das Land von einer ungeahnten Dynamik erfasst wurde, als ausgerechnet die AKP, die ihre Wurzeln in der Bewegung des politischen Islam hat, die Türkei in die EU zu führen versprach. Der EU-Beitritt ist inzwischen aber wieder weiter weggerückt. Die AKP hat nach ihrem Wahlsieg im Sommer 2007 die versprochene Verfassung und auch andere Reformen im Rahmen des EU-Prozesses auf Eis gelegt.
Amalia van Gent versteht es, die verschiedenen Bruchlinien zueinander in Beziehung zu setzen und die historischen Hintergründe so zu beleuchten, dass komplizierte Entwicklungen nachvollziehbar werden. Dabei ist das Buch ein gut lesbares Werk. Aufgelockert werden die faktenreichen Kapitel mit reportageähnlichen Einschüben und persönlichen Erlebnissen etwa zur Musik, zur türkischen Küche oder auch zum Kampf um die verbotenen, im Türkischen nicht verwendeten kurdischen Buchstaben Q, W und X. Die Farbbilder von Linda Herzog geben einen weiteren Blick auf die facettenreichen Realitäten Anatoliens.
Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien, Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Farbfotos von Linda Herzog. Rotpunktverlag Zürich, 320 S., SFr. 38.–; ISBN 3-85869-377-4