Bosnien: Hier dürften keine Menschen sein!

von Heike Schiebeck, EBF-Österreich, 01.09.2019, Veröffentlicht in Archipel 284

Die schockierenden Nachrichten von einem Flüchtlingslager auf einer ehemaligen Mülldeponie ausserhalb von Bihac veranlassten eine Freundin und mich, Ende Juli 2019 wieder nach Bosnien zu fahren.

Auf der Terrasse der kleinen Herberge «Hotel Napoleon» in der nord-westlichen Grenzstadt Velika Kladusa, wo wir übernachten, begrüssen uns Freiwillige vom SOS-Team-Kladusa, die dort auf einen Arzt aus Slowenien warten. In den letzten Wochen haben sie in einer leerstehenden Bar eine kleine Ambulanz für Geflüchtete eingerichtet, die sonst keinerlei medizinische Versorgung erhalten würden. Das ist eine wirkliche Verbesserung hier im Ort. Der Arzt berät sie auch telefonisch, wenn sie nicht weiterwissen. Seit wir Ende März mit einer EBF-Menschenrechtsdelegation in der Kleinstadt waren, hat sich die Situation der Menschen auf der Flucht nicht verbessert: Noch immer leben Hunderte ausserhalb des Miral-Lagers in leerstehenden Häusern oder auf verwahrlostem Gelände. Täglich gehen viele zum so genannten game (Spiel), das heisst, sie versuchen über die Grenze nach Kroatien zu gelangen. Die kroatische Polizei bringt die Meisten illegal zurück nach Bosnien, oft mit Gewalt. Vor kurzem haben zwei kroatische Polizisten der Ombudsfrau des Landes geschrieben, weil sie die Befehle, Gewalt gegen Flüchtlinge anzuwenden und sie illegal abzuschieben, nicht mehr ertragen. Latans Restaurant, wo mehr als ein Jahr lang gratis Mahlzeiten ausgegeben wurden, ist im Moment wieder geschlossen.

Mutige Hilfe von Freiwilligen

Heimlich verteilen die internationalen Freiwilligen von NoNameKitchen (NNK) abends Essen, Kleidung und was sonst gebraucht wird über eine Whatsapp-Nummer und an wechselnden Orten, um der Polizei nicht aufzufallen. Im Untergeschoss der Ambulanz betreiben sie zweimal wöchentlich einen Freeshop, wo sie Kleidung ausgeben. SOS-Team und NNK arbeiten daran, unter einer überdachten Fläche hinter dem Gebäude auch wieder warme Mahlzeiten zu verteilen und Duschcontainer sollen aufgestellt werden. Sie warten für die Umsetzung auf eine ID-Nummer, die Registrierung als Verein haben sie geschafft. Ohne eine im Land offiziell anerkannte Organisation ist es Ausländer·inne·n in Bosnien nicht erlaubt, Hilfe zu leisten. Von den grossen Hilfsorganisationen fehlt jede Spur. Trotz aller Widrigkeiten erscheint uns die Stimmung in Velika Kladusa entspannter. Viele Flüchtlinge und Einheimische grüssen freundlich, wenn sie uns auf der Terrasse des «Napoleon» sitzen sehen. Der Sommer erleichtert einiges und feindselige Angriffe aus der Bevölkerung, wie im letzten Winter, gibt es derzeit nicht. Im Stadtpark hat beides Platz: Das Festival «Sommer in Velika Kladusa» mit täglichen Musikveranstaltungen und lokalen Spezialitäten und die Menschen, die unterwegs sind. Die Schliessungsgerüchte über das Miral-Lager ausserhalb der Stadt haben sich nicht bestätigt. Wir sprechen mit Geflüchteten, die vor dem Camp im Gras sitzen, nichts von einer Schliessung wissen und über das Essen und die nach wie vor mangelhafte medizinische Versorgung klagen. Ungefähr 400 bis 500 Männer leben im Lager. Wir sehen viele Menschen zu Fuss unterwegs zur Stadt.

Verbannt auf eine Müllhalde

Das Flüchtlingslager Vucjak liegt in den Bergen zehn Kilometer ausserhalb von Bihac, einem Fremdenverkehrsort mit 60‘000 Einwohner·inne·n im Una Nationalpark. Etwa 5‘000 bis 6‘000 Geflüchtete halten sich in der Stadt auf, etwa die Hälfte in überfüllten Lagern, die anderen unter freiem Himmel oder in Privatunterkünften. Es kam vermehrt zu Konflikten untereinander und mit der Bevölkerung. Die Stadtregierung wollte die Obdachlosen nicht mehr in den Parks sehen und schlug einen Platz für ein weiteres Camp vor. Das Rote Kreuz und die IOM (International Organization for Migration) stimmten nicht zu, weil es kein geeigneter Ort sei: kein Wasser, kein Strom, ringsum Minenfelder, giftige Methangase, die laut Anrainern immer noch von der zugeschütteten Müllhalde aufsteigen. Also entschied die Stadt auf eigene Faust: Mitte Juni trieb die Polizei fremdländisch aussehende Menschen in den Parks und Strassen zusammen und brachte sie nach Vucjak, manche durften nicht einmal ihre Habseligkeiten mitnehmen. Das provisorische Lager liegt auf einer Schotterstrasse nur zwei Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Hier treffen wir Dirk Planert, Journalist und Fotograf aus Deutschland, der die Lage in Vucjak bekannt gemacht hat1. Er hat auch während der Balkankriege in den 1990er Jahren humanitäre Hilfe geleistet. In einem Zelt verarztet er kaputte Füsse und entzündete Wunden, viele von der Krätze, die er unter den miserablen hygienischen Zuständen nicht medizinisch behandeln kann, sagt Dirk. Wieviel Grauen braucht es, um in unseren Medien durchzudringen? Wir bringen Verbandsmaterial, Medikamente, gespendetes Geld und zwei ehrenamtliche Helfer. Etwa 30 Männer warten im Ambulanz-Zelt, Dirk fängt gleich an, sie zu versorgen.

Unter aller Würde

Ein junger Pakistani führt uns durchs Lager: In den Zelten des Roten Halbmonds hausen je zehn Männer, dünne Matratzen und Decken am Boden. Wasser kommt in Tankwagen auf den Berg, das Rote Kreuz bringt zweimal täglich Essen, es sei nicht schlecht, aber zu wenig. Seit einigen Tagen gibt es Dusch- und Toilettencontainer, viel zu wenig für die 500 bis 600 Menschen hier. Ein einziger Generator liefert Strom, zumindest können die Handys aufgeladen werden. Wir sprechen mit verzweifelten, wütenden Männern. «Was soll das? Sie behandeln uns schlimmer als Tiere!» Im Lager zirkuliert ein kleines weisses Büchlein mit dem Titel How to win the game, eine bebilderte Anweisung mit Tipps, wie man über die Grenze kommen kann. Auf einer grossen Landkarte an einer Mauer sind die Minenfelder in der nahen Umgebung rot schraffiert eingezeichnet. Einige versuchen, aus der Situation das Beste zu machen, backen am Boden unter einem provisorischen Dach Fladenbrot und schenken Tee aus. In einem Zelt haben sie eine Moschee eingerichtet. Für ein Taschengeld führen acht junge Leute des bosnischen Roten Kreuzes das gesamte Lager. Es sei von der Türkei finanziert, für die medizinische Versorgung reiche das Geld nicht aus. Auf unsere Frage, was am meisten fehle, antwortet uns Sabina, eine engagierte junge Frau, die als Ehrenamtliche im Camp arbeitet: «Hier dürften keine Menschen sein.» Es fehle an allem, sie versuchten, die Lage etwas erträglicher zu machen, etwa mit Musik. Die meisten Männer haben keine Schuhe, nur Badelatschen. Wie sollen sie in diesem unwegsamen Gelände weiterkommen? Auf der Rückfahrt nach Bihac begegnen wir zwei Polizeiautos, die eine Gruppe von etwa 40 Menschen wie eine Schafherde den Berg hinauftreiben, zu Fuss in der Mittagshitze, ein Polizeiauto vorne, eines hinten. Zurück in Velika Kladusa treffen wir S., die mit anderen Frauen einen Telefonshop führt. Sie freut sich, uns zu sehen, wir gehen auf einen Kaffee. Sie erzählt, dass noch immer viele Menschen den Flüchtlingen helfen, aber heimlich. Man bekomme viele Kommentare zu hören, manchmal tauche die Polizei auf. Oft werde sie gefragt, warum sie den Flüchtlingen helfe. Sie denkt nach: «Wisst ihr, in unseren Shop kommen hauptsächlich Männer, die machen respektlose Bemerkungen, ein Augenzwinkern, eine Berührung, so sind sie, unsere bosnischen Männer. Aber die Flüchtlinge: Nie, niemals, kein einziges Mal. Sie sind mir immer mit Respekt begegnet, alle. Das ist es.»

  1. https://balkanstories.net

Grenzen dicht – und was dann?

Interaktive Konferenz am 2./3. November 2019 in Graz, Forum Stadtpark Die europäischen Regierungen verfolgen seit mehreren Jahren eine konsequente Politik der geschlossenen Grenzen. Sie verlagern die Grenzsicherung an die EU-Außengrenzen, ohne nach den Konsequenzen zu fragen. Das führt zu lebensbedrohenden Situationen für Menschen auf der Flucht, hat aber auch Auswirkungen für die Menschen, die in den angrenzenden Ländern und innerhalb der EU leben. Während die Strategie der Regierungen darauf zielt, so wenig Flüchtende wie möglich in die EU zu lassen, versuchen NGOs die schlimmsten Auswirkungen zu lindern. Menschen aus der Zivilgesellschaft setzen sich für die Rechte der Flüchtenden ein – sei es im Mittelmeer, entlang der Balkanroute oder innerhalb der EU-Länder. Sie engagieren sich häufig bis zur Erschöpfung und werden dafür oft noch kriminalisiert. In der Dynamik der Machtverhältnisse zwischen Regierungen, NGOs, freiwilligen Helfer·inne·n und Menschen auf der Flucht finden sich Helfende und Flüchtende in einer Art Hamsterrad, aus dem es kaum noch einen Ausweg zu geben scheint. Die Veranstaltung richtet sich an alle, die schutzsuchende Menschen unterstützen, sei es an den Grenzen oder innerhalb der EU, sowie an andere mit dem Thema konfrontierte, z.B. als Wissen-schaftler·innen oder in sozialen Einrichtungen Tätige.

Näheres unter: nordwind.commons.at/festung-europa