Eine kritische Begleiterin der sogenannten Wiedervereinigung, Herma Ebinger, geboren am 17. Juni 1950 in einer Familie, die im antifaschistischen Widerstand der dreissiger Jahre gekämpft hatte. Sie hat ihre letzten dreissig Jahre in der Longo Maï-Kooperative in Mecklenburg Vorpommern «Hof Ulenkrug» gelebt und ist am 31. Januar, selbstbestimmt im Kreis ihrer Freundinnen und Freunde gestorben. Sie ist in der DDR, wie sie schreibt, «indoktriniert bis zum Gehtnichtmehr» aufgewachsen.
Indoktriniert, weil die Geschichte des antifaschistischen Widerstands einfach täglich vorhanden war, «täglich kamen Überlebende vorbei und ich sass mit fünf, sechs Jahren unterm Tisch und habe zugehört.» Sie war eine der aktivsten Begleiterinnen des Europäischen BürgerInnenforums nach dem Mauerfall. In der DDR hatte sie alle Formen des Widerstandes gegen die dumme Bürokratie versucht und sich speziell für die Fragen der Emanzipation der Frauen engagiert. Über die sogenannte «friedliche Revolution» erzählt sie in dem Buch «Révolutionaires»[1]:
«Ich bin in Leipzig nur ein einziges Mal bei einer Demonstration mitgegangen, als alle befürchteten, dass geschossen wird. Ich hätte es nicht verhindern können, aber da wollte ich nicht abseitsstehen. Es wurde nicht geschossen. Zu anderen Demos bin ich nicht gegangen, mir war nicht klar, wohin das führen sollte. Bei vielen, die ich kannte, waren mir die Motive zu sehr von dem Gefühl, persönlich zu kurz gekommen zu sein, bestimmt. (...) Um den Umbrüchen nicht jede und jeder einzeln ausgeliefert zu sein, haben wir das Kulturnetz Ost gegründet. (...) Jetzt brauchte es Leute, mit denen man sich zusammentun konnte, die ebenfalls von einer Weltgesellschaft träumten, in der Solidarität und Kooperation die wichtigsten Werte sind.» Herma kannte die Menschen und erzählte ihre Sicht auf den Umbruch nach der Wiedervereinigung so: «Es war unglaublich, wie schnell die Leute geglaubt haben, sie sind selbst schuld, wenn sie ihre Arbeit verlieren. Obwohl sie alle etwas von Marx wussten. Das grösste Problem für die Menschen ist die Perspektivlosigkeit, wenn plötzlich nichts mehr möglich ist. Es war wirklich eine existenzielle Krise. Plötzlich hat Geld eine Rolle gespielt, was vorher nie so der Fall war. Und dann haben die Leute angefangen, sich die ganze Scheisse schön zu reden.» (…) 89 war eine verrückte Zeit, mit wechselnden Gefühlen.
«Am 4.11.89 auf der grossen Demo in Berlin[2] habe ich Hoffnung geschöpft, weil ich das Gefühl hatte, dass die Menschen wirklich miteinander reden…..und dann kam der 9.11. und «Wir sind ein Volk», das war auch die Befürchtung von meinen Freunden und mir gewesen. (...) Im Dezember 1989 hat sich das Europäische BürgerInnenforum gegründet, um «Ost und West von unten gemeinsam zu gestalten» – grosskotzig wie sie waren (die Leute von Longo Maï, Anm. d. Red.). Das Verrückte war das Gute daran.»
Seither hat Herma sich dafür eingesetzt, dass eine Kooperative gemeinsam mit Longo Maï in Ostdeutschland entsteht. Das erste gemeinsame Projekt bestand darin, mit der Gemeinde Wollup im Oderbruch den Verkauf des staatlichen Gutes an einen westdeutschen Bewerber durch die Treuhand zu verhindern. Der gemeinsam mit der Gemeinde ausgearbeitete Gegenvorschlag war die Kommunalisierung des Gutes, um der Dorfbevölkerung eine neue Perspektive zu geben. Die ganze Dorfbevölkerung hatte sich dafür eingesetzt. Nach drei Jahren Diskussionen und Demonstrationen war die brandenburgische Regierung unter Manfred Stolpe bereit, auf den Vorschlag einzugehen.
Dann erschien ein Artikel in der Berliner Morgenpost, geschrieben von einem westdeutschen Linken, dass Longo Maï eine Sekte sei. Als Beweis berief sich der Journalist auf eine Grossrazzia der französischen Polizei am 29.11.1989 auf der französischen Koopertive von Longo Maï in Limans. Die brandenburgische Regierung distanzierte sich danach von dem Projekt. Die Treuhand hatte gewonnen.
Herma Ebinger hat in 16 Beiträgen im Archipel die Entwicklung in Ostdeutschland geschildert. Ursprünglich mit Fragen der Frauenemanzipation beschäftigt, haben dann ihre damaligen Artikel – zwischen 2002 und 2019 – den aufkommenden Nationalismus und seine geistigen Urheber denunziert und ihre Beunruhigung über diese faschistische Entwicklung zum Ausdruck gebracht. Für Herma wurde diese Entwicklung zu einem Albtraum, dem sie nur durch Aufenthalte in einem Olivenhain in Südfrankreich entfliehen konnte.
Ihre fundierten Artikel sind ein Zeitzeugnis dieser Epoche, die von den Politiker·innen und Medien gerne verschwiegen wird. Es lohnt sich, sie wieder zu lesen. Ihr Interview für «Révolutionaires» beschliesst sie mit ihrer Hoffnung: «Heute sind viele Menschen resigniert, und es gibt auch gute Gründe dafür. Eigentlich könnte man sagen, die grossen Fluchtbewegungen sind eine Art Revolution, aber die Antwort darauf ist, dass die Leute hier, die mehr haben, sich gegen die stellen, die weniger haben. Es ist deprimierend. Aber es ist wichtig, nicht zynisch zu werden. Wenn du zynisch wirst, haben sie gewonnen; immer wenn ich mich dabei ertappe, sag ich mir: Herma, komm zurück. Von 2015 bis 2016 bin ich mit einem Bus durch Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich gefahren und habe viele Kooperativen und Kollektive besucht. Das hat mich sehr berührt, wie viele junge Leute überall versuchen, eine andere Lebensweise zu kreieren – solidarisch, kooperativ. Und sich gemeinsam gegen unsinnige Grossprojekte, die die Umwelt zerstören, wehren. (…) Mit diesen und anderen jungen Leuten ist überall zu rechnen; sie haben noch nicht aufgegeben.»
Kennengelernt hatten wir uns am 4. November 1990, als sie mit vier Freunden in einem kleinen PKW aus Leipzig kam, enttäuscht darüber, dass die drei Busse, die sie für diesen Jahrestag der Grossdemonstration bestellt hatte, leer blieben. Da hatte sie schon den Zusammenbruch dieses in Bürokratie versunkenen Grossprojektes einer Gesellschaft ohne Kapitalismus erlebt; sie war aber nicht resigniert, wie so viele, und nicht zynisch. Sie war bereits auf der Suche nach einem neuen Weg.
Eine Perspektive von unten, orientiert an dem, was zum Leben notwendig ist. Für sie war dieser neue Anfang auch verbunden mit ihrer Sehnsucht nach der Leichtigkeit des Lebens, den Festen, dem guten Essen, den offenen persönlichen Gesprächen, der rabiaten Kritik, die sie in Longo Mai entdeckt hatte. Sie machte sich dabei auch keine Illusionen über die auch hier noch herrschenden patriarchalen Strukturen.
Zwei Zusammenbrüche, der des Rotkämpferbundes ihres Vaters gegen den Faschismus und der des Sozialismus in nationalen Grenzen hatte sie tief in sich vergraben, um neu anzufangen. Herma hatte für jeden, der mit ihr sprechen wollte, immer eine Aufmerksamkeit und Neugier aber auch einen Rat, sie hat uns vorgemacht, wie man geradlinig durchs Leben gehen kann ohne zu resignieren. Sie war eine grossartige Frau.
«Die Toten sind erst tot, wenn die Lebenden sie vergessen.» (aus Cecilia Guineas Gedichtband «IIab»)
Jürgen Holzapfel*
*Jürgen Holzapfel lebte ebenfalls während 30 Jahren auf dem Ulenkrug, der Europäischen Kooperative Longo maï in Mecklenburg-Vorpommern, und ist im Europäischen BürgerInnenforum engagiert.
«Révolutionaires – Récits pour une approche féministe de l’engagement», edition du commun. ISBN: 979-10-95630-49-4. Auf Deutsch: «Revolutionärinnen – Erzählungen für einen feministischen Ansatz von Engagement». Das Buch wurde hergestellt vom «Atelier des Passages», ein Kollektiv von Personen, die zwischen 1980 und 1990 geboren sind, also die Grosskinder der Frauen, die sie interviewt haben, sein könnten. Es erschien am 25. Februar 2022 und besteht aus Interviews mit sieben, ganz verschiedenen, engagierten Frauen aus mehreren Ländern und wird gerade übersetzt und demnächst auf Deutsch veröffentlicht.
Am 4. November 1989 organisierten Theatermacher·innen eine Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Es war die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration der DDR und mit rund einer Million Teilnehmer·innen die grösste der deutschen Geschichte.