Die folgende Deklaration wurde in Frankreich von jungen Akademiker·innen der Technischen Universität Paris Ende 2022 zusammen mit den Kollektiven «Les Désert’heureuses»[1] und «Vous N’êtes Pas Seuls»[2] verfasst. Sie beschäftigt sich mit dem Phänomen der Desertion von Hochschulabsolvent·inn·en vor dem Hintergrund eines sozialen Krieges, der durch die Rentenreform neu entfacht wurde.
Die Erklärung vereint 24 Kollektive und 185 unterzeichnende Personen aus allen möglichen Berufssparten. Anfang April wurde sie in einer grossen französischen Tageszeitung veröffentlicht.
Ein Jahr nach den ersten «Desertionsreden» an renommierten Hochschulen und Universitäten, betonen die jungen Akademiker·innen wieder ihre Weigerung, sich «den privilegierten Reihen eines von der Handelswelt gegen das Leben geführten Krieges» anzuschliessen. In ihrem Text zeigen sie aber auch Perspektiven für die Zukunft auf:
Wir weigern uns, Kompliz·inn·en zu sein
Im Jahr 2022 wurde viel über die Desertion der am besten ausgebildeten Personen geschrieben, oft unklare und oberflächliche Kommentare. Wir, die Kollektive, die dieses soziale Phänomen initiiert haben, wollen klären, was wir unter dem Wort «Desertion» verstehen. Zwei Jahre Gesundheitskrise haben die Absurdität eines Alltags offengelegt, den man damit verbringt, im Dienste einer von der Realität abgekoppelten Wirtschaft zu arbeiten. 2022 war das Jahr der Kündigungswellen und der Ablehnung der Arbeit als Ware. Vor dem Hintergrund einer grossen – gewaltsam unterdrückten – sozialen Bewegung gegen eine Rentenreform, die Menschen als produktivistische Ressourcen betrachtet, wollen wir klarstellen, warum wir uns für die Desertion entschieden haben, mit dem Ziel, Perspektiven aufzuzeigen und die Front des Protestes zu verbreitern.
Was desertieren wir?
Die Illusion, dass das Ende der Welt von denjenigen verhindert werden kann, die für die Katastrophe verantwortlich sind, hält sich hartnäckig: also von Kapitalismus, Industrie, Technologie und Staat. Ein paar Fahrradwege, Elektroautos, Sonnenkollektoren, Ökoquartiere und Kohlenstoffsteuern wären die «Lösungen». Unser Wirtschaftssystem beruht jedoch auf der Ausbeutung der Arbeiter·innen und der Umwelt. Dieses hat eine Lebensweise und eine Hierarchie auf der ganzen Erde mit Gewalt durchgesetzt und erstickt nach und nach jede Alternative.
Da wir gezwungen sind, unser Essen, unsere Unterkunft und unsere medizinische Versorgung über Geld zu finanzieren, haben wir keine Kontrolle über unser Leben und unsere Lebensgrundlagen. Nicht etwa handwerkliche, landwirtschaftliche oder künstlerische Tätigkeiten füllen unsere Mägen, sondern Individualismus, Wettbewerb und Herkunft. Für uns bedeutet Freiheit, in der Lage zu sein, direkt und kollektiv für unsere Grundbedürfnisse zu sorgen. Wir wollen nicht mehr von der Industrie abhängig sein, um für diese aufzukommen.
Als junge Akademikerinnen und Akademiker hatten wir uns automatisch für Karrieren entschieden, die Komfort und Privilegien versprachen, im Austausch für unsere Loyalität gegenüber den Herrschenden. Wir sind desertiert, weil wir diese Rolle als Kompliz·inn·en ablehnen. Wir desertieren aus den privilegierten Reihen eines Krieges, der von der Warenwelt gegen das Leben geführt wird. Wir desertieren aus dem Karrierismus und den vergeblichen Versuchen, das Monster von innen heraus grün zu färben. Wir desertieren aus der Anbetung der Technologie und den falschen Lösungen, welche die Industrie zur Bekämpfung ihrer eigenen Plagen verspricht.
Desertieren, um besser kontern zu können
Wir wollen aus der Isolation ausbrechen und in den Widerstand gehen, an der Seite derjenigen, die für Land und Freiheit kämpfen. Von der Verteidigung der Commons bis zum Kampf gegen autoritäre und imperialistische Politik, teilen wir unser Wissen über das Räderwerk der Maschine mit denjenigen, die versuchen, sie aufzuhalten. Als sogenannte «höhere» Führungskräfte, die an die Stadt, an Hörsäle und Büros gewöhnt sind, haben wir nicht die besten Voraussetzungen, um uns als Bauern, Bäuerinnen und Handwerker·innen neu zu erfinden. Also lernen wir von Menschen, die bescheiden und stolz leben und wissen, wie man Dinge selbst macht.
Wir erfinden nichts. Von den Kämpfen der Marroni (schwarze Sklav·inn·en, die aus den Plantagen flüchteten) zum antiindustriellen Exodus nach 1968, von der Weigerung eines revolutionären Teils der Arbeiter·innenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, sich in das berufliche Aufstiegssystem einzugliedern bis hin zu den zapatistischen Strategien ab den 1990er Jahren – unsere Desertion findet ihre Inspiration in einer reichen Geschichte von Bewegungen, die zum Einen der Unterdrückung widerstehen und zum Anderen die Welt verändern wollten, aber immer danach trachteten, die Macht eher zu besiegen als zu erobern.
Die sterilen Gegensätze überwinden
Wir wollen die falsche Debatte zwischen «den Privilegierten, die desertieren, um Ziegen zu züchten» und «den reformistischen Kollaborateur·inn·en, die drinnen bleiben» beenden. Wir wissen, dass die radikale Gesellschaftskritik, die wir vertreten, von vielen geteilt wird und dass Allianzen aufgebaut werden müssen. Wir können unterschiedliche Methoden haben: mit oder ohne Institutionen; lokal, regional oder national oder auch international. Wir akzeptieren die Vielfalt der Taktiken, solange wir einen gemeinsamen Horizont teilen.
Davon abgesehen wird heute viel Energie mobilisiert, um von innen heraus Widerstand zu leisten, während wir noch zu schwach sind, um von aussen her ein neues Kräfteverhältnis aufzubauen. Wir werden die Spekulation mit Landwirtschaftsland nicht eindämmen, indem wir diese nur anprangern, sondern vielmehr indem wir uns das Land physisch zurückholen! Wir werden das Problem der Dürre nicht mit kleinen Gesten lösen, sondern erst wenn wir die gemeinsame Wasserverwaltung wieder aufnehmen, indem wir zuallererst die Mega-Wasserbecken-Projekte stoppen! Wir werden den ökologischen Übergang nicht mit industriellen Energieerzeugungsanlagen machen, egal ob atomar oder «erneuerbar», da diese auf einer zentralisierten Macht, einem neokolonialen Regime und schädlichen Infrastrukturen beruhen und die gleiche Megamaschine antreiben. Für uns wird der Übergang durch die Demontage dieser autoritären Technologien und des globalen Extraktivismus erfolgen!
Bei Menschen, die sich engagieren wollen, aber allein sind, kann die Isolation angesichts des Ausmasses der Katastrophe zu einem überwältigenden Gefühl der Ohnmacht führen. Es scheint oft unvorstellbar, alles stehen und liegen zu lassen, um sich zu engagieren, ohne eine Lösung oder einen Plan im grossen Massstab zu haben. Aber es wird nie einen einfachen Weg, einen «Raus aus dem Albtraum»-Knopf oder einen magischen Wahlzettel geben. Fahnenflucht bedeutet auch, diese Isolation zu durchbrechen, um sich wieder eine kollektive Handlungsmacht zu verschaffen. Unsere Desertion ist freudig, sie schafft uns ein Bewusstsein, macht uns fähig und stolz auf unsere Lernerfolge und solidarisch mit den Menschen, die unsere Wege kreuzen.
Studierende, Arbeitnehmer·innen, Rentner·innen, Arbeitslose... lasst uns desertieren! Betrachten wir alle Formen der Desertion als Optionen, die nicht nur möglich, sondern auch notwendig, ernsthaft und wünschenswert sind. Schaffen wir Netzwerke für den Lebensunterhalt, in denen jede/r ein würdiges Leben führen kann. Bereiten wir uns darauf vor, für die Menschen um uns herum und in Solidarität mit jenen in der Ferne zu kämpfen, um lebendige Umgebungen zu verteidigen und von den Allmächtigen das zurückzuholen, was allen gehört. Bauen wir eine breite und transversale Bewegung solidarischer Menschen auf, um das Kräfteverhältnis umzukehren!
Unterzeichnende von «AgroParisTech» und Mitglieder der Kollektive «Les Désert'heureuses» und «Vous N'êtes Pas Seuls», 2022
Der Text und die Liste der Unterzeichnenden ist unter «Tribune de la désertion» im Internet zu finden: www.nouvelobs.com/opinions/20230425.OBS72596/jeunes-diplomes-nous-continuons-de-deserter-car-nous-refusons-d-etre-complice.html
«Die glücklichen Desertierenden» sind ein Zusammenschluss von Ingenieur·inn·en, Techniker·inne·n und Forscher·inne·n.
«Ihr seid nicht allein» ist ein gemeinnütziger Verein, der aufgrund der grossen Einsamkeit angesichts der Ungerechtigkeiten und Verwüstungen, die untrennbar mit unserer Zivilisation verbunden sind, entstanden ist. Sein Ziel ist es, Arbeitnehmer·innen zu beraten und zu begleiten, die an einer Kluft zwischen ihrer Arbeit und ihren Werten leiden.