Seit 50 Jahren besteht das Kooperativennetz Cecosesola im Nordwesten Venezuelas. Die derzeitige Situation der Verknappung von Lebensmitteln und Medikamenten in Venezuela hat weit reichende Auswirkungen, auch auf die Entwicklung von Cecosesola. Eine Analyse der Krise in Venezuela und deren Auswirkungen auf das Kooperativennetz.
Überblick über die Aktivitäten
150 Personen, die als Familieninitiative anfingen, haben sich in acht kommunitären Produktionseinheiten organisiert, in denen teils handwerklich, teils maschinell Güter wie Vollkorn-Teigwaren, Honig, Reinigungsmittel, Seife und Shampoo, Fruchtkonzentrate und anderes mehr hergestellt werden.
An unseren Wochenmärkten nehmen wöchentlich ca. 100'000 Fami-lien, vor allem aus der Stadt Barquisimeto (1,3 Mio. Einwohner·in-nen), teil. Auf diesen kommunitären Wochenmärkten sind wir imstande, monatlich 10'000 Tonnen Lebensmittel des familiären Grundbedarfs anzubieten.
Etwas mehr als 250 Bauernfamilien haben sich in 15 landwirtschaftlichen Produktionskooperativen als kollektive Mitglieder von Cecosesola zusammen geschlossen; dazu kommen ungefähr 100 landwirtschaftliche Erzeuger·innen, die dabei sind, dasselbe zu unternehmen.
Wir betreiben ein Gesundheitsnetz in fünf Stadtteilen von Barquisimeto, in dem wir einen umfassenden Gesundheitsdienst anbieten; 2016 traten wir so mit insgesamt 220'000 Personen in Kontakt, um uns auf vielfältige Weise um unsere Gesundheit zu kümmern. Rund 190 im Gesundheitsbereich ausgebildete Fachkräfte sind beteiligt. Teil dieses Netzes ist unser «Integrales Kooperatives Gesundheitszentrum» (CICS, Centro Integral Cooperativo de Salud) mit zwei Operationssälen und 20 stationären Betten, Sprechstunden der Allgemein- und Fachmedizin sowie einer Reihe von Alternativtherapien.
20'000 Familien sind in der kooperativen Sterbekasse eingeschrieben. In diesem Projekt liegt der Ursprung des gesamten heutigen Netzwerks.
Sämtliche Aktivitäten in Cecosesola werden von uns selbst finanziert und kollektiv geführt.
Durch den Preisunterschied zwischen unseren kooperativen Dienstleistungen und denen privater Anbieter·innen kommt es jährlich vergleichsweise zu einer Gesamtersparnis von 30 Millionen Dollar für die Familien, die unsere Dienste nutzen.
In der Ausführung unserer kollektiven Aktivitäten sind wir rund 1'300 vom Kooperativengesetz so definierte «assoziierte Arbeiter·innen».
Zum Unterhalt unserer Familien zahlen wir uns wöchentlich einen Vorschuss auf die am Ende des Geschäftsjahres zu erwartenden Überschüsse. Da es bei uns keine abhängige Beschäftigung im Sinne von Kapitalarbeit gibt, reden wir auch nicht von Löhnen und Gehältern; wir leben in und von Kooperationsbeziehungen.
Permanente Reflektion
Mithilfe einer ständigen Reflektionstätigkeit, die in unserem tagtäglichen Tun ihren Ausgangspunkt hat, wollen wir Schritt für Schritt das Individualistische und nur Selbstbezogene, den Hang zu hierarchischen Strukturen, zur Anhäufung von Gütern und Gewinnen, und zur fragmentierten und verdinglichten Sichtweise unserer westlichen Zivilisation, deren Tendenzen wir alle auf die eine oder andere Weise in uns tragen, transparent machen; denn wenn wir sie transparent machen, besteht die Möglichkeit, sowohl die Emotionen als auch die Logik, die in unseren Gesellschaften dominant sind, zu überwinden: Das ist auch der Grund, warum bei uns z.B. Manager·innen, «Führungskräfte» und die Verkettung in «Oben-Unten-Beziehungen», die vertikalen Entscheidungslinien, keinen Platz mehr haben.
Diese Reflektion spiegelt sich in der Tatsache, dass wir uns in und zwischen den verschiedenen Bereichen der Organisation insgesamt 3'000 Mal pro Jahr zusammensetzen. Zumindest eine wöchentliche Versammlung in jedem der Tätigkeitsbereiche und ca. 250 Treffen übergreifender Natur in unserem Netzwerk. Dabei werden z.B. die Preise für die Güter, die dort zirkulieren, kollektiv beschlossen. Das heisst, weder der Markt noch Preis- «Verhandlungen» unter uns sind die entscheidende Instanz, sondern der Konsens auf der Basis von Angemessenheit.
Die Krise Venezuelas
Eine der wesentlichen Veränderungen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation in Venezuela ist der plötzliche Wechsel von einer Überflussgesellschaft, in der praktisch alles mit den Einkünften aus dem Erdölgeschäft bestritten werden konnte, in eine Mangelgesellschaft, in der es oft am Lebensnotwendigen fehlt.
Dies hat mit dem Einbruch der Rohölpreise zu tun – Einnahmen aus dem Rohölverkauf machten 2015 noch 96 Prozent des venezolanischen Bruttosozialprodukts aus – , aber mehr noch mit den strukturellen Problemen des venezolanischen Wirtschaftsmodells, welches auf der Erdölförderung, den Einnahmen aus dem Rohölverkauf und dem Import fast aller anderen Waren – einschliesslich Lebensmittel – beruhte. Dieses extraktivistische und rentistische Wirtschaften – du holst aus Mutter Erde ohne Skrupel das heraus, was dir in den (wirtschaftlich-finanziellen) Kram passt, und davon lebst du dann eigentlich recht komfortabel – erreicht seine Grenzen.
Unter der Regierung von Präsident Chávez wurden die Einnahmen aus dem Rohölverkauf zwar deutlich umgelenkt, was zur Folge hatte, dass die staatlichen Sozialprogramme («misiones») in den Bereichen Wohnen, Alphabetisierung, Schule und Universitätsstudium, Gesundheit und staatliche Renten auch mehr und mehr den ärmeren Teilen der Bevölkerung zu Gute kamen. Das Land blieb aber in die Abhängigkeit von den Rohstoffeinnahmen verstrickt.
Theorie und Praxis
Ausserdem stand der in der neuen Verfassung festgeschriebenen protagonistischen und partizipativen Rolle des Volkes eine politische Praxis gegenüber, in der eine zentralistische Staatsmacht zwar Basisorganisationen wie die Kommunalen Räte schaffte, diese jedoch immer am Tropf der Staatsfinanzen hängen blieben und so das letzte Glied in der Kette bildeten.
Dies wirft auch – und nicht nur für Venezuela – die etwas grundsätzlichere Frage auf, wie linkes Engagement mit einer Macht zurechtkommen kann, welche nicht aus der Basis gewachsen ist und auch nicht beliebig und von den jeweiligen politischen Akteur·in-nen umgestaltet werden kann. Die Staatsmacht ist kein Freiraum, sondern engstens in die Logik der Kapitalverwertung eingebunden. Dies könnte u.a. Grund dafür sein, warum in Lateinamerika die meisten linkspopulistischen Regierungen der letzten beiden Jahrzehnte stetig zunehmende neoliberale Ausprägung erhalten.
Vieles deutet darauf hin, dass der «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» in Venezuela schon nach 18 Jahren am Ende steht. Die derzeitigen, teilweise gewalttätigen, Auseinandersetzungen im Land, die schon mehr als 100 Todesopfer gefordert haben, sind Ausdruck des Kampfes um eine Staatsmacht, welche auf beiden Seiten, Regierung und Opposition, ohne wirkliche Alternativvorschläge zum oben beschriebenen Wirtschaftsmodell bleibt.
Raubbau an der venezolanischen Erde
Das im Februar 2017 von der Regierung per Verordnung angestossene Bergbauprojekt des «Arco Minero del Orinoco» (Minenbogen im Orinoco) sieht vor, dass in einem Gebiet von 112'000 Quadratkilometern, die 11 Prozent der Gesamtfläche des Landes entsprechen, transnationalen Unternehmungen Tür und Tor für das Goldschürfen, die Diamantensuche und den Abbau von Coltan geöffnet werden. Dies wird zusätzlich mit Sonderkonditionen wie z.B. steuerlichen Erleichterungen garniert. Die Konsequenzen für die Umwelt, z.B. für die venezolanischen Wasserreserven, und für die indigenen Völker, die dort angestammt leben, sind gigantisch.
Der venezolanische Staat, in welchem sich in den letzten 18 Jahren eine bourgeoise Elite festgesetzt hat, aber auch die politische Opposition setzen im Grunde genommen darauf, auf diese Weise die staatlichen Deviseneinkünfte wieder in Fahrt zu bringen, um den längst auf das Vierfache der Devisenreserven angestiegenen Auslandsverschuldungen nachkommen und die staatlichen Sozialprogramme auf einem zufriedenstellenden Niveau halten zu können. Dass dies den Raubbau an der venezolanischen Erde noch weiter beschleunigt, wird – auf letztlich neoliberale Art und Weise – aussen vor gelassen. Derzeit liegt die Inflationsrate gemittelt bei 800 Prozent, die derzeit höchste in der Welt. Die extrem mangelnde Produktion von Lebensmitteln und Arzneimitteln hat zur Folge, dass die Importpolitik, die wie schon angedeutet keine Lösung mehr bietet, trotzdem weitergeführt wird.
Cecosesolas Weg in der aktuellen Situation
Für uns in Cecosesola ist all dies eine Herausforderung, welche einer Aktivierung unseres gesamten kreativen Energiepotentials bedarf: Das politische Klima spitzt sich von Tag zu Tag zu. In den teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition sind zunehmend Todesopfer zu beklagen.
Für eine offene und flexible Organisation wie Cecosesola stellt sich vor allem die Frage, wie wir das Versprechen des konsequenten Engagements bei den kommunitären Wochenmärkten und Gesundheitsdiensten für zehntausende Familien einlösen können, wenn die Versorgung mit dem Notwendigsten so prekär wird. Oft ist es völlig offen, ob für ein Wochenende auf dem Markt Produkte angeboten werden können, manchmal kommt plötzlich ein Sattelschlepper mit Zucker, manchmal nicht. Um auf diese sich von Tag zu Tag wandelnde Situation eine halbwegs angemessene Antwort geben zu können, werden oft blitzschnelle Entscheidungen benötigt. Es ist wichtig geblieben, dass wir die auf dem Markt angebotenen Produkte so verkaufen können, dass es für die tausenden von einkaufenden Familien die gleiche Menge gibt. Wenn es nur für ein Kilo Reis reicht, gilt dies dann für alle – sowohl für diejenigen, die in Cecosesola arbeiten, als auch für jene, die nur zum Kaufen kommen. (…)
Eindeutig ist, dass der Arbeitsaufwand der companer·as deutlich zugenommen hat. In der Gesundheit und auf den Märkten haben sich die Arbeitstage bis zu manchmal 15 Stunden ausgedehnt. Es bewährt sich jedoch, dass im Laufe der Jahre in der breiten Bevölkerung Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Transparenz von Cecosesola gewachsen ist. «Bei Cecosesola wird man nicht über den Tisch gezogen», heisst es oft, und das ist in der venezolanischen Kultur des Ausnutzens und mit Hang zum Eigennutz nicht selbstverständlich.
Trotz allem bleibt es für uns weiterhin zentral, auf den vielen Versammlungen neben dem Organisieren des konkreten Alltags nicht den Faden des gemeinsamen Fühlens, Denkens und Handelns zu verlieren. Die weitaus grösste Herausforderung besteht darin, über die gegenwärtigen Turbulenzen bei den kommunitären Dienstleistungen den persönlichen und kollektiven Transformationsprozess nicht aus den Augen zu verlieren, sozusagen das Herzstück und letztlich die Sinngebung für unsere Entwicklung in Cecosesola. Auch geht es im Netzwerk nicht darum, zu tagespolitischen Themen Stellung zu nehmen, sondern den Weg, der vor 50 Jahren eingeschlagen wurde, konsequent weiter zu gehen.
Jorge Rath, Cecosesola*
*Jorge Rath, geb. in Deutschland, lebt seit 1978 in Venezuela und ist seit nunmehr 18 Jahren Mitglied und assoziierter Arbeiter des Kooperativennetzwerks Cecosesola. Er ist dort u.a. in der Akupunktur am Gesundheitszentrum und in der Videoarbeit tätig.