Interview vom 11. August 2025 mit Taras Bilous, Redaktor des ukrainischen linken Onlinemediums Spilne und seit März 2022 Angehöriger der ukrainischen Armee.
Archipel: Bereust Du, Soldat geworden zu sein?
Taras Bilous: Nein, ich bereue es nicht. Allerdings wusste ich damals, vor dreieinhalb Jahren, fast nichts von der Armee. Ab dem Moment, wo Du der Armee angehörst, ist Deine Freiheit sehr eingeschränkt. Du hast kaum Wahlmöglichkeiten, was Du in der Armee tun willst. Aber es gibt diese seltenen Gelegenheiten, wo Du plötzlich eine Wahl treffen kannst. Einige meiner Entscheidungen habe ich später bereut. Wenn ich damals soviel gewusst hätte wie ich jetzt weiss, dann wäre mein Weg in der Armee sicher ein ganz anderer gewesen.
Welche Funktion hast Du derzeit?
Jetzt bin ich Drohnenoperator, ich erkunde die Stellungen und Bewegungen des Feindes.
Du bist einer der wenigen linken ukrainischen Autoren, die international bekannt sind. Ja, das stimmt, aber eigentlich erst seit Beginn des Kriegs 2022, ich habe damals mehrere Texte in ausländischen Medien veröffentlicht. Davor habe ich fast ausschliesslich für Ukrainer und Ukrainerinnen publiziert.
Was macht der Krieg mit den verschiedenen linken, emanzipatorischen Bewegungen in der Ukraine?
Viele der aktivsten Leute sind heute in der Armee. Das schränkt deren Möglichkeiten natürlich sehr ein, und es ist auch ein grosses Handicap für ihre Organisationen. Vielleicht müssen wir uns daran erinnern, was bei der russischen Besetzung der Krim und des Donbas 2014 passiert ist. Das war eine katastrophale Periode für die linken Strömungen in der Ukraine. Alle haben sich zerstritten, Organisationen lösten sich auf, es gab während einiger Zeit praktisch keine linke Opposition mehr. Wir erinnern uns daran, dass noch 2011 und 2012 am 1. Mai in Kyiv mehrere Aufmärsche mit etwa 500 Teilnehmer·innen stattfanden, die Anarchist·innen getrennt von den anderen. Nach 2014 waren wir völlig marginalisiert, mehrmals fuhren wir am 1. Mai nach Kriwi Rih, wo die Gewerkschaften stark sind, und und schlossen uns den dortigen Aufmärschen an. Bis 2022 ging es also einfach darum, die linken Organisationen am Leben zu erhalten. Seit Kriegsbeginn ist es etwas anders. Erfreulicherweise gab es 2023 eine Neugeburt der Studentenorganisation «Priama Dija» («Direkte Aktion», eine in der Ukraine beinahe schon legendäre Student·innenorganisation, die mit Unterbrechungen seit den 1990er Jahren existiert hat). Das ist wichtig, denn während des Krieges gibt es ja nicht so viele Möglichkeiten, soziale Forderungen in die Öffentlichkeit zu bringen. Aber die Student·innen können sich z.B. für bessere Bedingungen in den Heimen für Studierende und gegen die Kommerzialisierung der Universitäten einsetzen. Und natürlich ist es erfreulich, dass es eine neue Generation von sozial engagierten Student·innen gibt.
Was sagst Du zu den Protesten gegen die Knebelung der Antikorruptionsbehörden durch Zelenskiy im vergangenen Juli? An den Protesten in vielen Städten der Ukraine waren vorwiegend sehr junge Leute beteiligt. Ist es vergleichbar mit der Situation beim Maidan vor elf Jahren? Offenbar bleibt die Korruption das grösste Ärgernis für die junge ukrainische Bevölkerung? Wie lässt sich dies in Kategorien «rechts-links» einordnen?
An den Protesten waren in erster Linie liberal eingestellte junge Leute beteiligt. Da waren auch Linke, aber sie waren eine Minderheit. Natürlich ist die Korruption ein grosses Problem, aber unter den Liberalen werden die Antikorruptionsbehörden etwas fetischisiert. Diese Strukturen wurden unter dem Druck der Europäischen Union ins Leben gerufen. Inwiefern sie die Korruption tatsächlich vermindern, ist fraglich. Aber insgesamt denke ich, dass die vorübergehende Kontrollübernahme von NABU und SAP nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, und dass die Proteste Ausdruck einer schon lange aufgestauten Unzufriedenheit waren. Ausserdem finde ich interessant, dass an den Protesten Liberale und einige Linke präsent waren, und dass die extreme Rechte vollkommen abwesend war. Das ist ein grosser Unterschied zu früheren Protesten, als stets rechte Aktivisten und Aktivistinnen gewaltsam versucht haben, die Linken aus der Öffentlichkeit zu verbannen. De facto haben die Rechtsradikalen damals entschieden, wer an Protesten teilnehmen durfte und wer nicht. Diese Tendenz hat sich schon in den letzten Jahren vor dem Maidan abgezeichnet, als die Rechten die Strassen nicht mehr so stark dominierten. Davor gab es grosse Protestaktionen gegen die illegale Verbauung geschützter Stadtviertel, die waren völlig von den Rechten dominiert. Und heute sind die Rechten deutlich schwächer als noch während den Jahren von 2014 bis 2017.
Wenn wir schon von den Rechtsextremen sprechen, dann erkläre uns bitte, inwiefern diese Kräfte in der ukrainischen Armee noch eine Rolle spielen. Im Ausland wurde viel vom Bataillon Asow gesprochen, das zu Beginn eine klar rechtsradikale Ideologie vertrat.
Die grosse Masse der ukrainischen Soldaten und Soldatinnen ist unpolitisch, sie sind vorwiegend Dorfbewohner und Menschen aus der Arbeiterklasse. Sie interessieren sich nicht für ideologische Fragen. Es gibt aber einzelne Einheiten, die von rechten Aktivisten gegründet wurden. Ihnen habe sich viele Freiwillige angeschlossen, und daher ist bei ihnen die Disziplin und Kampfmotivation höher, es gibt weniger Korruption. Aus diesem Grund haben sich mit der Zeit auch viele andere Menschen freiwillig angeschlossen, die keinerlei rechtsradikalen Hintergrund haben. Aber die Führungsfiguren sind dieselben geblieben. Ich kämpfe in einer normalen Einheit der Armee, daher habe ich keine persönlichen Erfahrungen damit, inwiefern dort die Ideologie noch eine Rolle spielt. Und schon jetzt ist es ein Problem, dass es eine Konkurrenz gibt zwischen verschiedenen Einheiten, die medial mehr oder weniger präsent sind und denen dementsprechend mehr oder weniger Ressourcen zu Verfügung gestellt werden. Es gibt auch andere Einheiten, die vorwiegend aus Freiwilligen bestehen und keinerlei ideologischen Hintergrund haben. Der Unterschied ist vielleicht, dass bei den ideologisch motivierten Soldatinnen und Soldaten die Risikobereitschaft grösser ist und ihre Einheiten sind daher im Kampf besser, vor allem bei der Infanterie. Derzeit sehe ich kein Problem mit der Ideologie dieser Leute, alle sind Teil der Armee und dem Generalstab unterstellt. Was nach dem Krieg passiert, ist schwer vorherzusehen; die meisten Leute gehen wohl einfach ins zivile Leben zurück. Gewisse Anführer verbergen ihre politischen Ambitionen nicht. Aber einige von ihnen haben schon 2014 eine politische Karriere versucht, und ihr Einfluss blieb damals sehr marginal. Ich würde keine Prognose machen, wie das nach dem Krieg sein wird. Noch etwas detaillierter, heutzutage ist die 3. Sturmbrigade nach wie vor deutlich politisiert. Das Bataillon Asow, von dem so viel gesprochen wurde, wurde bereits lange vor 2022 entpolitisiert. Jetzt sind sie Konkurrenten und die 3. Sturmbrigade unter Führung des weit rechts politisierenden Andrij Biletskiy beschuldigt Asow, sich von den rechten Prinzipien entfernt zu haben.
Mich würde noch interessieren, wie Du die Arbeit der ukrainischen Regierung einschätzt. Zelenskiy hat im Juli die Regierung umgebildet, neue Regierungschefin ist die 40jährige Julia Swyrydenko. Manche sagen, sie würde die neoliberale, antisoziale Politik der vorhergehenden Regierung noch verschärfen. Ich denke nicht, dass eine Regierungsumbildung in der Ukraine heutzutage einen grossen Einfluss auf die tatsächliche Politik mit sich bringt. Tatsächlich hat Swyrydenko gleich in den ersten Tagen im Amt Gesetzesanträge eingebracht, die die Gewerkschaften und gewisse soziale Schutznetze für die Arbeitnehmer·innen schwächen sollen. Aber wir müssen feststellen, dass sich praktisch jede neue Regierung seit der Unabhängigkeit der Ukraine an diesen Fragen die Zähne ausgebissen hat. 2022 hatte sie es geschafft, unter dem Eindruck der russischen Aggression gewisse soziale Rechte abzubauen. Aktuell erwarte ich keine grösseren Änderungen. Insgesamt hat sich der Arbeitskodex bei uns seit den 1990er Jahren kaum verändert, das Umfeld hingegen sehr stark. Nachdem wir davon ausgehen müssen, dass das Parlament keine vernünftigen Veränderungen zustande bringt, ist es besser, alles bleibt beim Alten. Insgesamt sehe ich den Regierungsumbau nur als eine PR-Massnahme. Die wichtigen Entscheidungen werden vom Stab des Präsidenten gefällt und nicht von der Regierung. Immerhin hat Swyrydenko es geschafft, einige ihrer Vertrauenspersonen in Schlüsselpositionen zu hieven, damit hat sie gegenüber der vorherigen Regierung von Denis Schmyhal einen Vorteil. Aber bisher hat sich die neue Premierministerin vor allem dadurch ausgezeichnet, die Vorgaben ihrer Vorgesetzten effizient umzusetzen. Das Problem ist, dass der enge Kreis von Zelenskiy aus erfolgreichen Geschäftsleuten besteht, und sie wollen den Staat in diesem Geiste reformieren. Manchmal muss man sagen, dass die alten Staatsbediensteten, die Zelenskiy loswerden will, es besser verstehen als die neue Generation, wie man den Staat am Laufen hält.
Der Arbeitsmarkt in der Ukraine ist durch den Krieg und Migration heute völlig ausgetrocknet, und fast jeder Mensch, der Arbeit sucht, hat die Wahl zwischen verschiedenen Arbeitgebern. Allein dies scheint mir ein relativ starker Riegel vor abusiven Arbeitsverhältnissen.
Ja, das stimmt natürlich. Ich möchte noch etwas zum Krieg sagen, denn meiner Ansicht nach ist das hier zu kurz gekommen. Unsere Armee ist völlig ausgelaugt. Wir haben sehr viele Deserteure. Ich bin derzeit sehr pessimistisch, denn objektiv betrachtet kann uns nur ein Wunder retten. Russland hat uns in einen Krieg der Erschöpfung hineingezogen, und sie haben viel mehr Ressourcen als wir. Ihre Ökonomie kann diesen Krieg noch während einigen Jahren durchhalten. Aber wir halten ein paar Jahre nicht mehr durch.
Das würde bedeuten, dass die Ukraine als Staat zu existieren aufhört?
Ja, jedenfalls in ihrer aktuellen Form. Und alle diese sogenannten Friedensinitiativen führen zu nichts. Heute wäre eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung zu einem Einfrieren des Konflikts bereit. Dabei will Putin unseren Staat zerstören, daran hat sich nichts geändert. Der Westen will den Krieg so schnell wie möglich beenden. Jeder Kompromiss mit Putin wird aber von diesem nur akzeptiert, wenn er zu einer weiteren Destabilisierung der Ukraine führt. Und Trump, anstatt Druck auf Putin auszuüben, hat er die Waffenlieferungen an die Ukraine eingestellt und den Frieden damit in noch weitere Ferne gerückt. Andererseits, wenn ich unsere Kräfte ansehe, dann gehe ich davon aus, dass wir spätestens 2026 nicht mehr so kämpfen können wie bisher, und daher denke ich, nur ein Wunder kann uns retten.
Aber wer weiss, das Beispiel von Syrien im vergangenen Jahr hat uns gezeigt, dass nach einer langen dunklen Periode auch wie aus dem Nichts eine radikale positive Veränderung möglich ist.
Das Interview führte Jürgen Kräftner, EBF Ukraine



