Am 6. September fand eine Veranstaltung unter dem Titel «Tabor Mukatschewo[1] – Überlebenshilfe für die Roma-Bevölkerung in der Ukraine» in Bremgarten bei Bern statt. Der Gemeindepräsident und das Europäische Bürger:innen Forum luden dazu ein, weil die Gemeinde eine Spende von 5000 Franken für die Unterstützung der Roma in der Ukraine beschlossen hatte. Rada Kalandjia[2] aus Mukatschewo nahm den Förderbeitrag im Namen des «Chrikli Roma Women’s Fund»[3] entgegen und hielt folgende Rede:
Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen, Kollegen, Partnerinnen und Partner,
mein Name ist Rada Kalandjia. Ich bin eine Binnenvertriebene aus der Oblast Donezk. Als der Krieg begann, war ich, wie Millionen andere Ukrainer·innen, gezwungen, mein Zuhause, meine vertrauten Strassen und meine Lieben zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Ich entschied mich für Transkarpatien (im westlichsten Teil der Ukraine, Anm. der Red.), und genau hier, wo ich dachte, Frieden zu finden, begegnete ich einer weiteren grossen Tragödie – dem Leben der Roma-Gemeinschaften. Als ich zum ersten Mal die Roma-Siedlungen sah, hatte ich das Gefühl, dass diese Menschen in einer Parallelwelt lebten. Es war, als existiere neben unserer Welt eine andere – ohne Dokumente, ohne Schulen, ohne Ärzte und Ärztinnen, ohne Zukunft. Eine Welt, über die nur wenige Menschen offen sprechen. Und dann wurde mir klar: Meine eigene Geschichte als Binnenvertriebene gibt mir die Kraft und die Pflicht, nicht nur für mich selbst zu kämpfen, sondern auch für diejenigen, die seit Jahren kein Gehör finden.
Die sozioökonomische Isolation
Die Arbeitslosenquote in Roma-Gemeinden ist katastrophal hoch. Über 70 Prozent der Roma haben keine offizielle Festanstellung. Die Arbeit, die die Menschen finden, ist meist saisonal, gelegentlich und schlecht bezahlt. Stellen Sie sich einen Mann vor, der drei Monate im Jahr auf dem Bau arbeitet und den Rest der Zeit mit Gelegenheitsjobs über die Runden kommen muss. Seine Kinder wachsen in Armut auf, ohne Stabilität, ohne ein Vorbild für eine andere Lebensweise.
Kein Zugang zu Bildung
Viele Kinder in Roma-Siedlungen besuchen entweder keine Schule oder verlassen sie sehr früh. Über 50 Prozent der Roma-Kinder haben keinen Zugang zu Vorschulbildung und über 40 Prozent schliessen die Sekundarschule nicht ab. Transkarpatien hat die höchste Anzahl an segregierten Schulen in der Ukraine. Das sind Schulen, in denen Roma-Kinder getrennt unterrichtet werden und oft eine deutlich schlechtere Bildung erhalten. Viele Mädchen heiraten im Alter von 14 bis 15 Jahren, ohne auch nur eine Grundausbildung abgeschlossen zu haben. Erwachsene bleiben oft Analphabeten, was einen Teufelskreis schafft: Eltern können ihre Kinder beim Lernen nicht unterstützen, und Kinder wiederholen das Schicksal ihrer Eltern. Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen namens Mariyka. Sie erzählte mir, dass sie Ärztin werden wolle, «damit unsere Kinder nicht an Erkältungen sterben». Aber ihre Mutter sagte: «Die Schule ist nichts für uns, du solltest lieber Kochen lernen.» Das sind nicht nur Worte, sondern ein Urteil fürs Leben.
Eine Behausung, die kein Zuhause ist
In Transkarpatien gibt es über 120 Roma-Siedlungen. Die Häuser haben oft kein Wasser, kein Abwassersystem und keinen Strom. Etwa 20 Prozent dieser Siedlungen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Mehrere Familien leben zusammengepfercht in einem Raum. Ich habe Orte gesehen, an denen Kinder auf dem Boden schlafen, weil es keine Betten gibt. Wo Wasser aus einem Eimer von einem Brunnen kommt und ein Badezimmer ein Traum ist. Solche Bedingungen verletzen nicht nur die Menschenwürde, sie gefährden auch die Gesundheit.
Medizin als Luxus
Viele Roma haben keinen Reisepass und keine Geburtsurkunde. Ohne diese Dokumente haben sie keinen Zugang zu Krankenhäusern, Impfprogrammen oder sozialen Dienstleistungen. Infolgedessen haben wir eine hohe Kindersterblichkeit und chronische Krankheiten, die unbehandelt bleiben. In der Stadt Mukatschewoatschewo beispielsweise haben mehr als 1500 Roma keine Dokumente. Dank der Zusammenarbeit der Chirikli-Stiftung mit dem Europarat und dem Büro des Ombudsmanns sowie unter Beteiligung von Roma-Vermittler·innen wurden jedoch Massnahmen zur Erleichterung der Passregistrierung eingeleitet. Infolgedessen haben bereits 158 Roma Dokumente erhalten. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Veränderungen möglich sind, wenn wir systematisch vorgehen.
Diskriminierung und Stereotypen
Selbst wenn Roma versuchen, sich zu integrieren, stossen sie auf Hindernisse. In der Schule sind sie mit Vorurteilen konfrontiert, am Arbeitsplatz mit Ablehnung, im Krankenhaus mit Gleichgültigkeit. Die Medien stellen Roma oft als Problem dar und nicht als Teil der Gesellschaft. Dies führt zu einem Teufelskreis der Isolation: Die Gesellschaft lehnt Roma ab, und Roma verlieren das Vertrauen in die Gesellschaft.
Warum das für uns alle wichtig ist
Manche mögen sagen: «Das sind deren Probleme.» Tatsächlich sind es jedoch unsere gemeinsamen Probleme. Denn wenn ein Teil der Gesellschaft in Isolation und Armut lebt, verlangsamt dies die Entwicklung der gesamten Region. Es entstehen soziale Spannungen, Gesundheitsrisiken und Misstrauen gegenüber den Behörden. Umgekehrt investieren wir in Stabilität, Wirtschaft und in ein friedliches Zusammenleben, wenn wir in Roma investieren. Wenn Roma-Kinder zur Schule gehen, werden sie Ärzt·innen, Lehrer·innen und Unternehmer·innen. Wenn Roma-Familien Wohnraum und Dokumente erhalten, hören sie auf, Schatten zu sein, und werden zu Bürger·innen. Unsere Lösung: ein umfassendes Unterstützungszentrum für Roma. Wir schlagen vor, den nächsten Schritt zu gehen – die Schaffung eines umfassenden Unterstützungszentrums für Roma in Transkarpatien. Dies wird keine einmalige Initiative sein. Es wird eine systemische Einrichtung sein, die täglich arbeitet und den Roma echte Instrumente für Veränderungen in die Hand gibt.
Ein Unterstützungszentrum
In diesem Zentrum planen wir Folgendes anzubieten: • Lebensmittel und humanitäre Hilfe für die bedürftigsten Familien; • Bildung: Vereine, Stipendien, Alphabetisierungskurse, Berufsausbildung; • Medizin: mobile Teams, Arztkonsultationen, Impfungen, Hygienekampagnen; • Rechtsbeistand: Wiederherstellung von Dokumenten, Registrierung für Sozialleistungen, kostenlose Rechtsberatung; • Beschäftigung: Ausbildung, Mikrokredite, Unterstützung für Kleinunternehmen; • Kulturelle Integration: Festivals, Dialoge, Kampagnen gegen Stereotypen.
Stellen Sie sich vor, wie das funktioniert: Ein Kind kommt zum Club ins Zentrum, seine Mutter erhält Rechtsberatung und humanitäre Hilfe, sein Vater besucht Kurse in Elektrik oder Tischlerei, und die ganze Familie wird medizinisch untersucht. Das ist kein eintägiges Hilfsprogramm – es ist ein neuer Lebensweg.
Was wird benötigt, um loszulegen?
Damit das Zentrum seinen Betrieb aufnehmen kann, benötigen wir: 1. Räumlichkeiten, in denen wir Klassenzimmer, Beratungsräume und Platz für Clubs einrichten können. 2. Finanzierung für ein Team für zwei Jahre: Lehrer·innen, Rechtsanwält·innen, Sozialarbeiter·innen, Mediator·innen, Verwaltungsangestellte. 3. Ressourcen für Programme: Lebensmittel, Lehrbücher, Ausrüstung, Medikamente, Unterstützung für kulturelle Veranstaltungen. Wir brauchen zwei Jahre, um das Modell zu entwickeln, erste Ergebnisse zu zeigen und ein Beispiel zu schaffen, das auf andere Regionen der Ukraine übertragen werden kann.
Warum Sie?
Wir wenden uns an Sie nicht nur als Spender·innen, sondern als Partner·innen. Wir laden Sie ein, diesen Wandel mitzugestalten. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass Roma-Gemeinschaften nicht länger ein Symbol für Armut und Diskriminierung sind, sondern zu einem Beispiel für Integration und Entwicklung werden.
Fazit
Ich weiss sehr gut, was es bedeutet, sein Zuhause zu verlieren und von vorne anzufangen. Aber ich weiss auch, dass Unterstützung alles verändern kann. Die Roma warten seit Jahrzehnten auf diese Unterstützung. Und heute haben wir die Chance, den Teufelskreis aus Armut, Isolation und Diskriminierung zu durchbrechen. Schaffen wir einen Ort, an dem nicht nur Dokumente oder Gesundheit wiederhergestellt werden, sondern auch das Selbstvertrauen. Lassen Sie uns gemeinsam ein Zentrum aufbauen, das zum Symbol für eine neue Zukunft für die Roma in Transkarpatien – und für die gesamte Ukraine – wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Vertrauen und Ihre Bereitschaft, gemeinsam zu handeln.
Tabor bedeutet Siedlung, im Falle der Roma kann man aber von einem Ghetto sprechen, wo in der Stadt Mukatschewo rund 12.000 Menschen unter miserabelsten Bedingungen leben müssen. Siehe Archipel Nr.344: J. Kräftner: «Roma in Transkarpatien»
Rada Kalandija ist 42 Jahre alt und Romni. Sie musste 2022 mit ihrer Familie aus dem Donbass fliehen.
www.chirikli.com.ua
KASTEN
Rada war nach ihrem Aufenthalt in der Schweiz auch 2 Tage in Wien, einerseits für ein Pressegespräch mit Journalist·innen und Vertreter·innen verschiedener Organisationen und andererseits, um sich mit Vertreter·innen von Vereinen, die sich speziell mit Roma-Anliegen befassen, auszutauschen. Wir werden im Archipel über etwaige zukünftige Kooperationen berichten.