UKRAINE: Leben und agieren im Krieg

von Jürgen Kräftner, EBF, 10.09.2024, Veröffentlicht in Archipel 339

Wie ist es, in einem Land zu leben, in dem Krieg herrscht? Wir dokumentieren hier unsere Eindrücke und Erfahrungen, die wir auf einer Reise nach Charkiw und in den Donbas im Mai 2024 gesammelt haben.

Zu dritt haben wir uns vom westukrainischen Transkarpatien aus auf den Weg gemacht, um eine Minibusladung von hochwertigem Bastel- und Zeichenmaterial bei Initiativen im Donbas abzuliefern. Freund·innen hatten es in Deutschland gesammelt; auch ein kleiner Stromgenerator war dabei. Dazu kamen ein paar hundert Liter Apfelsaft aus den Karpaten.

Die Ukraine in der zweiten Maihälfte zu durchqueren ist trotz der Umstände ein schönes Erlebnis: tagelange Fahrten auf überraschend guten Strassen durch blühende, abwechslungsreiche Landschaften, liebevoll gepflegte Dörfer, üppige Blumenbeete vor bescheidenen Häusern und Großstädten mit riesigen Parkanlagen und spannender Architektur. Die stets zitierten riesigen Weizen- und Sonnenblumenfelder auf den Schwarzerdeböden sind nicht so eintönig wie man vermuten könnte. Verminte und daher nicht bestellte Felder haben wir nur in der Umgebung von Isjum, südöstlich von Charkiw, gesehen.

Nastya Malkyna und Genia Koroletov sind eine Künstlerin und ein Künstler aus Luhansk. Sie mussten zweimal flüchten, 2014 und 2022, seither leben sie bei uns in Nischnje Selischtsche am Westrand der Ukraine. Genia und Nastya sind Mitbegründer der «Luhansk Contemporary Diaspora», eines Netzwerks avantgardistischer Künstler·innen. Seit 2022 organisieren die beiden Workshops mit Kindern in und aus den Kriegszonen. Sie ermuntern diese, ihren Lieblingsort zu zeichnen und nehmen die dazugehörigen Geschichten auf. Infolge dieser Zusammenarbeit entstand eine Sammlung an kleinen Kunstwerken, Erinnerungen und persönlichen Schicksalen. Auch am Ende dieser Reise sollte eigentlich ein solcher Workshop in der Kleinstadt Swjatohirsk (Oblast Donezk, 30 km von der Front) stattfinden. Leider musste er in letzter Minute abgesagt werden. Die Militärverwaltung hatte kurzfristig jegliche Zusammenkunft von mehr als drei Personen verboten – eine russische Grossoffensive sei geplant.

Gewöhnung oder Müdigkeit?

Egal ob man ihn verdrängt oder nicht, der Krieg ist da, er ist überall. Sofiya, eine junge Aktivistin in Charkiw, die häufig mit Soldaten spricht, meinte, es könne sein, dass er noch 100 Jahre dauere. Dieses Gefühl scheint weitverbreitet. Aber wir haben von niemandem den Wunsch nach Kapitulation vernommen. Die Zerstörungen in der ukrainischen Stromversorgung der vergangenen Monate sind katastrophal. Bereits jetzt gibt es in allen Regionen tägliche Abschaltungen von bis zu zwölf Stunden. Immerhin werden diese zumeist angekündigt. Am ersten Abend unserer Reise waren wir bei Freund·innen in Kyiv zu Gast, sie wohnen am linken Dnipro-Ufer im 14. Stock. Das Treppensteigen bei Stromausfall war für uns eine willkommene Abwechslung nach der Autofahrt – gebrechliche Menschen haben das Nachsehen. Zum Glück reicht bei ihnen der Druck in der Wasserleitung auch bei Stromausfall, somit bleiben die Toiletten benutzbar, das ist nicht überall so. Den meist nächtlichen Luftschutzalarm ignorieren unsere Freund·innen schon lange. Kyiv ist vergleichsweise gut geschützt, aber Trümmer von Raketen oder Drohnen können auch schwere Schäden verursachen. Wie die Ukraine den kommenden Winter mit nur einem Drittel der benötigten Stromleistung überleben soll, darüber wird derzeit viel spekuliert.

Noch aktueller war bei unserer Reise das gerade erst in Kraft getretene Mobilisierungsgesetz. Alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden ab dem 18. Mai verpflichtet, sich binnen zweier Monate bei den Rekrutierungsstellen zu melden. Dort wird festgestellt, ob sie wehrtauglich sind oder ob es einen anderen Grund gibt, aus dem sie nicht eingezogen werden sollten. Wer dies nicht tut, macht sich strafbar; seine Rechte werden eingeschränkt. Es gibt weiterhin Millionen von potenziell wehrpflichtigen Ukrainern, die sich bisher nicht bei der Armee gemeldet haben, de facto verstecken sie sich. Bei einer Kontrolle laufen sie Gefahr, unmittelbar eingezogen zu werden. Viele Männer empfinden für sich persönlich die ukrainischen Feldjäger als die grössere Gefahr als die russische Armee; sie gehen kaum aus dem Haus. Der Vater eines Schulkollegen meines Sohnes ist, so wie dutzende andere, beim Versuch ertrunken, den Grenzfluss Theiss schwimmend zu überqueren. Andererseits machen viele Männer von der Möglichkeit Gebrauch, sich freiwillig bei Einheiten mit gutem Ruf zu melden, um dort entsprechend ihrer persönlichen Qualifikation geschult und eingesetzt zu werden. So vermeiden sie, willkürlich und chaotisch nach einer kurzen Ausbildung an die Front geschickt zu werden, um dort Löcher zu stopfen.

Charkiw

Wir erreichten die Millionenstadt nach einer zweitägigen Reise mit ausreichend Zeitreserve vor der abendlichen Ausgangssperre. Die Russen hatten wenige Wochen zuvor einen Grossangriff auf das Gebiet nördlich von Charkiw gestartet und in wenigen Tagen fast 200 Quadratkilometer besetzt. Bei unserer Ankunft in der Stadt machte sich dies unter anderem dadurch bemerkbar, dass unser GPS-System verrücktspielte. Charkiw mit seinen über zwei Millionen Einwohner·innen, nur ca. 30 km von der russischen Grenze entfernt, hat in der Ukraine eine Sonderstellung und es gibt – oder gab – viele Vorurteile: Die Stadt sei noch korrupter als alle anderen, sie sei pro-russisch und die Bevölkerung arrogant. Andererseits gelten die dortigen Universitäten besonders in den technischen Berufen und Naturwissenschaften als die besten des Landes und zum Beispiel in den Bereichen der Architektur und der Photographie hat die Stadt eine Vorreiterrolle. Vor unserer Weiterfahrt haben wir noch Anna Nahorna getroffen, sie stammt aus Charkiw und lebt auch hier.

Nach Kriegsbeginn hat sie ihren Beruf als Marketingmanagerin an den Nagel gehängt und mit Freundinnen die NGO «Mental Recovery» ins Leben gerufen. Wenn sie von ihrer aktuellen Arbeit und der Freiwilligenbewegung in Charkiw erzählt, strahlt sie förmlich vor Begeisterung. Die Netzwerke von Freiwilligen in Charkiw übertreffen nach ihrer Aussage an Dynamik alles, was es in der Ukraine gibt. Auch die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und Einsatzdiensten mit den privaten Initiativen verlaufe sehr effizient, da die Stadtverwaltung schnell begriffen habe, dass sie ohne die NGOs völlig überfordert wäre. In den ersten Kriegsmonaten hat Anna Menschen geholfen, die aus den russisch besetzten Gebieten flüchteten. Schon dort, an den sogenannten Filtrationspunkten, arbeiteten alle zusammen, Sozial- und Geheimdienst, kleine und grosse NGOs. Mit der Zeit gelangte das Frauenteam rund um Anna zur Überzeugung, dass die Betreuung und Behandlung von kriegstraumatisierten Menschen sofort einsetzen müsste, damit nicht immer mehr zu seelischen Krüppeln würden, wie sie sie nennt. Systematisch suchen sie vor allem Frauen und Kinder mit den härtesten Schicksalsschlägen, vor allem nach dem Tod der Familienväter oder anderer naher Angehöriger. Mit ihrem Team organisiert Anna Nahorna Erholungslager in den Karpaten mit intensiver psychologischer und psychiatrischer Betreuung. Sie ermöglicht diesen Menschen, auch nach den Camps psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen, und vertritt die Meinung, dass diese sogar verpflichtend sein sollte: «Als eine unserer wichtigsten Aufgaben sehen wir es an, die Psychotherapie zu entstigmatisieren. Die Menschen haben richtiggehend Angst davor. Aber es ist sehr wichtig, dass diese Familien auch nach den Camps noch therapeutisch betreut werden, also zumindest noch an zehn Sitzungen teilnehmen. Dazu müssen wir in erster Linie das Vertrauen der Familien gewinnen. Wir denken auch an gemeinsame Ausflüge. Unsere Familien kommen vorwiegend aus der Region Charkiw. Aber derzeit sind Treffen in oder nahe der Stadt nicht sicher. Wir überlegen, weiter ins Landesinnere zu fahren, um niemanden in Gefahr zu bringen.»

Und in Bezug auf die zweiwöchigen Camps mit jeweils 25 Kindern und 25 erwachsenen Angehörigen sagt Anna: «Wir beobachten sehr genau, wie sich die Kinder während der Camps und danach verändern. Sie beginnen, miteinander zu kommunizieren, und wenn alles gut geht, dann kehren sie zu einem mehr oder weniger geregelten Lebensrhythmus zurück.» Und über die Menschen, die weiterleben, als ob nichts wäre, und den Bedarf an Dialog: «Ich habe viele Kolleginnen und Freundinnen aus meinem früheren Leben, sie leben fast genauso wie früher. Ich urteile nicht über sie, es soll auch Menschen geben, die nach wie vor einen fast normalen Lebensrhythmus haben. Für sie ist alles okay, die Cafés und Restaurants sind geöffnet, man kann Essen und Waren online bestellen, einfach arbeiten und Geld verdienen. Aber wir bräuchten unbedingt mehr Dialog. Dialog zwischen den Freiwilligen, Aktivist·innen und denjenigen, die an ihrem normalen Leben festhalten, egal wie, und Dialog zwischen den Aktivist·innen, den Leuten, die sich aufs Spenden beschränken und den staatlichen Institutionen. Denn viele Probleme kommen daher, dass jeder in seiner Blase lebt.

Unsere Gesellschaft ist in Gefahr, in verschiedene Gruppen auseinanderzubrechen, die sich nicht verstehen. Die Kriegsveteranen kommen mit ihren Traumata zurück, und sie fühlen sich komplett unverstanden, sie können sich niemandem anvertrauen. Mit den Leuten, die unter der Okkupation gelebt haben und vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad kollaboriert haben, konnten wir nach der Befreiung der Gebiete östlich von Charkiw und in Cherson schon gute Erfahrungen sammeln, und ich würde sagen, dass unsere Gesellschaft das ziemlich gut gemeistert hat. Natürlich gibt es unangenehme Fragen, aber insgesamt gab es eine recht grosse Toleranz.»

In des Teufels Küche

In Charkiw besuchten wir zuerst die Freiwilligenküche «Hell’s Kitchen»1. Deren Begründer Ihor Horoshko hat während 27 Jahren in der Software-Entwicklung gearbeitet, zuletzt war er Chef einer IT-Firma mit Hauptsitz in Charkiw und Filialen in Kyiv und Prag. Mit einem befreundeten Logistiker richtete er kurz nach Kriegsbeginn in einem Keller diese Grossküche ein. Eine weitere Küche und Bäckerei gründeten die Freiwilligen in Wowtschansk nördlich von Charkiw, diese wurde bei der russischen Offensive vom Mai zerstört. Seit Kriegsbeginn haben Ihor und seine Frau ganze fünf Tage frei genommen. Gemeinsam mit einem Freiwilligenteam aus der ganzen Welt kochen sie 1000 bis 2000 Mahlzeiten pro Tag, sie versorgen Spitäler, Soldaten an der Front und andere Bedürftige. Nach dem russischen Angriff vom Mai sind die Bedürfnisse in den Spitälern, die verwundete Soldaten und Zivilist·innen behandeln, sprunghaft angestiegen.

Eindrücklich an Ihor ist seine freundliche Entschlossenheit. Er will Charkiw nicht verlassen und weiss, dass er eine russische Besetzung nicht überleben würde. Andererseits ist er überzeugt davon, dass die Russen Charkiw weder einnehmen noch einkesseln können. Sanft kritisiert er das unvorsichtige Verhalten vieler Leute, die Charkiw während den schwierigsten Zeiten verlassen haben und später zurückgekommen sind, er schätzt ihre Zahl auf eine Million. Da sie den täglichen Beschuss nicht erlebt haben, ist für sie die Bedrohung zu abstrakt. Diejenigen hingegen, die lange genug unter dem Beschuss gelebt haben, hätten die nötigen Reflexe verinnerlicht, sie halten sich auch nicht unnötig im Freien auf.

Am Tag unserer Weiterreise schlugen in der Nähe unserer Unterkunft mehrere Raketen ein. Eine im unmittelbar benachbarten Stadtpark, drei andere zerstörten eine der grössten Buchdruckereien der Ukraine; sieben Menschen starben und mehrere zehntausend Schulbücher verbrannten. Nichts daran ist zufällig. 2022 haben die russischen Besatzer in der nahen Stadt Isjum den Kinderbuchautor Wolodymyr Wakulenko ermordet. Die Schriftstellerin Viktoria Amelina fand später im Garten des Autors dessen verstecktes letztes Manuskript und veröffentlichte es, bevor sie selbst in Kramatorsk von einer russischen Rakete getötet wurde. Beide veröffentlichten im Verlag Vivat, und ihre Bücher wurden in der nun zerstörten Druckerei «Faktor Druk» gedruckt. Jürgen Kräftner*, Nischnje Selischtsche

  • Jürgen Kräftner, Mitglied des EBF und unser Korrespondent in der Ukraine, ist auch Musiker und Hersteller von Cider und anderen Apfelderivaten bei der selbstverwalteten Kooperative Longo maï in der Ukraine.
  1. www.volunteeringukraine.com/en/volunteer-opportunities/hells-kitchen