Vor Kurzem sind einige von uns zu einem EBF-Treffen in die Ukraine gefahren. In dieser und weiteren Nummern des Archipels publizieren wir einige Eindrücke dieser Reise.
Hinter der ukrainischen Grenze fuhren wir auf löchrigen Strassen dahin und versuchten, uns anhand der kyrillisch geschriebenen Wegweiser einigermaßen zurechtzufinden. Dabei stießen wir immer wieder auf große Denkmäler. Ich bin kein Ukraine-Experte und hoffe, dass mir hier keine historischen Fehler unterlaufen. An allen Ecken begegneten wir Monumenten mit der Symbolik und der Ästhetik aus der Zeit, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte. Sogar der gute alte Wladimir Ilitsch mit wehendem Bart, den festen Blick auf eine strahlende Zukunft unter dem real existierenden Sozialismus gerichtet, zeigte sich uns noch.
Im Osten der Ukraine werden sogar wieder Statuen des großen schnauzbärtigen Diktators Stalin aufgestellt! Es besteht anscheinend ein großer Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine, und wir haben nur einen kleinen Teil des Westens gesehen. Beim Durchqueren der anderen ehemaligen Ostblockländer Ungarn und Rumänien sahen wir keine Denkmäler der vergangenen Regimes. Dafür mussten wir schon in eine ehemalige Sowjetrepublik fahren. Eine weitere überraschende Besonderheit stellen die Denkmäler für die Gefallenen des 2. Weltkrieges dar. Uns Westeuropäern sind die Jahreszahlen 1939–45 so sehr ins Gedächtnis eingebrannt, hier stehen aber die Jahreszahlen 1941–44. Wenn wir uns aus dem Geschichtsunterricht an den Hitler-Stalin-Pakt erinnern, erklärt sich die Jahreszahl 1941, welche für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion steht. Ich habe aber immer noch nicht verstanden, weshalb auf diesen Denkmälern die Jahreszahl 1944 steht. Der Krieg war da noch nicht vorbei, die Rote Armee folgte der Wehrmacht gegen Westen, und selbst wenn die Deutschen die Ukraine 1944 verlassen haben, der Krieg war erst 1945 zu Ende. Die Rote Armee hat bis zum Schluss gekämpft und da gehörten ganz sicher auch Ukrainer dazu. Ich werde zu diesem zweiten Datum recherchieren. Die Denkmäler für die Gefallenen und den Ruhm der Roten Armee sind sehr gut unterhalten, dekoriert mit Blumensträussen, häufig aus Plastik, und frisch gestrichen.
Im Dorf Nischne Selischtsche waren wir auf dem jüdischen Friedhof. Vor dem Krieg war die Hälfte der Bevölkerung dieses Ortes jüdisch. Es gibt keine Überlebenden mehr. n, die , in manchen Dörfern unter aktiver Mithilfe der lokalen Bevölkerung. 200 000 Tote in einer einzigen Woche. In Nischne wurden die Morde allein von den Deutschen begangen. Die Bevölkerung hat sich jedoch rasch die jüdischen Besitztümer angeeignet, und da sonst nichts mehr übrig ist, verfällt auch der Friedhof. Man muss schon wissen wo er in einem Wäldchen voll Gestrüpp zu finden ist. Etwa dreißig Grabsteine sind noch zu sehen, manche stehen noch, manche liegen am Boden. Dieses Wäldchen dient mehr oder weniger als Mülldeponie, man findet leere Flaschen, Schutt und Zementreste, Feuerstellen und sogar alte LKW-Achsen. Beim Anblick derart verschütteter Geschichte entsteht ein eigenartiges Gefühl. Man spricht nicht davon, was sich hier 1944 ereignet hat, es gibt keine Gedenktafel, es gibt keinerlei Erinnerungsarbeit, weder von den Bewohnern noch von Seiten der Behörden. In Ungarn, weniger als hundert Kilometer von Nischne Selischtsche entfernt, sind wir ebenfalls an einem jüdischen Friedhof vorbeigekommen. Dieser war von einem Zaun umgeben; der Rasen wuchs zwar hoch, wirkte aber doch gepflegt. Der Ort machte den Eindruck, aufgegeben, zu sein, aber es schien so, dass er trotzdem einigermassen in Stand gehalten wurde.
In der ukrainischen Stadt Chust, die am Nächsten von Nischne Selischtsche liegt, steht eine Synagoge neben dem Markt. Einige Tage, nachdem sie neu gestrichen worden war, sind antisemitische Graffitis darauf gesprüht worden. Es musste eine neue Farbschicht aufgetragen werden.
Cédric Bertaud
Radio Zinzine (freies Radio in Forcalquier, Südfrankreich)
Geschichtlicher Hintergrund
Die Region Transkarpatien, welche heute zur ehemals sowjetischen Ukraine gehörte, hat während des 20. Jahrhunderts mehrmals den Staat gewechselt. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte sie zu Ungarn als Teil der K.u.K-Monarchie. 1918 wurde sie der Tschechoslowakei zugeschlagen. Am 15. März 1939 brach Hitler das Abkommen von München und marschierte in die Tschechoslowakei ein. Die tschechischen Provinzen Böhmen und Mähren wurden deutsches Protektorat, die Slowakei wurde ein unabhängiger Staat, der mit Nazideutschland verbündet war. Ungarn, das ebenfalls mit Deutschland verbündet war, annektierte Transkarpatien im Mai 1939. Zwischen Juni und August 1941 siedelten die ungarischen Behörden auf Betreiben der Deutschen 20.000 Juden aus Transkarpatien um. Sie wurden in Viehwaggons nach Korosmezo in die Nähe der ehemaligen Grenze zwischen Ungarn und Polen geschafft und den Deutschen übergeben. Meist im Familienverband wurden die Juden gezwungen, zu Fuss von Kolomyia nach Kamenets-Podolski zu marschieren, wo sie von der lokalen Polizei und deutschen SS-Einheiten abgeschlachtet wurden. In der „Enzyklopädie der Shoah“ steht dazu folgendes: «Am 27. und 28. August 1941 nahmen die in Kamenets Podolski stationierten Einsatztruppen unter dem Kommandanten für die SS und die Polizeitruppen für die Region Süd SS-General Friedrich Jeckeln an der Massenexekution der deportierten und der lokal ansässigen Juden teil. Laut dem Bericht von Jeckeln selbst sind 23.000 Juden umgebracht worden. Es handelte sich um den ersten großen Massenmord, der die Umsetzung der Endlösung einläutete.»
Zwischen dem Sommer 1941 und 1944 gab es in Transkarpatien keine Massaker und Deportationen von Juden mehr. Diese Region wurde sogar zu einem Refugium für Juden, die aus Polen und der Ukraine geflüchtet waren. Als sich Ungarn angesichts der drohenden Niederlage anschickte, das Lager zu wechseln, wurde das Land im März 1944 von den Deutschen besetzt. Die Nazis begannen mit dem Auslöschen der ungarischen Juden in der Region Transkarpatien. Sehr schnell wurden Ghettos in den größeren Städten eingerichtet. Ab April 1944 wurden alle Juden von den Dörfern in den Städten Uschgorod, Mukatschewo, Beregowo und Chust unter Mithilfe der ungarischen Nazis zusammengetrieben. Das Dorf Nischne Selischtsche gehört zum Distrikt Chust. Im März 1944 gab es 5300 Juden in Chust; sie wurden in ein Ghetto gesperrt, wohin bald darauf noch 5000 Juden aus den umliegenden Dörfern dazukamen. Darunter waren sicherlich auch diejenigen von Nischne Selischtsche. Ende Mai und Anfang Juni wurden sämtliche Einwohner des Ghettos von Chust nach Auschwitz deportiert, wo die meisten von ihnen direkt in die Gaskammern geschickt wurden. Im Juni 1944 wurde die Stadt für «judenrein» erklärt. Man nimmt an, dass 80 Prozent der Juden Transkarpatiens während der Shoah ums Leben gekommen sind. Einige konnten sich verstecken, andere in die Wälder flüchten. Quellen besagen, dass 20 Prozent der Juden Transkarpatiens überlebt haben, darin eingeschlossen diejenigen, welche die Vernichtungslager überlebten. Die meisten, die nach Transkarpatien zurückgekehrt waren, sind später wieder weggegangen, meist nach Israel oder in die USA. «Das Beispiel von Transkarpatien zeigt, dass die Nazis die Juden umgebracht haben oder haben umbringen lassen, sobald sie einen Landesteil besetzt hatten. Nach der Niederlage von Stalingrad allerdings versuchten sie, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Die Nazis waren Vertuscher erster Güte. Die SS stellte Kommandos ab, die unter dem Befehl von Paul Blobel und dem Decknamen Operation 1005 damit beauftragt waren, die Massengräber wieder zu finden und die sterblichen Überreste verschwinden zu lassen.»
Wie in Chust wurden auch die Juden von Beregowo im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. In Mukatschewo waren 50 Prozent der Bevölkerung Juden, 15.000 von ihnen wurden nach Auschwitz deportiert.
Heute gibt es kaum Denkmäler, die an diese Vergangenheit erinnern, keine kollektive Erinnerungsarbeit, nichts, um das Vergessen zu verhindern. Dennoch kann nichts diese Verbrechen auslöschen. Eines Tages muss das Gesetz des Schweigens gebrochen werden, ansonsten kann wieder Ähnliches passieren.
Bertrand Burollet
Radio Zinzine