Freundinnen und Freunde in der Ukraine haben das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) zu dem Dokumentarfilmfestival für Menschenrechte Docudays1 in Kiew eingeladen: eine gute Gelegenheit, um sich über die Initiativen der Zivilgesellschaft vor Ort zu informieren und an ihren Veranstaltungen teilzunehmen.
Kiew ist heutzutage eine fast vergessene Destination, zwei Jahre nachdem die Stadt während ein paar Monaten auf der Medienhitliste den ersten Platz eingenommen hatte, vor allem im Jahr 2014 während der Maidan-Revolution und danach wegen der Annektierung der Krim durch Russland und des Krieges im Donbass. Es ist still geworden – und doch herrscht kein Frieden, in der Ostukraine nur ein zerbrechlicher Waffenstillstand, bei dem immer wieder geschossen wird und es noch Tote gibt.
Eine Woche Kiew dank Natacha Kabatsiy vom Komitee für medizinische Hilfe in Transkarpatien (CAMZ), unserer Partnerorganisation in Uschgorod, und dem Journalisten Maksym Butkevych vom No Borders Project in Kiew. Sie hatten das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) eingeladen, um dem internationalen Dokumentarfilmfestival für Menschenrechte Docudays vom 25. März bis zum 1. April 2016 beizuwohnen und in diesem Rahmen an verschiedenen Debatten teilzunehmen. Ich entschloss mich kurzfristig hinzugehen, um unsere Freundinnen und Freunde wiederzusehen und um das EBF bei den Veranstaltungen zu vertreten. Ein weiterer Grund: Ich war noch nie in Kiew, obwohl mich die Stadt mit ihrer wechselvollen Geschichte seit langem interessiert. Die Einladung war eine gute Gelegenheit, die Stadt zu besuchen.
Illusionen brechen
Das diesjährige 13. Filmfestival steht unter dem Titel Durch Illusionen hindurch und das Organisationskomitee spricht die jetzige Desillusionierung nach der Maidan-Revolution von 2014 in seinem Vorstellungstext an: «Die Revolutionäre des Maidan, wie alle Revolutionäre, hofften auf schnelle Veränderungen in ihrem Land. Doch diese haben nicht stattgefunden. Die Mörder der Maidan-Opfer wurden nicht bestraft und während der lokalen Wahlen haben die Korrupten, gegen welche die Bevölkerung aufgestanden war, Revanche nehmen können. Die Revolutionäre reden von einem dritten Maidan2, aber würde er wirklich die Probleme lösen oder wäre er eine weitere Illusion? Im selben Zusammenhang stellt sich die Frage: Wäre es nicht an der Zeit für die Behörden und die Gesellschaft – im Interesse des Gemeinwohls – die Illusionen aufzugeben, dass das Land ohne Veränderungen in der Beziehung zur Arbeit und zum Eigentum reformiert werden kann? Sich gegen die Macht der Oligarchen zu wenden, sollte eine Priorität unseres zivilen Geistes werden, die das Fundament für eine wirkliche Demokratie und die Respektierung der Menschenrechte legen kann? Wir schlagen für das diesjährige Festival vor, zusammen mit den Filmregisseuren, den Menschenrechtsexperten der verschiedenen Länder, den Vertretern der ukrainischen Behörden und den Revolutionären des Maidan geistig durch den Nebel der Illusionen hindurch zu brechen.»
Über 90 Filme aus aller Welt zu den Themen Menschenrechte, Migration, Gerechtigkeit, Krieg und Frieden werden während des Festivals in mehreren Kinos und Kinosälen gezeigt. Für mich als einen der wenigen westlichen Besucher ist es erstaunlich, dass bei den meisten Vorstellungen – bei Dokumentarfilmen wohlbemerkt – der Saal vollbesetzt ist, mit einem altersmässig gemischten Publikum, wovon der grösste Teil sehr aufgeschlossen wirkende junge Zuschauerinnen und Zuschauer sind. Bei den Debatten nach den Filmen mit den Regisseuren oder den Menschenrechtsaktivisten gibt es eine rege Beteiligung des Publikums. Ist dieses Interesse und diese Offenheit eine Folge des Maidan-Aufbruchs? War doch nicht alles Illusion?
Flüchtlingskrise?
Maksym Butkevych bittet mich, an der öffentlichen Diskussion «Flüchtlingskrise oder Krise der Solidarität» über unsere Erfahrungen in Westeuropa zu berichten. Zuerst erzählt ein kroatischer Aktivist über die spontane Solidarität in der Bevölkerung in Kroatien, als die Flüchtlinge im letzten Herbst in Richtung Westeuropa durch ihr Land zogen, nachdem die Grenze zu Ungarn abgeriegelt worden war. Er betrachtet die aktuelle Situation nicht als «Flüchtlingskrise oder Krise der Solidarität», sondern als «Krise der Politik». Ich schliesse daran an und betone in meinem Statement die Wichtigkeit des direkten Kontaktes zwischen Bevölkerung und Flüchtlingen. Und dass dieser Kontakt leider oft von den Behörden unterbunden wird, die Flüchtlinge isoliert werden, um sie leichter wieder abschieben zu können. Ich erzähle das Beispiel der «Freiplatzaktion für Chileflüchtlinge» in der Schweiz nach dem Militärputsch von General Pinochet 1973, als sich eine Volksbewegung für die Aufnahme der Flüchtlinge bildete, entgegen der Auffassung von Schweizer Regierungskreisen, dass «diese Kommunisten» unsere Demokratie zerstören könnten. Ich zitiere den Bürgermeister eines kleinen Dorfes bei Basel, das damals fünf Chilenen aufgenommen hatte: «Wenn fünf chilenische Kommunisten die Demokratie in unserer Gemeinde bedrohen, dann ist sie wirklich nicht viel wert.» Ich übertrage dieses Beispiel auf heutige Flüchtlinge, auf fünf Muslim_innen, die in dieses Dorf kämen: Menschen aus einer sogenannt anderen Kultur, die immer wieder trennend ins Feld geführt wird. Die Beispiele finden Interesse und Zuspruch im Publikum, auch weil aktuell ein Aufnahmezentrum für syrische Flüchtlinge unweit von Kiew eingerichtet werden soll, und es Argumente für den Empfang der Flüchtlinge und gegen die Ängste in der Bevölkerung braucht, die von der extremen Rechten und einem Teil der Medien geschürt werden. Eine Journalistin, die bei der Diskussion zuhört, lädt Maksim und mich zu einer Radiosendung am nächsten Tag im zweiten Kanal des staatlichen Radios ein, wo diese Ängste, als wir im Studio sitzen, durch Höreranrufe bestätigt werden und wir aber die Gelegenheit haben, auf diese Ängste einzugehen und Argumente für die Aufnahme der Verfolgten zu entwickeln. Ein Hörer sagt, man solle sich zuerst einmal um die vielen inneren Flüchtlinge aus dem Osten kümmern anstatt um diejenigen aus anderen Ländern.
Die inneren Flüchtlinge
In der Tat, die Lage der rund 1,6 Millionen sogenannten Internally Displaced Persons (IDPs), davon rund 60 Prozent Frauen und Kinder, ist oft sehr schwierig, wie die weitere Diskussion am Tag vor der Radiosendung zeigt. Mehrere Vertreter_innen von Nichtstaatlichen Organisationen berichten über fehlende staatliche Hilfe und Schwierigkeiten bzw. Diskriminierungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Zwar ist die Stimmung in der Bevölkerung im Allgemeinen positiv oder neutral gegenüber den IDPs eingestellt, aber es werden auch immer wieder negative Stimmen laut, auch durch einzelne Berichte und Gerüchte in den Medien. Wir treffen auf ähnliche Vorurteile, wie wenn es sich, wie bei uns im Westen, um ausländische Flüchtlinge handelte: Sie seien passive Hilfsempfänger, ihre Anwesenheit treibe Preise und Mieten nach oben, sie nähmen den Angestammten die Arbeitsplätze weg. Diese Ansichten könnten sich durch die desolate wirtschaftliche Situation noch verstärken. Andere spezifische Vorwürfe richten sich gegen die Männer: Sie seien feige abgehauen und sollten lieber zurückgehen und für ihr Land kämpfen. Oder es wird ihnen unterstellt, sie sympathisierten mit den Separatisten. Mehrheitlich ist die Haltung gegenüber den IDPs aber nach wie vor korrekt und positiv. Auch die Krimtataren, obwohl sie Muslime sind, werden zum grössten Teil wohlwollend wahrgenommen, da sie an der Ukraine festhalten, die Annektierung der Krim durch Russland verurteilen und vor der Repression auf der Halbinsel fliehen. Vereinzelt gibt es jedoch Probleme und Missverständnisse mit der lokalen Bevölkerung wegen unterschiedlicher Gepflogenheiten. Von allen IDPs werden die Roma, die von den separatistischen Kriegsherren am Anfang des bewaffneten Konflikts aus Slawjansk und Donezk in die umliegenden Regionen vertrieben wurden, von der Bevölkerung und den Behörden am meisten benachteiligt und diskriminiert. Immerhin setzen sich mehrere NGOs für sie ein. Die Diskriminierung der Roma ist nicht neu, sie betrifft die meisten Roma, nicht nur die IDPs.
Das Organisationskomitee des Filmfestivals macht sich in ihrem Einladungstext zu den Filmtagen Sorgen über die Situation der inneren Flüchtlinge: «In der Ukraine kommt zur äusseren Migration die innere Migration hinzu. In der ukrainischen Gesellschaft gibt es eine neue Kategorie von Menschen: Die Internally Displaced Persons (IDPs). Bis heute gibt es kein staatliches Programm für die Integration der IDPs mit der lokalen Bevölkerung. Der Staat befindet sich in der Illusion, dass sich die Menschen allein zurechtfinden werden. Die IDPs leben in der Illusion, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren können und dort wieder so leben werden wie früher. Inzwischen vergrössern sich die Probleme: von der fehlenden sozialen Eingliederung bis hin zu Fremdenfeindlichkeit und Chauvinismus.» Trotz dieser warnenden Einschätzung bin ich beeindruckt von den vielen Menschen und Initiativen, die sich für die inneren Flüchtlinge einsetzen und dabei in weiten Teilen Aufgaben erfüllen, die eigentlich die des Staates wären. Dieses Engagement an der Basis, auch in anderen Bereichen, wäre ohne die Maidan-Revolution wohl nicht denkbar.
Auf dem Maidan
Maksim und Natacha und die anderen Freundinnen und Freunde sind während der Filmtage stark ausgelastet, so unternehme ich allein eine Tour durch die Stadt zum Maidan, zum Platz der Unabhängigkeit, der im Jahr 2014 zum Schauplatz der Revolution geworden war. Die Institutskaja-Strasse, die vom Maidan aus den Hügel hinauf führt, zwischen dem Internationalen Zentrum für Kultur und Kunst und dem Hotel Ukraina hindurch, ist mit den Fotoporträts der Demonstrant_in-nen gesäumt, die von Heckenschützen im Februar 2014 ermordet worden waren: viele ganz junge, offene und hoffnungsfrohe Gesichter, mit Blumen und Kerzen geschmückt und von Pflastersteinen umrandet, die symbolisch für die Revolte stehen.
Oben angekommen sehe ich auf der linken Seite selbstgebaute «Altare» mit Porträts von Getöteten, aufgehäuft aus zum Teil durchschossenen Bauhelmen aus Plastik, selbstgebastelten Schutzmasken und Pflastersteinen. Ein paar fantasievolle Barrikadenteile, hauptsächlich aus verrosteten Metall-stangen und -platten, stehen quer, wirken etwas verloren und sind zu Denkmälern geworden. Auf der rechten Seite befindet sich das offizielle Mahnmal für «Die Helden der Himmlischen Hundert (2013-2014), Aktivisten der Revolution der Würde», das aus den in mehreren Linien aufgereihten Porträts von den ermordeten Demonstrant_innen besteht: zum grossen Teil Männer, aber auch mehrere Frauen befinden sich unter den Opfern. «Sie starben für die Freiheit und Würde der Ukrainer», steht auf der Tafel des Mahnmals.
Haben all diese Menschen für eine Illusion ihr Leben gelassen? Wie lange noch wird die Kriegslogik der Rekrutierungsplakate der Armee, die überall an den Strassen und Plätzen hängen, die Oberhand über die ungelösten Probleme in Staat und Politik behalten können?
Ein überfälliger Rauswurf
Am 29. März, mitten während meines Aufenthaltes, musste der Oberste Staatsanwalt Viktor Schokin seinen Hut nehmen. Präsident Poroschenko hatte ihn bis zuletzt gestützt; doch dann ging es nicht mehr. Denn die Wut in der Bevölkerung war mehr und mehr gestiegen, weil der Staatsanwalt nichts gegen die Korruption im Lande unternommen und sich selbst bereichert hatte. Er blockierte von Anfang an – zusammen mit anderen Amtsträgern im Innenministerium und bei den Gerichten – die Aufklärung des Blutbades auf dem Maidan, an dem damals vom 18. bis zum 20. Februar 103 Demonstrant_innen und 13 Polizisten ums Leben kamen. Genauso ist die Untersuchung über den Brand eines Gewerkschaftshauses in Odessa blockiert, bei dem im Mai 2014 über vierzig eingeschlossene prorussische Anti-Maidan-Aktivisten starben. Dieses tragische Ereignis ist auch weitgehend tabu in der Öffentlichkeit, weil es sich bei den Toten um politische Gegner handelte.
Die Aufklärung der Morde auf dem Maidan wird seit Langem von Maidan-Aktivist_innen, Angehörigen und vielen anderen gefordert. Vor einiger Zeit hatte ich eine Äusserung von dem Anwalt Pawel Dykan gelesen, der die Angehörigen der Opfer vertritt. Er meinte, die Aufklärung könnte ein Zeichen setzen, «dass sich in unserem Staat nicht nur die Gesichter geändert haben, sondern auch das System».
Jedenfalls stosse ich mit den Freunden und Freundinnen in Kiew auf den Rauswurf des Obersten Staatsanwalts an. Ein korruptes Gesicht weniger, immer hin –ein Lichtblick.
- Siehe Artikel, Archipel Nr. 245, Februar 2016, und www.docudays.org.ua.
- Die Orangene Revolution von 2004 gilt als erster Maidan, der Euromaidan von 2013/14 als die zweite Revolution.