Vor dem 24. Februar 2022 verdrängten wir den Krieg, obwohl jeder vernünftige Mensch ihn kommen sehen musste. Jetzt ist es umgekehrt. Wir haben das Gefühl, die Narben des Krieges würden noch viel stärker wehtun, wenn man sich vorstellt, wie es wäre, im Frieden zu leben. Aber natürlich erinnern wir uns heute daran, wie wir vor zwei Jahren um vier Uhr morgens erfuhren, dass die Russen einmarschiert waren und Kyiv bombardierten.
In den beiden vergangenen Wochen hatten wir schon vier Begräbnisse von gefallenen Soldaten in Chust. Unsere Freundin Natascha B., eine 43jährige Mutter, lebte bis im vergangenen Herbst mit ihrer Familie in Budapest; ihre Mutter gehört zur ungarischen Minderheit. Ich schreibe «lebte», denn nur drei Monate, nachdem sie sich freiwillig zur Infanterie gemeldet hatte, ist sie im Kampfeinsatz getötet worden. Eingeweihte wussten, dass sie gemäss ihrem Wunsch zur Scharfschützin ausgebildet worden war. Dass sie ihr Leben riskierte, war ihr vollkommen bewusst. «Wenn ich falle, schliesst ein anderer die Reihen», sagte sie. Die Rekrutierung von zusätzlichen Soldaten und Soldatinnen ist aber heute ein riesiges Problem und sie ist heiss umstritten. Täglich werden Männer festgenommen, die sich durch einen illegalen Grenzübertritt der Rekrutierung entziehen wollen. Es gibt aber auch weiterhin Leute, die sich freiwillig melden. Das schützt sie vor einer willkürlichen und manchmal absurden Einteilung im Falle einer Zwangsrekrutierung. (...)
Die Kriegskinder sind ein guter Gradmesser dessen, was in der Gesellschaft passiert. Von Freunden, die ins Ausland gegangen sind, hören wir immer wieder, dass viele Teenager sich am neuen Wohnort nicht zurechtfinden. Sie sind böse auf ihre Eltern und wollen einfach nur zurück in die Heimat. Oft werden sie von den Einheimischen und Kindern anderer Herkunft gemobbt. Natürlich gibt es auch das Gegenteil. Jugendliche wollen aus den Frontzonen flüchten, ihre Eltern wollen ihren Wohnort nicht verlassen – aus Angst, in der Fremde vor dem Nichts zu stehen.
Die Art-Camps
Mit Margo (Marharyta Kurbanova, 28) habe ich über das erste Art-Camp im neuen Jahr gesprochen. Zur Erinnerung, Margo studiert seit fünf Jahren in Potsdam Filmproduktion, ursprünglich stammt sie aus Donezk. Zu Kriegsbeginn ist sie in die Ukraine zurückgekehrt und hat mit einigen Freunden und Freundinnen die Freiwilligenorganisation Base·UA gegründet. Seit dem Sommer 2022 organisieren sie Art-Camps für kriegstraumatisierte Kinder von 12 bis 15 Jahren. Das neunte Camp ging am 31. Januar zu Ende und die Eindrücke sind bei Margo noch sehr präsent, das merkt man im Gespräch, sie ist fast nicht zu bremsen. Aus den schriftlichen Selbstdarstellungen der Kinder vor dem Camp hatten Margo und ihre Kollegin Mascha gemerkt, dass die Kinder unter Einsamkeit und dem Unverständnis ihrer unmittelbaren Umgebung litten. Also machten sie daraus kurzerhand einen Themenschwerpunkt. Und so war auch der überwiegende Eindruck während des Camps: Sie erlebten frustrierte und vereinsamte Kinder, die niemand haben, dem sie sich vorbehaltlos anvertrauen können. Und dennoch erzählt Margo begeistert, dass es für sie das Camp mit dem intensivsten Austausch zwischen Kindern und Betreuerinnen war. Ein Mädchen, Katja aus Charkiw, erwähnt sie als Beispiel. Katja meinte von sich, dass sie überhaupt keine Gefühle und keine Empathie empfinde. Sie präsentierte sich als völlig introvertierte Person. Während des Camps half ihr vor allem das Malen, sich auszudrücken. Nach ein paar Tagen merkten die Betreuerinnen, dass Katja morgens fast nicht aus dem Bett zu bekommen war. Das lag daran, dass sie sich mit ihren Zimmerkolleginnen angefreundet hatte und dass sie bis spät in der Nacht miteinander über alles Mögliche sprachen. So fand Katja während des Camps ganz offensichtlich viel mehr, als sie erwartet hatte und am Ende sagte sie, dass sie am liebsten für immer an diesem Ort mit den neuen Freundinnen bleiben würde.
Auch ein Junge, Ilya, hat Margo sehr beeindruckt. Ilya ist ein intelligenter, nachdenklicher Junge, zugleich ist er sehr verschlossen und sagte das auch von sich selbst. Er kam während des ganzen Camps kaum mit jemanden in Kontakt. Doch bei der Abfahrt, als alle schon im Bus warteten, bis auf ein Mädchen, das seine Schuhe suchte, entschied Ilya, dass er nochmals aussteigen und alle Betreuerinnen einzeln umarmen wollte. Ich habe Margo gefragt, wie sie die Kinder jetzt nach zwei Jahren Krieg erlebte, im Vergleich zu den Kindern, die sie im Sommer 2022 betreute. Wie immer gab es auch diesmal unter den Teilnehmer·innen Geflüchtete und solche, die weiterhin in Frontnähe leben; es gab Kinder, deren Familienmitglieder im Krieg ums Leben gekommen waren und solche, deren Väter an der Front kämpfen. Die Kinder empfinden jetzt eine Art Ausweglosigkeit, da sie begriffen haben, dass kein Ende des Krieges abzusehen ist. Das führt bei ihnen zu einem Vertrauensverlust und macht die Einsamkeit, in der sie sich befinden, noch schwieriger. Andererseits seien die Kinder erstaunlich reif und interessieren sich für gesellschaftspolitische Fragen, die sie mit grosser Toleranz reflektieren. Vorurteile und Rassismus waren denn auch eines der grossen Themen des Camps und der Austausch darüber anhand eines Dokumentarfilms war erfreulich. Gegen Ende des Camps hatte das Betreuerinnenteam den Eindruck, es mit tief veränderten Kindern zu tun zu haben und fand es schade, sich in diesem Moment schon wieder zu trennen. Sie vermuten auch, dass die meisten Eltern ihre Kinder gar nicht so kennen, wie sie sich während des Camps gezeigt haben. Als kleine Hilfe erstellte eine Psychologin von jedem Kind ein kleines Porträt mit Empfehlungen für die Eltern. Das war auch eine Neuerung dieses Art-Camps von Base·UA.
Anfang April findet in unserer Herberge im Dorf Nyzhne Selyshche in Transkarpatien (Westukraine) ein Teambildungsseminar statt, wo wir mit Gleichgesinnten überlegen wollen, in welcher Form wir selber regelmässig Lager für kriegstraumatisierte Kinder und Jugendliche durchführen wollen. Auf unsere Ausschreibung hin haben sich 47 Interessierte gemeldet! Unsere Freunde Nastya Malkyna und Genia Koroletov waren kürzlich wieder in Kramatorsk und in der nahe gelegenen Kleinstadt Dobropillia. Sie haben in einem neu eingerichteten Luftschutzbunker einen Mal- und Erinnerungsworkshop mit Kindern gestaltet. Sie erzählten, dass die Front in diesem Gebiet beunruhigend näher rückt. Andererseits sei zum Beispiel in Kramatorsk zu merken, dass es immer mehr Selbsthilfeinitiativen der Einheimischen gibt, zusätzlich zu den Freiwilligengruppen von Ausländer·innen und Leuten aus der Westukraine.
Maksym Butkevych
Der Menschenrechtsaktivist Maksym Butkevych, unsere langjähriger Freund, ist weiterhin in einem Gefängnis im Gebiet Luhansk eingesperrt. Vor ein paar Tagen konnte ihn ein Anwalt aus Moskau besuchen. Natürlich kann dort niemand freisprechen, da andauernd ein Mann von der Gefängnisverwaltung anwesend ist. Aber der Anwalt fand, Maksym sehe vergleichsweise gut aus. Er arbeite und habe sich positiv über seine Haftkollegen geäussert. Ein Austausch ist derzeit leider nicht absehbar. Dieses Jahr sind bereits 300 ukrainische Kriegsgefangene, zum Teil auch Zivilisten, im Rahmen von Austausch-Aktionen freigekommen. Aber es waren keine zu Haftstrafen verurteilte Kriegsgefangene unter ihnen. Maksym darf endlich wieder Briefe empfangen, aber nur von russischen Absendern und in russischer Sprache. Am 13. März findet der Berufungsprozess vor dem Höchsten Gericht der Russischen Föderation in Moskau statt.
Im Januar wurden weitere 30 ukrainische Kriegsgefangene von demselben Gericht wie Maksym in Luhansk zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. Was es heisst, in Russland inhaftiert zu sein, hat der Tod von Alexei Nawalny der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt. Wieviele Ukrainer und Ukrainerinnen in den vergangenen Jahren in russischer Haft gefoltert und getötet wurden, das weiss kein Mensch. Wer sich mehr mit diesem Thema auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich das Buch «In Isolation – Texte aus dem Donbass» von Stanislav Assejew, erschienen im FotoTapeta Verlag. Gleichzeitig hält auch die Repression der Krimtatar·innen an, vor zwei Tagen wurde die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Lutfiye Zudiyeva festgenommen und eingeschüchtert. Zudiyeva ist eine der letzten Stimmen auf der Halbinsel, die über die Verfolgung der Krimtatar·innen berichtet. (…)
Zusatz vom 14. März: heute wurde Maksyms Berufung vom Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation angehört. Das Urteil bleibt unverändert: 13 Jahre verschärfte Lagerhaft.[1] Maksym sieht vergleichsweise gut aus. Wir wussten, dass die Gefangenen vor den Gerichtsverhandlungen besser ernährt werden, um einen besseren Eindruck zu hinterlassen. Maksym und sein Moskauer Anwalt haben auch die Verteidigungslinie korrigiert. Maksym erklärte, dass er zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Verbrechen nicht in Sewerodonezk war, was durch mehrere Zeugenaussagen bestätigt wurde. Es überrascht nicht, dass die Richter darauf nicht eingingen. Zumindest war es schön, dass Maksym kurz per Video mit seinen Eltern sprechen konnte.
Jürgen Kräftner, EBF Ukraine
- Siehe Archipel 324, April 2023