Als ich vor zwei Monaten gefragt wurde, was ich denn in der Ukraine zu tun gedenke, antwortete ich: «Erst mal zuhören…» Wir wollten in das Land fahren, von dem wir über Monate irgendwelche Nachrichten hörten, ohne zu wissen, wieso welche Nachricht in welchem Moment, in welchem Land, in welchem Fernsehen und von wem verbreitet wurde.
Im Südwestzipfel der Ukraine, im so genannten «friedlichen Transkarpatien», haben sich Freund_innen von uns niedergelassen. Dorthin sind wir zu zweit für einen Monat gefahren. Oreste (aus Frankreich, von Geburt Italiener) und Yolana (Ukrainerin aus der ungarischen Minderheit) leben seit über 20 Jahren in der Gemeinde Nischnje Selischtsche und betreiben einen kleinen Hof im Weiler Zeleni Haj. Sie halten Kühe, Ziegen und Schweine und produzieren eine ausgezeichnete Salami. Ihre älteste Tochter studiert in Lviv Jura, ihr Sohn geht in der Distrikthauptstadt Khust aufs Gymnasium. Nebenan wohnen Jürgen aus Österreich, Olga aus dem Norden der Ukraine, ihre zwei Kinder im Kindergartenalter und die Theaterpädagogin Tania, ebenfalls aus der Nordukraine. Jürgen ist Klarinettist und Organisator der Musikband Hudaki, Olga gibt Englischunterricht im Kindergarten des Dorfes und Tania gibt dort Theaterunterricht für Jugendliche. Es befinden sich noch ungefähr zehn andere Häuser in Zeleni Haj. Bei der Mehrzahl der Familien ist der Familienvater nicht anwesend. Die Saisonarbeit in Russland, aber auch in anderen Teilen der Ukraine selbst und immer mehr auch in Polen oder in der Slowakei, ist hier fast Standard. Nur bei den Nachbarn Marijka und Oleksa ist das anders. Sie gehören zu den ungefähr 10 Prozent der lokalen Bevölkerung, denen es wichtiger ist, zusammen zu bleiben und in der Region etwas zu machen, als getrennt zu leben und vielleicht einige Grivna mehr zu haben. Und welchen Wert hat diese Grivna über-haupt? Seit anderthalb Jahren sinkt ständig der Kurs. Waren vor der Maidanbewegung 8 Grivna einen Euro wert, so waren es bei unserem Kommen Anfang Februar für einen Euro schon 20 Grivna. Und am Tag vor unserer Abfahrt lag der Kurs bei 32 Grivna. Eine Rente von 1100 Grivna war Ende Februar also noch 34 Euro wert. Die drohenden Preiserhöhungen provozieren Hamstereinkäufe; Mehl und Zucker sind ständig ausverkauft.
Teilnahme am Krieg
Die Menschen warten auf ein Signal seitens der Regierung, aber diese schweigt zur wirtschaftlichen Lage. Dafür wird umso mehr über die ATO – die Anti-Terroristische Operation – geredet. Und das ist ein ausschlaggebender Grund für die Männer weg zu ziehen: Bei der dritten Mobilisierungswelle für die Armee im Februar 2015 wurden im Oblast Transkarpatien nur 100 Männer aufgeboten. Im Distrikt Khust gab es etwa 1200 Einberufungen, doch nur 9 Männer von dort konnten wirklich eingezogen werden. Alle anderen konnten entweder einen offiziellen Grund angeben, nicht gehen zu müssen, oder sie waren nicht zu Hause anzutreffen. Dagegen kann selbst der Bäcker aus Nischnje Selischtsche, der nach dem Regierungswechsel Gouverneur des Oblasts geworden ist, nichts unternehmen. Es werden aber zahlreiche Versuche gemacht, die Transkar-patier_innen vom Krieg zu überzeugen. An dem Wochenende, an dem das Minsker Friedensabkommen in Kraft treten sollte, waren wir in Uschgorod, der Hauptstadt des Oblasts. Im ehemaligen Komsomolski-Park wurde das Eierkuchen-Fest veranstaltet, ein Fest zum Beginn der Fastenzeit. Gleich am Eingang ein kleiner Stand des Prawyi Sektor (Rechter Sektor): Fünf junge Frauen in Armee-Outfit, und teilweise bewaffnet, stehen dort hübsch herum – finanziert vom Bäcker, hören wir später. Über einer großen Bühne hängt ein Spruchband: «Unterstützt die Helden von Transkarpatien». Ein Schutznetz für die Soldaten im Schnee kann mit weißen Leinenbändern geknüpft werden. Mit einer Tombola wird Geld für die Armee gesammelt. Dazwischen gibt es Schaschlik, Brenza, Kartoffelpuffer, Schmuck und gestickte Jäckchen… Wäre die Sache nicht so ernst, könnte das Ganze genauso gut ein tragisch-komisches Theaterstück darstellen. Aber wir merken, dass die Zermürbung zunimmt. Die Menschen werden mit Bildern und Nachrichten aus den Kriegsgebieten im Fernsehen, Facebook & Co. überhäuft. Die große Mehrheit ist auf jeden Fall gegen den Krieg; sie will nicht hingehen und wünscht sich Frieden – auch mit territorialen Verlusten – und unterstützt trotzdem die Soldaten an der Front. Zahlreiche Freiwilligenkomitees sammeln Hilfsgüter für Zivilisten und Soldaten, machen Transporte, helfen Flüchtenden aus den Kriegsgebieten heraus. Einige Freiwilligenkomitees unterstehen dem Prawyi Sektor. Alle unterstützen auch die Freiwilligenbataillone, von denen es ungefähr 60 gibt und die neben der heruntergekommenen Armee kämpfen. Die Koordination zwischen diesen verschiedenen Einheiten ist kompliziert und es ist nicht klar, wer welche Freiwilligenbataillone kontrolliert. Unklar ist auch, wohin die Hilfsgüter und Gelder wirklich gehen.
Veränderungen seit dem Maidan?
In vielen Gesprächen versuchen wir nach und nach eine klare Sicht zu bekommen, ohne sicher zu sein, ob das überhaupt möglich ist. Gesprächsstoff Nummer eins ist auf jeden Fall die Korruption, die auch nach dem Maidan im Alltag die gleiche geblieben ist. Beim Arzt wird erst bezahlt und dann behandelt, für jedes Papierchen wird etwas verlangt, ohne offizielle Gebührentabelle. Beamtenstellen werden noch immer hauptsächlich nach Beziehungen vergeben, sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene. Langsam verstehen wir auch, dass das politische Rechts-Links-Denken hier nicht funktioniert. Abgeordnete wechseln vor der Wahl einfach die Partei, um ihren Sitz im Parlament zu behalten. Die einflussreichen Oligarchen verteilen je nach ihren Interessen Unterstützung, und manchmal kann ein Multimillionär auch in mehrere Parteien investieren, nur um auf jeden Fall dabei zu sein, wenn die eine oder die andere Seite gewinnt. Der sogenannte Oligarch von Transkarpatien bestimmt schon seit fünfzehn Jahren, wer hier etwas zu sagen hat. Auch Achmetow, der Milliardär von Donetzk, stand auf gutem Fuss mit dem ehemaligen Präsidenten Janukowitsch. Seine Gewinne sind verbunden mit der Kohle- und Stahlindustrie im Donbass. Die separatistische Bewegung ist auch mit seinem Geld gewachsen. Nun sitzt er in Kiew und zieht offiziell seine Unterstützung für die Separatisten zurück. Der weniger bedeutende Oligarch Alexander Jefremow aus Lugansk, mit dem er eng verbunden war, wurde als Einziger verhaftet. Die Menschen hier auf den Dörfern glauben schon lange nicht mehr an die Integrität der Akteure in diesen Machtspielchen. Und sie glauben auch nicht mehr an eine großartige Veränderung der Gesellschaft. Maidan? Was hat das uns gebracht? Doch nur den ständigen Wertverlust der Grivna und dazu noch Krieg…
Bestimmt gibt es einen großen Unterschied zwischen dem Leben auf dem Land und dem Leben in Kiew. Im Parlament sitzen einige Maidan-Akteure, die sich für die ursprünglichen Ideale der Maidan-Bewegung einsetzen und regelmäßig gegen die allumfassende Korruption wettern. Aber wo anfangen? Bei Poroschenko vielleicht, der versprochen hatte, nach seiner Wahl seinen Schokoladenkonzern zu verkaufen? Der Sanktionen gegen Russland fordert, aber seine Schokofabrik in Russland weiter laufen lässt? Und der nach wie vor Eigentümer des populären Senders TV5 ist, bei dem links oben im Bild jetzt immer erscheint: «Ukraine – über alles»?
Nationalbewusstsein?
Die Ukraine war jahrhundertelang zwischen Großmächten aufgeteilt. Quer durch die Gesellschaft reden die Menschen russisch, ukrainisch, ungarisch, polnisch oder einfach Dialekt. In Transkarpatien weht jetzt überall die ukrainische Flagge, aber Yolanas Großvater hat sein Leben lang im Dorf Rakoschino gewohnt und sechs Mal die Nationalität gewechselt. Ihr Vater vier Mal. Die jüngere Generation, die in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist, fühlt sich ukrainisch. Im Osten der Ukraine fühlt sich vor allem die ältere Generation dem großen russischen Bruder verbunden. Hier werden russische Fernsehsender geschaut statt TV5. Und laut einiger Flüchtlinge aus dem Donbass, mit denen wir gesprochen haben, wird auf diesem Sender systematisch von der «faschistischen» Regierung in Kiew gesprochen. Der Ausdruck «Faschisten» hat in diesem Zusammenhang wenig mit Gruppen oder Parteien wie Prawyi Sektor und Swoboda zu tun. Vielmehr ist er auf russischer Seite eine häufig verwendete Bezeichnung für die West-Ukrainer_innen, die in der Geschichte wiederholt für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft und sich auch gegen die Kollektivierung in der Sowjetunion gewehrt haben. Zahlreiche Grenzen laufen so mitten durch diese Gesellschaft und auch deswegen haben die Landesgrenzen, die vor nicht einmal 25 Jahren durch internationale Abkommen festgelegt wurden, nicht für alle die gleiche Bedeutung.
Eine mögliche Lösung der Probleme, ein Weg zum Frieden und zu wirtschaftlicher Stabilität haben wir in diesem Monat in der Ukraine nicht erkennen können. Aber der direkte Austausch mit Menschen vor Ort hat uns mehr Verständnis gebracht als alle vorher gelesenen Artikel und Bücher.
Konkrete Hilfe für Flüchtlinge
Hunderttausende von Menschen aus der Ostukraine sind durch den Krieg zu Flüchtlingen geworden und haben sowohl in Russland als auch in mehreren Regionen der Ukraine Schutz gesucht. So ist ein Teil von ihnen in den südwestlichsten Zipfel der Ukraine, nach Transkarpatien, gekommen. Viele stehen vor dem Nichts. Es sind vor allem private Initiativen, die helfen, wie das «Komitee der medizinischen Hilfe in Transkarpatien» (CAMZ). Diese Partnerorganisation* unterstützt diejenigen Menschen, die unter der Situation am meisten leiden: Familien mit vielen Kindern, Behinderte und alleinstehende Mütter mit kleinen Kindern. Selbst wenn ein dauerhafter Friede im Osten einkehren würde, können oder wollen die meisten in absehbarer Zeit nicht zurückkehren. Ihre Heimat ist zerstört. Das CAMZ leistet juristische, medizinische und psychologische Hilfe für die Flüchtlinge und begleitet sie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Gleichzeitig führt das Komitee seine bisherige Betreuungsarbeit für die internationalen Flüchtlinge fort, die an der östlichen EU-Aussengrenze zurückgeschoben und unter unmenschlichen Bedingungen in ukrainischen Lagern festgehalten werden. Diese Menschen drohen in der konfliktbeladenen Ukraine völlig vergessen zu werden.
Michael Rössler
Mehr Informationen, auch über Möglichkeiten der Unterstützung:
Freundeskreis Cornelius Koch, Tel. +41 (0) 76 461 46 41,
E-mail: Freundeskreis_Koch(at)gmx.ch* Neben dem Europäischen BürgerInnen Forum arbeiten mehrere Organisationen aus der Schweiz mit dem CAMZ auf verschiedenen Ebenen zusammen: Freundeskreis Cornelius Koch, Europäisches Komitee zur Verteidigung der Flüchtlinge und ImmigrantInnen (CEDRI), Netzwerk Schweiz-Transkarpatien/Ukraine (NeSTU), Verein Parasolka.