Seit neunzehn Jahren versucht der türkische Staat das Leben von Pinar Selek – Schriftstellerin, Soziologin, Feministin und Kämpferin gegen Machismus und Militarismus – zu zerstören. Am 25. Januar 2017 forderte der türkische Generalstaatsanwalt zum 5. Mal eine lebenslängliche Haft. Der auf Lügen aufgebaute Prozess wird also fortgeführt.
Ich lernte Pinar Selek letzten Sommer am Treffen des Europäischen BürgerInnenforums in Südfrankreich kennen. Wir hatten sie eingeladen, an unserem Forum als Kennerin der politischen Entwicklung in der Türkei teilzunehmen1. Ich war von der ersten Minute an eingenommen und beeindruckt von dieser Frau, die so viel Wärme und Klugheit ausstrahlt. Inzwischen sind wir eng mit-einander befreundet. Sie hat mir viel über ihr Leben, ihren Kampf, die Zeit im Gefängnis und die schmerzvolle Trennung von den ihren erzählt. Vieles davon hat sie auch in ihren Büchern beschrieben. Es ist kaum vorstellbar, was diese liebevolle, lebensfrohe und überaus herzliche Frau bereits durchmachen musste und dass sie es bis heute geschafft hat, trotz der intensiven Anstrengungen des türkischen Staates, nicht zu zerbrechen. Jetzt wird ihr Durchhaltevermögen wieder auf eine harte Probe gestellt.
Seit neunzehn Jahren wird Pinar Selek, Enkelin von einem der Gründer der türkischen Arbeiterpartei und Tochter des bekannten Menschenrechtsanwalts Cemal Hakki Selek, in der Türkei von der staatlichen Justiz verfolgt, obwohl sie sich nie irgendeines Deliktes schuldig gemacht hat. Viermal wurde sie bereits angeklagt und wieder freigesprochen. Am 25. Januar 2017 verkündete der Oberste Gerichtshof in der Türkei zum 5. Mal die Aufhebung des Freispruchs. Er fordert die erneute Verurteilung zu lebenslänglicher Haft.
Engagement für Diskriminierte
Bekannt geworden war Pinar Selek mit Untersuchungen und Arbeiten zu diskriminierten Gruppen wie Transsexuellen, Strassenkindern und Prostituierten. Im Jahr 1998, im Alter von 27 Jahren, wurde sie zum ersten Mal verhaftet. Sie arbeitete damals gerade an einer Studie über die Kurdenfrage. Nach Jahren, in denen schwere Kämpfe zwischen der PKK und dem türkischen Militär den Osten der Türkei erschüttert hatten, setzten sich Ende der 1990er Jahre erstmals Vertreter_innen der kurdischen Bevölkerung für eine politische Lösung des Konflikts ein. Das interessierte Pinar Selek. Sie interviewte Kurdinnen und Kurden in Deutschland, Frankreich und in der Türkei.
Die Polizei erfuhr davon und wollte die Namen der Gesprächs-parter_innen wissen; Pinar gab sie nicht preis. Daraufhin wurde sie am 11. Juli 1998 festgenommen und gefoltert, mit Elektroschocks und anderen, in den türkischen Gefängnissen üblichen, brutalsten Foltermethoden, unter deren Folgen sie bis heute leidet. Dennoch nannte sie die Namen nicht. Im Gefängnis erfuhr sie aus dem Fernsehen, womit man ihre Verhaftung begründete: Auf dem Istanbuler Gewürzbasar waren durch eine Explosion sieben Menschen getötet und über hundert verletzt worden. Sie hätte für die PKK eine Bombe dort gezündet, hiess es in den Abendnachrichten des türkischen Staatsfernsehens. Die Nachrichten, die Zeitungen, das Fernsehen waren voll mit ihrem Bild. Für sie waren diese Diffamierungen und die Folter eine fürchterliche Erfahrung und nur dank der Unterstützung und Solidarität ihrer Familie, ihrer zahlreichen Freundinnen und Freunde und nicht zuletzt der Strassenkinder, der Prostituierten und Transsexuellen, mit denen sie Projekte in den Strassen Istanbuls entwickelt hatte, konnte sie diese Demütigungen aushalten.
Für alle, die Pinar Selek kannten und kennen, war diese Anschuldigung zweifellos eine gezielte Manipulation. Pinar Selek verabscheut jede Form von Gewalt und Terror. Umso mehr ist klar: Die türkische Justiz will an dieser rebellischen Frau ein Exempel statuieren. Die Kriminalisierung Pinar Seleks soll eine Warnung an alle sein, die es wagen, die gesellschaftlichen Zustände in der Türkei zu kritisieren. Bestraft werden soll nicht nur Pinar sondern eine ganze Demokratiebewegung, die sie verkörpert.
Tagtäglich wurde für ihre Freilassung demonstriert. Ihre Freundinnen und Freunde, aber auch Politiker_innen und Intellektuelle versammelten sich vor dem Gefängnis um gegen ihre Haft zu protestieren. Nach mehr als zwei Jahren kamen türkische Gutachter zu dem Schluss, dass nicht Sprengstoff, sondern eine defekte Gasflasche die Explosion auf dem Gewürzbasar ausgelöst hatte. Der angebliche PKK-Komplize, der Pinar beschuldigt hatte, stellte sich als Laufbursche vom Markt heraus. Seine Aussagen waren durch Folter erzwungen worden. Er zog sein «Geständnis» zurück und Pinar Selek wurde nach zweieinhalb Jahren aus der Haft entlassen, der Prozess wurde jedoch weitergeführt.
Nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis gründete sie mit anderen türkischen Frauen die feministische Organisation «Amargi», die Gewalt gegen Frauen bekämpft, eine Zeitschrift herausgibt und in Istanbul den ersten feministischen Buchladen eröffnete. Dann veröffentlichte sie neun Bücher; drei davon sind Kinderbücher. In einem Essay schreibt sie über den Genozid an der armenischen Bevölkerung in der Türkei, in einem anderen über den türkischen Männlichkeitswahn und dessen Schule: das Militär. Dieses mutige Buch bringt ihr noch mehr Feinde in türkischen Regierungs- und Militärkreisen ein. 2006 wird sie freigesprochen. Drei Jahre später zweifelte der Revisionsgerichtshof in Ankara den Freispruch jedoch an und rollte den Fall wieder auf, angeblich wegen eines «Verfahrensfehlers». Das Gericht forderte 36 Jahre Isolationshaft. Der «Albtraum», wie Pinar ihren Prozess nennt, geht also weiter (siehe Kasten) und so muss sie 2009 die Türkei verlassen, um weiterleben zu können.
Am 25. Januar diesen Jahres (2017!) annulliert das Revisionsgericht zum 5. Mal den Freispruch, schickt sein Urteil zurück an das türkische Höchstgericht, welches ohne Audienz und ohne Anwälte eine definitive Entscheidung anordnet: Der Generalstaatsanwalt veröffentlicht ein sechsseitiges «Manifest», in dem erklärt wird, dass Pinar Selek eine gefährliche Terroristin sei.
Exil
Seit 2009 lebt Pinar im Exil; erst in Berlin, dann in Strassburg, wo sie ihre Doktorarbeit in Politikwissenschaften beenden konnte und seit zweieinhalb Jahren mit ihrem Lebensgefährten in Nizza, wo sie Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität (Université Nice Sophia Antipolis) unterrichtet, eine Frauengruppe gegründet hat und zur Zeit, wenn sie zwischendurch dazu kommt, an ihrem neuen Roman schreibt. Ausserdem wurde sie vom «Collège Internationale de Philosophie» in Paris zur Direktorin für Forschung über neue Mobilisationsformen ernannt. Sie wird sehr oft zu Symposien und internationalen Konferenzen eingeladen und ist daher auch viel unterwegs. Einer der nächsten Termine ist das Kolloquium über das Desexil in Genf. (31. Mai - 3. Juni/ exil-ciph.com)
Es war sehr schlimm für Pinar, ihr Land und ihre geliebte Stadt Istanbul zu verlassen, in der sie aufgewachsen ist und sich zur sensiblen Kämpferin entwickelt hat. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass sie nicht mehr zurückkehren kann – zu ihrer Familie, ihren Freunden und Mitstreiterinnen, ihren Strassenkindern. Pinar Selek ist sehr tapfer, aber sie ist auch müde. Müde der Ungerechtigkeit, die ihr seit bald 20 Jahren widerfährt. Müde der Ungewissheit. Traurig darüber zu wissen, dass die Möglichkeit für sie, ihre Schwester, ihren Vater und alle Menschen in der Türkei, die ihr nahestehen, zu besuchen, wieder in weite Ferne gerückt ist.
Aber sie ist nicht alleine. Überall, wo sie sich einige Zeit aufhielt, hat sie Freundinnen und Freunde, Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die an verschiedenen Orten Unterstützungskomitees ins Leben gerufen haben, insbesondere in Strassburg, Lyon und Nizza. Diese Komitees sind über Internet erreichbar. Pinar Selek braucht Unterstützung, um ihren Kampf für alle in der Türkei Kriminalisierten, Festgenommenen und Eingesperrten weiterführen zu können. Ihre Haltung dazu: «Mein Lachen und meine Energie kriegen sie nicht.»
Werke auf Deutsch:
- «Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt: Männliche Identitäten», Orlanda, Berlin 2010, ISBN 978-3-936937-73-2.
- Beitrag in: «Istanbul, ‘Sterbende Schöne‘ zwischen Orient und Okzident?» Hg. Wilhelm Genazino, Reihe: Corso Folio. Corso-Groothuis-Lohfert, Hamburg 2011, ISBN 3-86260-021-1.
- «Halbierte Hoffnungen», Orlanda, Berlin 2012, ISBN 978-3-936937-87-9 (auf Französisch: «La Maison du Bosphore», Liana Levi, Paris 2013.
- «Weil sie Armenier sind», Essay. Orlanda, Berlin 2015
Eine endlose Prozess-Odyssee
- Juni 1998: Festnahme infolge einer Forschungsarbeit über kurdische Widerstandskämpfer_innen, deren Namen sie nicht verraten will. Inhaftierung und Folter.
- August 1998: Pinar Selek erfährt im Gefängnis, dass der offizielle Grund ihrer Inhaftierung ein angebliches Attentat ist, dessen sie beschuldigt wird.
- Dezember 2000: Freilassung aus dem Gefängnis, der Prozess geht jedoch weiter.
- Juni 2006: Freispruch, doch sofortiger Einspruch des Staatsanwaltes (ohne Begründung).
- April 2007: Das Revisionsgericht folgt dem Staatsanwalt und hebt den Freispruch auf.
- Mai 2008: Zweiter Freispruch, doch der Staatsanwalt erhebt wieder Einspruch (ohne jede Begründung).
2009: Das Revisionsgericht hebt den Freispruch wieder auf und beschliesst, Pinar Selek zu verurteilen. Der Fall wird an ein anderes Schwurgericht weitergeleitet.- Februar 2011: dritter Freispruch. Das Höchstgericht hebt alle Anklagen auf. Dritter Einspruch des Staatsanwalts.
- November 2012: Das Höchstgericht annulliert sein eigenes Urteil (den Freispruch) – ein weltweit noch nie dagewesenes Vorgehen der Justiz.
- Januar 2013: Das Höchstgericht verurteilt Pinar zu lebenslänglicher Haft.
- Juni 2014: Die Anwälte erreichen, aufgrund ihrer Denunzierung von Unrechtmässigkeiten im Prozess, die Aufhebung des Urteils.
- Dezember 2014: Vierter Freispruch, doch der Staatsanwalt erhebt wieder Einspruch.
- Januar 2017: Der Staatsanwalt des Revisionsgerichts veröffentlicht seinen Strafantrag auf lebenslängliche Inhaftierung Pinar Seleks; der Kampf geht wieder von vorne los. https://pinarselek.fr/