«Eine zweite Revolution ist notwendig, ja unumgänglich.» Das ist wahrscheinlich der Satz, den wir während unseres zehntägigen Besuchs in Tunesien am häufigsten zu hören bekommen. Wir interviewen dort für eine Reportage des südwestdeutschen Rundfunks rund 20 Journalisten, Kulturschaffende und Basisaktivistinnen. Außerdem treffen wir Freunde, mit denen wir im Jahr 2012 die Aktion boats for people1 durchgeführt haben.
Sie alle waren bei den geschichtsträchtigen Ereignissen im Januar 2011 mit dabei, sie alle sind von den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahre massiv enttäuscht. Die Wut richtet sich in erster Linie gegen die Islamisten der Regierungspartei En-Nahdha, die sich als gemäßigt präsentieren, aber allzu offensichtlich eine offene Flanke hin zu militanten Salafisten haben. Zudem hat die Regierung es nicht geschafft, die drängenden ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Aber lassen wir die Aktivist_innen selbst zu Wort kommen:
Wir besuchen das Büro der UGET, der tunesischen Studierenden-Gewerkschaft, wo wir von drei Aktivisten empfangen werden. In diesem Gespräch geht es vor allem um die Rolle der UGET und der fortschrittlichen Studierenden im Kampf gegen Ben Ali und nun gegen die Islamisten. Nachdem Ben Ali verjagt wurde, richtet sich der Kampf der UGET vor allem gegen die Islamisten in der Regierung, auf der Straße und in der Universität. Vor kurzer Zeit hätten Islamisten beispielsweise das Literaturinstitut blockiert und Studierende, Professor_innen sowie den Dekan angegriffen, um auf diese Art dagegen zu protestieren, dass vollverschleierte Frauen auf der Uni nicht zugelassen werden. Des Weiteren wollten die En-Nahdha-nahen Studierenden durchsetzen, dass auf der Uni die Geschlechtertrennung eingeführt wird, dass es Räume für Gebete geben solle, ja sogar dass für die Gläubigen Infrastrukturen bis hin zu Schlafräumen eingerichtet werden. All das würde den Aktionsradius der Islamisten auf der Uni massiv ausweiten und Frauenrechte sowie säkularen Unterricht weiter einschränken. Ein weiteres Problem sei, dass die Polizei bei ihrer Repression äußert zwielichtig und undurchsichtig agiert. Angeblich hat En-Nahdha 20 Prozent des Polizeiapparats ausgetauscht und mit Leuten besetzt, die in ihrem Sinne handeln.
Wir treffen Lina Ben Mennhi, die mittlerweile weltbekannte Bloggerin aus der Zeit der Revolution. Ihre Zeit ist knapp bemessen, aber in den 20 Minuten, während der wir sie treffen können, gibt Lina Ben Mennhi uns eine absolut klare und gleichzeitig nüchterne, ja illusionslose Synthese zur aktuellen Situation in Tunesien: Die große Hoffnung ist dahin, der arabische Frühling hat sich in einen bitterkalten Winter verwandelt. Die Repression gegen alle, die ihre Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen und dabei die Regierung kritisieren oder gegen vermeintliche religiöse Normen verstoßen, nimmt immer mehr zu, die Kollaboration zwischen En-Nahdha und gewalttätigen Islamisten im In- und Ausland wird immer offensichtlicher. Das für mich augenscheinlichste Resultat dieses beklagenswerten Gesamtzustandes ist in diesem Moment, dass Lina mit zivilem Polizeischutz herumläuft, was ich anfangs nicht bemerke. Erst bei der Hälfte des Interviews sehe ich, nach einem Hinweis Linas, den Mann mit Sonnenbrillen einige Tische weiter. Die bittere Ironie der Lage liegt auf der Hand: Lina Ben Mennhi ist seit der Zeit Ben Alis Vorkämpferin gegen den übermächtigen Polizeiapparat, während sie sich nun von selbigen gegen Feinde schützen lassen muss, die aktuell noch viel gefährlicher sind.
Demonstration
Am Mittwoch gehen wir mit zwei Genossinnen der Organisation «Article 13» zur Kashba von Tunis, wo zu diesem Zeitpunkt eine Kundgebung gegen die Regierung stattfindet. Grund: Eine Untersuchungskommission (bestehend aus Rechtsanwälten unter der Führung von Taieb Laaguili) hat hieb- und stichfest nachgewiesen, dass die Ermordung der beiden linken Oppositionspolitiker Chokri Belaid und Mohamend Brahmi vom Februar bzw. August 2013 mit hohen Regierungskreisen der En-Nahdha zu tun hat. Die Geschichte ist verworren, es kommen aber immer mehr Tatsachen ans Tageslicht, die die Regierungs-Islamisten in akuten Erklärungsnotstand bringen: Ein ranghoher Salafist aus Libyen, Abdelhakim Belhaj, Anführer der radikal islamistischen Al-Watan Partei, dessen Verstrickung in die Morde bewiesen ist, war von En-Nahdha auf dem roten Teppich empfangen worden. Bereits zuvor hatte die Untersuchungskommission nachgewiesen, dass das Innenministerium von den Mordplänen gewusst hatte, jedoch keinerlei Schutzmaßnahmen für die beiden Politiker ergriff.
Die Atmosphäre auf der Demo ist wütend und entschlossen, rund 300 Menschen haben sich versammelt. Es folgen Reden von mehreren Oppositionspolitikern, dann, für uns recht plötzlich und unerwartet, ein Hagel an Eiern auf die symbolisch postierten Plakate der Regierungspolitiker und Minister. Hintergrund: Der Filmemacher Nasridin Sihili attackierte vor einigen Wochen den Kulturminister mit einem Ei. Letzterer gehört, wie eine Mehrzahl der Minister, der Regierungspartei En-Nahdha an und ist bei fortschrittlichen Kulturschaffenden entsprechend verhasst. Der Ei-Angriff ist zu einer Art Symbol für den Protest geworden. Vor kurzer Zeit wiederholte eine 17-jährige Frau den Ei-Anschlag – das Ei traf den Minister noch nicht mal, dennoch drohen der Aktivistin sechs Monate Gefängnis...
Noch bevor wir den Ort des Geschehens verlassen, machen wir auf dem großen Platz oberhalb der Kashba ein Interview mit dem Filmemacher Nejib Abidi, der vor einigen Tagen aus der Haft entlassen wurde. Im Sommer wurde er mit sieben seiner politischen Freund_innen in einer nächtlichen Polizeiaktion in seiner Wohnung festgenommen, während er an seinem Dokumentarfilm über Polizeirepression arbeitete. Als Vorwand für den Polizeiübergriff diente der Vorwurf des Konsums von Marihuana. Nejib ist auf freiem Fuß, wartet aber auf seinen Prozess und kann sich nun nicht frei bewegen, nicht einmal Tunis verlassen. Es wird entscheidend sein, den Verlauf der Gerichtsverhandlungen zu verfolgen und von Europa aus Solidarität zu bekunden.
Doppelzüngiger Diskurs
Bei einem ausführlichen Abendgespräch mit unseren Gastgeber_innen von Article 13 wird uns immer klarer, wie verhasst die Regierung und v.a. die Partei En-Nahdha bereits ist. Die Enthüllungen der Kommission zur Ermordung von Belaid und Brahmi liegen erst einen Tag zurück und das Ergebnis bekräftigt unsere Freunde in ihrer Meinung: En-Nahda muss weg. Es gibt noch weitere triftige Gründe: Die Ökonomie kommt nicht auf die Beine, ganz im Gegenteil. Es sind massive Preissteigerungen bei den Grundlebensmitteln festzustellen, gleichzeitig sind die Löhne eingefroren. Man befürchtet, dass die Staatskassen bald leer sein könnten und dass die Bediensteten im öffentlichen Sektor nicht mehr bezahlt werden können. All das hat dazu geführt, dass nicht nur linke Tunesier_innen En-Nahda ablehnen. Aktuelle Umfragewerte ergeben, dass En-Nahdha bei 10 bis maximal 20 Prozent der Stimmen liegt. Immer wieder wird betont, dass En-Nahda einen doppelzüngigen Diskurs führt: Einerseits würde sie behaupten, dass sie individuelle Rechte, Frauenrechte, Meinungsfreiheit etc. garantieren würde, auf der anderen Seite beschränkte sie all diese Rechte am laufenden Band.
Immer wieder hören wir, dass Religion in der öffentlichen Sphäre nichts verloren hat und dass die Vorstellungen vom Islam, die von En-Nahdha vertreten werden, nichts mit dem Islam zu tun haben, der hier in Tunesien von der Mehrheit der Bevölkerung ausgeübt wird. Mit der Einführung der Sharia, die En-Nahdha zwar nicht durchsetzen kann, aber dennoch im Programm führt, würde man das Land ins 14. Jahrhundert zurück katapultieren wollen. Die Transnationalisierung des Djihads sei äußerst gefährlich, so auch der Umstand, dass Tausende Tunesier_innen für den Krieg in Syrien angeworben wurden. Dafür würden – im Gegensatz zu der Zeit unter Ben Ali – die Moscheen offenstehen. En-Nahdha ginge sogar so weit, ausländische Salafisten in Tunesien zu hofieren und sie auf Podien zu setzen. So z.B. den bereits erwähnten Abdelhakim Belhadj aus Libyen. Ebenso hätte es sogar Verbindungen zur salafistischen Organisation Ansar Echaria gegeben, bevor diese dann im August von En-Nahdha fallengelassen und offiziell als terroristische Vereinigung eingestuft wurde. Besonders der Umstand, dass in den letzten Wochen offenbar wurde, dass Hunderte Frauen aus Tunesien nach Syrien rekrutiert wurden, um für die Dijhad-Kämpfer Sexarbeit zu leisten, wird im ganzen Land und auch von unseren Freund_innen intensiv diskutiert. Viele dieser Frauen seien schwanger zurückgekommen bzw. hätten sich Krankheiten zugezogen.
Die Meinungen gehen lediglich auseinander, als es zu dem Punkt kommt, WIE die Regierung zum Abtritt bewegt werden könne. Die meisten unserer Gesprächspartner tendieren stark zur Auffassung, dass es eine zweite Revolution brauche und dass die Regierung nicht mittels Verhandlungen zum Abtritt bewegt werden könne. Es müsse so rasch wie möglich verhindert werden, dass sich En-Nahdha weiterhin an die Macht klammert, Posten mit ihren Leuten besetzt und Ressourcen für ihre Aktivitäten abzieht. Andere denken, dass man verhandeln muss, da En-Nahdha, einmal gewaltsam in die Opposition gezwungen, noch mehr Terrorakte verüben würde.
Am nächsten Tag treffen wir Thameur Mekki, einen linker Musikjournalisten, und führen ein aufschlussreiches Interview über den tunesischen Hip-Hop und die Repression. Thameur ist im Unterstützungskomitee für Klay BBJ, momentan wohl der bekannteste Rapper Tunesiens. Dieser wurde vor wenigen Wochen während eines Konzerts direkt von der Bühne weg verhaftet. In seinen Texten kritisiert er Polizeigewalt und die soziale, ökonomische und politische Misere. Weld 15 («fils du 15»), ein anderer bekannter Rapper, der von Repression betroffenen ist, befindet sich zurzeit auf der Flucht. Thameur Mekki arbeitet an der Schnittstelle zwischen Unterstützungs-NGOs und Basisbewegungen, organisiert psychologische Unterstützung für die Inhaftieren sowie Anwälte, Medien etc.
Neuer Kampf?
Wir verlassen das Land mit dem Eindruck, dass ein neuer Kampfzyklus in Tunesien nicht unwahrscheinlich ist. Viele unserer Freunde bedauern zwar, dass eine große Gelegenheit, En-Nahdha und die gesamte Regierung aus dem Amt zu werfen, nach der Ermordung von Chokri Belaid im Februar 2013 versäumt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war offenbar die Unzufriedenheit am größten, während die Leute zurzeit zwar wahnsinnig unzufrieden, aber doch ziemlich paralysiert seien. Vor allem der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT würde zu sehr auf Verhandlungen setzen, die schon seit Monaten stocken, anstatt entschlossen zu agieren. Es scheint jedenfalls, dass viele Tunesier_innen genug von all dem haben und dringend eine neuerliche, gründliche Veränderung erwarten.
P.S. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses ist die politische Situation in Tunesien nach wie vor ziemlich offen: En-Nadha hat die ,Road Map’ der Vermittlergruppe (ein «Quartett» unter Beteiligung des Gewerkschaftsverbands UGTT, Arbeitgeberverband, Anwaltskammer und Menschenrechtsverband) unterschrieben und damit theoretisch auch, dass die Regierung bis Ende Oktober abtreten muss. Gleichzeitig hat ihr Parteivorstand offen dagegen gestimmt, und Premierminister Ali La’arayedh hat diese Woche erklärt, seine Partei benötige schon «Garantien», um die Regierung verlassen zu können. Am 23. Oktober gab es, zum zweiten Jahrestag der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung - deren Mandat ja theoretisch seit einem Jahr abgelaufen ist - sowohl eine Oppositionsdemonstration als auch die offizielle Eröffnung des ,Nationalen Dialogs’ zwischen aktueller Regierung und Opposition unter Vermittlung des «Quartetts»... der Ausgang dieser Prozesse ist also alles andere als absehbar.