Pinar Selek feiert einen besonderen Jahrestag – den ihrer Befreiung aus den türkischen Gefängnissen, in denen sie unter fadenscheinigen Gründen eingesperrt war. Die feministische und antimilitaristische Aktivistin, Soziologin und Schriftstellerin, damals 28 Jahre jung, erinnert sich an ihre Zeit im Gefängnis und danach. In ein paar Wochen werden es zwanzig Jahre her sein, dass ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Es war direkt nach dem Gefängnismassaker. Gleich nachdem ich meine Freundinnen und Freunde sterben sah, ihre Schreie im Feuer hörte. Meine Entlassung hat diesem Albtraum kein Ende gesetzt – weder meinem noch dem, den ich mit den anderen Gefangenen teilte.
Am 22. Dezember 2000 wurde ich entlassen – am achtundzwanzigsten Tag des Hungerstreiks, den Tausende von uns Gefangenen führten, um sich gegen unsere Verlegung in die "neuen Gefängnisse" zu wehren, in denen noch mehr Kontrolle und unmenschlichere Haftbedingungen sowie mehr Isolation vorgesehen war. In der Nacht zum 19. Dezember wurden wir durch Bomben und Schüsse geweckt. Es war die Operation "Rückkehr zum Leben", die auf unsere zwangsweise Verlegung in diese neuen Gefängnisse abzielte. Der Albtraum dauerte einen Tag und zwei Nächte. In dem Gefängnis, in dem ich war, zählten wir achtunddreissig Tote und Hunderte von Verwundeten. Sie brachten uns, die Überlebenden, in ein anderes Gefängnis, bevor sie uns aussortierten. Unser Hungerstreik und unser Widerstand gingen weiter. In diesem Gefängnis gab es einen Fernseher an der Wand, wir hörten die Nachrichten, die nichts als grausame Lügen waren. Plötzlich hörte ich den Schrei einer Freundin: „Pinaaar! Sie reden über dich im Fernsehen, du wirst freigelassen.“ Ich glaubte zu hören: „Du wirst uns verlassen!“ und wollte antworten „Nein, ich werde Euch nicht verlassen! Wir werden weiterhin gemeinsam Widerstand leisten...“ Ich habe nichts gesagt. Ich war stumm. Im Fernsehen sagte jemand, die offiziellen Experten hätten gezeigt, dass die gegen mich erhobenen Anschuldigungen falsch seien. Meine Anwälte hatten meine Freilassung erwirkt und vor dem Gefängnis warteten Menschen auf mich. Plötzlich klopften die Wachen an die Eisentür unseres Schlafsaals: „Pinar Seleeeek. Mach Dich bereit, Du wirst entlassen. Komm schon... Beeil dich.“ Es war unmöglich, sich zu beeilen. Befreiung – Trennung. Reflexartig tauschten wir Geschenke aus: „Hier, nimm meinen Ring“, „Nimm meinen Schal“. Ich habe nichts anderes mitgenommen. Alles, was ich zweieinhalb Jahre lang geschrieben hatte, war verbrannt oder beschlagnahmt worden und meine Kleidung liess ich meinen Freundinnen. Ich hatte nur ihre kleinen Geschenke und ein Manuskript in einem kleinen Notizbuch, das legte ich mir auf den Bauch.
Ich war mir sehr schnell bewusst, was mich vor dem Gefängnis erwartete: ein Publikum, das darauf hoffte, meine Worte zu hören. Ich könnte also die Medienberichterstattung nutzen, um die Lügenmauer zu durchbrechen. Aber wie sollte ich das tun? Mit welchen Worten? Niemand hatte mir etwas gesagt, aber ich sah eine Art von Vertrauen in ihren Augen. Unter Tränen umarmte ich meine Freundinnen und bereitete mich auf eine schöne Rede vor, nicht aggressiv, aber kreativ, welche die Herzen berühren sollte. Ich habe gesprochen. Umgeben von Strassenkindern, Freund_inn_en, Kolleg_inn_en, Aktivist_inn_en, Künstler_inne_n, Journalist_inne_en und vielen unbekannten Menschen, habe ich die extreme Gewalt beschrieben. Ich weiss nicht, woher diese Kraft kam, aber ich erinnere mich, dass ich von einer magischen Macht erfüllt war. In diesem Kontext der extremen Gewalt hatte ich es geschafft, einer antimilitaristischen Stimme Gehör zu verschaffen. Mein öffentliches Statement war im Grunde ein Versprechen. Das Versprechen eines Kampfes gegen alle Systeme der Herrschaft, gegen alle Formen von Gewalt und Diskriminierung. Ich habe mein Versprechen bis heute gehalten.
Populär und wieder verfolgt
Ein paar Tage lang war ich auf der Titelseite aller Medien. Trotz der staatlichen Repression hatten mich die Richter, die von der Absurdität und Grausamkeit der Anschuldigungen überzeugt waren, freigelassen. Ich war das Opfer einer grundlosen Verfolgung. Ein Symbol für all die Ungerechtigkeiten im Land. Die starke Solidarität der Strassenkinder, Prostituierten, Transsexuellen und anderen sozialen Gruppen, die sich bis dahin nie um politische Prozesse herum gezeigt hatten, verstärkte die emotionale Dimension meines Prozesses, die bereits vorhanden war, weil mein Vater mich verteidigte sowie meine Schwester, die ihr Leben geändert hatte, um Anwältin zu werden, und meine Mutter, die eine Mauer der Solidarität um ihre Tochter herum aufgebaut hatte. Ich war sehr populär und diese starke Popularität ermöglichte es mir, mein Wort zu halten und das Wort der Gefangenen an erster Stelle vorzubringen, mich an antimilitaristischen, feministischen und anderen Aktionen des Volkes zu beteiligen.
Bald wurde uns klar, dass der Albtraum weitergehen würde. Neue Anschuldigungen – unbegründet. Die Anhörungen gingen zügig weiter. Im Jahr 2006, erster Freispruch. Der Staatsanwalt legte Berufung ein und 2007 hob der Kassationsgerichtshof den Freispruch auf. Der Fall wurde erneut vor Gericht verhandelt. Im Jahr 2008, zweiter Freispruch. Der Staatsanwalt legte erneut Berufung ein. Der Kassationsgerichtshof hob den Freispruch wieder auf. Dann... Landesgericht, Strafgericht, Kassationsgericht, das Verfahren wurde immer komplizierter. Ich hielt dem Druck stand und blieb in der Türkei, um meine Kämpfe fortzusetzen. Ich habe nie innegehalten; habe geschrieben, mich gegen den Krieg, gegen den Militarismus, den Sexismus, den Nationalismus, die Heteronormativität und gegen alle Herrschaftsverhältnisse eingesetzt, ohne sie zu bewerten. Ich war nicht allein, sondern freute mich, Teil einer Bewegung zu sein, die trotz des autoritären Kontextes mein Land von unten revolutionierte.
Exil und Bedrohung
Im April 2009, nach einer Entscheidung des Kassationsgerichts gegen mich, musste ich in Windeseile eine kleine Reisetasche vorbereiten, um ins Exil zu fliehen. Zunächst nach Deutschland, dann 2012 nach Frankreich. Der Prozess wurde fortgesetzt – bis heute. Im Jahr 2014 war ich in Lyon, als ich den vierten Freispruch feierte. Doch die Party dauerte nur ein paar Stunden: Der Staatsanwalt legte erneut Berufung ein. Seitdem ist dieser Fall zurück in den Irrgarten der Justiz geschickt worden. Am 25. Januar 2017, nach endlosem Warten, gab der Staatsanwalt des Kassationsgerichtshofs sein Urteil ab: lebenslange Haft – wir warten immer noch auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die endgültig sein wird. In der Zwischenzeit erhält meine Familie regelmässig Bescheide von einem Sozialgericht, in denen ihr mitgeteilt wird, dass ich im Falle einer Verurteilung durch das Oberste Gericht zu einer hohen Schadensersatzzahlung verurteilt werde. Bis zum endgültigen Urteil stehen meine Familie, die in der Türkei geblieben ist, und ich daher auch finanziell unter Druck. Es ist schwierig, die ganze Unerbittlichkeit zusammenzufassen, die ich in Bezug auf diesen Fall erlebe, der die Kontinuität der strukturellen Gewalt in diesem Land widerspiegelt, die erst in den letzten Jahren in der europäischen Öffentlichkeit sichtbar geworden ist.
Ich weiss nicht, wie die zukünftige Entscheidung ausfallen wird, ich denke nur an meine Entlassung aus dem Gefängnis vor 20 Jahren. Ich betrachte mein Bild vor dem Gefängnis: abgemagert vom Hungerstreik, verängstigt von allem, was ich gesehen hatte, aber stark im Angesicht dessen, was mich erwartete. Ich war jünger, jedoch mit schwerem Gepäck, das ich mit all den anderen Widerstandskämpfer_inne_n trug. Ich hätte mir nie vorgestellt, dass ich noch weitere 20 Jahre in diesem Albtraum bleiben würde, dass ich so weit weg sein würde, dass ich die Welt zu meinem Land machen würde – in Anlehnung an Virginia Woolf(1) – dass ich meine Kämpfe vervielfachen würde. Ich werde weiterhin mein Versprechen halten und leisten, auch wenn es mir teuer zu stehen kommt; die Drohungen, die Gewalt aller Art, die mich immer wieder in die Situation bringen, um Unterstützung bitten zu müssen. Heute bitte ich um nichts, niemanden. Ich wollte nur eine Erinnerung mit Euch teilen. Eine Erinnerung, die meine Gegenwart bleibt.
- Virginia Woolf sagte: „Als Frau habe ich kein Land. Als Frau wünsche ich mir kein Land. Mein Land ist die ganze Welt. “