Seit der Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel unter dem Vorwurf der «Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung» nimmt die Repression gegen Kritiker_innen der Regierung in der Türkei immer schwindelerregendere Züge an.
Präsident Erdogan lässt sich allerdings von der ausländischen Kritik nicht beeindrucken, er behauptete vor einigen Wochen sogar, Yücel sei ein deutscher Agent. Gleichzeitig geht die Repression gegen oppositionelle Politiker_innen, kritische Medien und Aktivist_innen weiter. Die Türkei droht seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli letzten Jahres immer mehr in eine Diktatur abzurutschen. Auch kritische Professor_innen sind davon in hohem Maß betroffen. Mehr als 330 Universitätsangehörige wurden Anfang Februar 2017 fristlos entlassen.
Zeynep Gambetti ist Professorin am «Institut für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen» der Bosporus-Universität in Istanbul, eine der renommiertesten Universitäten in der Türkei. Sie wurde nicht entlassen, doch das könne sich jederzeit ändern, fürchtet sie. Sie berichtet, dass die Repression gegen Oppositionelle, Dissident_innen, Kri-tiker_innen und Akademi-ker_innen seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli letzten Jahres immer schneller voranschreitet.
Die Drangsalierung kritischer Intellektueller begann jedoch schon lange davor: Gegen Ende des Jahres 2015 unterzeichneten mehr als tausend Universitätsangehörige eine Friedenspetition, in der sie dazu aufriefen, die Militäroperationen in den kurdischen Gebieten im Südosten des Landes zu beenden und die Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Dies führte nun dazu, dass alle Unterzeichner_innen der Friedenspetition von der Regierung bezichtigt wurden, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. Zeynep Gambetti und ihre Kolleg_in-nen hielten daraufhin eine Pressekonferenz ab – doch was passierte? Mehrere Universitätsangehörige wurden wochenlang ins Gefängnis gesperrt.
Einschüchterungen und Entlassungen
Dies, so Zeynep Gambetti, sei ein erster Schuss vor den Bug gewesen: Alle, die öffentlich für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit der PKK eintraten, wurden massiv eingeschüchtert. Nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 weitete die Regierung ihre Möglichkeiten, potentielle Kritiker_innen unter Druck zu setzen, erheblich aus: Der Ausnahmezustand wurde verhängt und Präsident Erdogan konnte damit per Regierungsdekret Beamte ihrer Posten entheben. Zehn-tausende sind seither betroffen. Einer von ihnen ist Erhan Kelegolu. Er war Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaften an der Istanbul University und wurde am 29. Oktober 2016 entlassen. Kelegolu arbeitete 20 Jahre lang an der Universität. Seit seiner Entlassung konnte er keinen anderen Job finden, weder an anderen Universitäten, noch an anderen öffentlichen Institutionen. Arbeitgeber_innen im privaten Sektor haben ebenfalls Angst, die Betroffenen anzustellen – denn das Datum der Entlassung lässt unmissverständlich erkennen, wer von den politischen Säuberungen betroffen war. Viele können nicht einmal das Land verlassen, da ihre Reisepässe für ungültig erklärt wurden. Der Umstand, dass die entlassenen Universitätsangehörigen nicht einmal ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung haben, verdeutlicht umso mehr, dass es sich hier um eine kollektive Bestrafungsaktion handelt.
Die Theaterschauspielerin Nazli Benan, die ihr Studium an der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Ankara abgeschlossen hat, berichtet, dass alle sieben Professorinnen und Professoren der dortigen Theaterabteilung entlassen wurden, weil sie die Petition für Frieden unterschrieben hatten. Das bedeutet nun, dass die gesamte Theaterabteilung der Universität Ankara de facto geschlossen ist. Es gibt weder Masterstudiengänge noch Doktoratsstudien. Es findet praktisch kein Unterricht mehr statt. Die radikale politische Säuberung der Theaterabteilung in Ankara ist kein Einzelfall, betont Zeynep Gambetti: Eine Reihe von Fakultäten sei richtiggehend geleert worden, darunter auch die staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Ankara. Diese Institution hat eine lange Geschichte der Ausbildung von Intellektuellen und Staatsbeamten in der Türkei. Weitere Fakultäten, die zur Gänze ihr hochqualifiziertes Lehr- und Forschungspersonal verloren haben, sind die Fakultäten für Kommunikationswissenschaften der Universität Ankara sowie der Marmara-Universität in Istanbul. Das schlimmste sei, dass es für die nächste Generation keine gute universitäre Ausbildung mehr geben würde, so Gambetti. Universitätsangehörige, die nicht entlassen wurden, sind extrem besorgt und eingeschüchtert. Viele Professor_innen trauen sich nicht mehr, öffentlich aufzutreten oder an Themen zu forschen, die in der Türkei als heikel gelten und die ihnen Probleme bereiten könnten.
Eine bleierne Zeit
Auch für diejenigen, die nicht entlassen wurden, verschlechtern sich also die Arbeitsbedingungen aufgrund der Repressalien rapide. Asena Günal ist Mitgründerin einer Beobachtungsstelle, die sich mit Fällen von Zensur im akademischen, kulturellen und künstlerischen Bereich beschäftigt und die seit dem Jahr 2011 existiert. Sie meint, dass das Problem an den Universitäten auch darin bestehe, dass selbst diejenigen, die nicht gefeuert wurden, nicht mehr frei arbeiten könnten. Das zeigt sich daran, dass es einen signifikanten Rückgang bei der Anzahl an Publikationen gibt. Universitätsangestellte sind dazu gezwungen, sich mit Dingen zu befassen, die ein produktives Arbeiten verunmöglichen.
Die Akademiker_innen, welche die genannte Friedenspetition unterzeichneten, wurden von verschiedenen anderen Berufsgruppen unterstützt, die daraufhin ebenfalls mit Repressionen konfrontiert wurden. Als die Gruppe «Akademi-ker_innen für den Frieden» ihre Petition veröffentlichte, erklärten sich 433 Personen aus der Filmbranche dazu bereit, ihr Anliegen zu unterstützen und den Aufruf zu unterschreiben. Der Filmemacher Enis Köstepen gehört ebenfalls zu den Unterzeichner_innen. Er berichtet, dass die Polizei daraufhin im Dezember 2016 einen Brief an den Berufsverband der Filme-macher_innen schickte und darin behauptete, dass die 433 Unter-zeichner_innen der Petition kriminelle Aktivitäten fördern würden.
Konstruierte Transformation der Gesellschaft
Bülent Kucuk lebte fast zehn Jahre lang in Deutschland und arbeitete dort an verschiedenen Universitäten. Vor etwa sieben Jahren kehrte er in die Türkei zurück und lehrt nun Soziologie an der Boaziçi University in Istanbul. Er meint, dass in der Türkei seit einiger Zeit eine langsame Transformation des Staates und eine schrittweise, aber sehr konsequente Transformation der Gesellschaft zu beobachten sei. Diese Transformation werde von den neuen gesellschaftlichen Eliten von oben herab konstruiert. Die Elite möchte einen neuen Gesellschaftstypus hervorbringen, der konservativ ist und gleichzeitig konsumorientiert sein soll. Alle möglichen staatlichen Institutionen sollen deshalb transformiert und unter die Kontrolle der neuen Elite gebracht werden. Bülent Kucuk sieht die Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park vom Jahr 2013 als einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung des Landes: Die Gezi-Proteste seien ein dezisiver historischer Punkt gewesen, an dem es tatsächlich die Gelegenheit gegeben hätte, die türkische Gesellschaft zu verändern. Doch bereits nach drei oder vier Wochen wurde diese Periode in der Türkei brutal beendet – stattdessen gäbe es nun eine rechtspopulistische, reaktionäre Tendenz, die in Richtung einer faschistischen Ordnung tendiere.
Die Repression gegen Akademi-ker_innen hat mitunter fatale Konsequenzen. In der südlichen Provinz Adana beging ein junger Universitätsassistent Ende Februar Selbstmord, nachdem er von der dortigen Universität entlassen worden war und seine Bewerbungsschreiben an mehreren anderen Universitäten abgelehnt wurden. Man hatte ihm vorgeworfen, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein. Der junge Mann konnte die Stigmatisierung und die Isolation an einer peripher gelegenen Universität nicht ertragen. Zeynep Gambetti betont, dass an verschiedenen Universitäten des Landes eine Stimmung des Misstrauens und der Verunsicherung um sich gegriffen habe: Universitätsangehörige haben Angst, von ihren Kolleg_innen oder gar von den Studierenden denunziert zu werden. Viele Vorwürfe sind natürlich komplett fiktiv – es genügt, sich mit gewissen Themen wissenschaftlich zu befassen, um Opfer von Denunziationen zu werden. In manchen Fällen reicht es sogar aus, sein Geld bei der falschen Bank angelegt zu haben, oder sein Kind in eine bestimmte Schule zu schicken; man wird dann beschuldigt, entweder der Gülen-Bewegung anzugehören oder die PKK zu unterstützen. Dass es so etwas gäbe wie eine Unschuldsvermutung, scheint in diesem Land komplett vergessen zu sein, meint Zeynep Gambetti – es finden praktisch Verurteilungen statt, ohne dass überhaupt ein Gerichtsverfahren eröffnet wurde.
Wichtige Solidarität
Doch welche Handlungsspielräume gibt es nun? Bülent Kucuk hält die Solidarität aus dem Ausland für einen wichtigen Faktor: viele Akademiker_innen in der Diaspora – sei es in Berlin, Wien, London, in Frankreich, in den USA, in Kanada und in vielen anderen Ländern – seien nun aktiv geworden. Weltweit haben sich Solidaritätsgruppen gebildet, die ihre Kolleginnen und Kollegen in der Türkei unterstützen wollen. Dafür brauche es an den Universitäten entsprechende Strukturen, meint Ulrich Brand, Professor für internationale Politik an der Universität Wien. Er fordert, dass es für die Kolleginnen und Kollegen aus der Türkei materielle Absicherung in Form von Lehraufträgen oder Reisestipendien geben müsse. Wichtig sei auch die wissenschaftliche Anerkennung sowie die Gewissheit, dass sie Teil einer europäischen und internationalen Diskussion sind, und dass sie in der Türkei nicht ohne Widerspruch als Terroristen diffamiert werden können.
Die Politikwissenschafterin Zeynep Gambetti unterstützt diese Sichtweise. Sie meint, dass es zwar wichtig wäre, Petitionen zu unterschreiben, Kampagnen zu starten und symbolische Aktionen durchzuführen. Doch was jetzt unmittelbar notwendig sei, wären konkrete Kooperation und Hilfe. Gefragt seien verbindliche Vereinbarungen, um den Betroffenen die Ausreise zu ermöglichen oder sie vor Ort zu unterstützen.
Die Existenz unabhängiger Universitäten sei eine unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, so Gambetti: Nachdem vor einiger Zeit die türkischen Medien massiv angegriffen wurden, sind nun die Universitäten an der Reihe – diese stellen die letzte Bastion von kritischer, objektiver und unparteiischer Wissensproduktion dar. Die Türkei brauche dieses Wissen unbedingt, damit die Öffentlichkeit in der Lage sei, die aktuellen Entwicklungen zu begreifen und entsprechend zu handeln, so Gambetti.