TÜRKEI / MENSCHENRECHTE: Andauernde Schikane gegen Pinar Selek

von Constanze Warta, EBF, 08.11.2024, Veröffentlicht in Archipel 341

Am 7. Februar 2025 ist der nächste Prozesstermin gegen Pınar Selek, eine 1971 in Istanbul geborene türkische Soziologin, Schriftstellerin und Aktivistin, die heute französische Staatsbürgerin und Dozentin an der Universität Côte d›Azur in Nizza ist. Seit über 25 Jahren wird sie zu Unrecht von der türkischen Justiz wegen eines angeblichen Terroranschlags verfolgt, der in Wirklichkeit nie stattgefunden hat.

Pınar Selek ist bekannt für ihre akademische Forschung und ihre Arbeit über marginalisierte Minderheiten in der Türkei, insbesondere die kurdische und armenische Gemeinschaft. Sie ist auch für ihre literarischen Werke bekannt, aber auch für ihre militanten feministischen und pazifistischen Aktionen, die sich auf die Menschenrechte, die sozialen Bewegungen und die Genderfrage konzentrieren. Sie ist eine wichtige Stimme für die Menschenrechte und die Forschungsfreiheit. In der Türkei legte der Generalstaatsanwalt systematisch Berufung gegen die vier Freisprüche ein, die das Strafgericht in den Jahren 2006, 2008, 2011 und 2014 ausgesprochen hatte. Sieben Jahre später, am 21. Juni 2022, hob der Oberste Gerichtshof der Türkei den vierten Freispruch auf. Sechs Monate später wurde ein internationaler Haftbefehl gegen Pinar Selek ausgestellt, mit der Aufforderung, sie sofort inhaftieren zu lassen.

Vor kurzem fanden drei Anhörungen vor Gericht in Istanbul statt – am 31. März 2023, 29. September 2023 und 28. Juni 2024, jedes Mal in Anwesenheit einer grossen europäischen Delegation. Im Juni 2024, zwei Tage vor der letzten Anhörung, wurde ein irreführendes Schriftstück in die Akte aufgenommen, in dem Pınar Selek beschuldigt wurde, an einer von der PKK organisierten Konferenz teilgenommen zu haben. Besagte Konferenz, in deren Rahmen sie eine Podiumsdiskussion moderierte, stand jedoch unter der Verantwortung der Universität Côte d’Azur, der Universität Paris Cité, des CNRS[1] und des IRD[2]. Die französischen akademischen Institutionen protestierten im Vorfeld der Anhörung am 28. Juni sofort mit offiziellen Schreiben an den Gerichtshof, in denen sie eine politische Manipulation und eine eklatante Verletzung der akademischen Freiheit anprangerten.

Dank dieser sofortigen Reaktion, der Anwesenheit einer grossen europäischen Delegation in Istanbul und des Plädoyers von Pınar Seleks Anwält·innen konnte der Versuch des türkischen Innenministeriums, eine in Frankreich abgehaltene akademische Konferenz mit einem «terroristischen Akt» gleichzusetzen, vereitelt werden. Daher kündigte der Richter ein weiteres Aufschieben der Anhörung an und forderte erneut die Anwesenheit von Pınar Selek, lehnte es jedoch ab, sie durch ein Rechtshilfeersuchen zu vernehmen, wie es die Praxis der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen erlaubt. Eine neue Anhörung wurde für den 7. Februar 2025 angesetzt.

Aufstieg der extremen Rechten

Die politisch-juristische Hetze gegen Pınar Selek findet vor dem Hintergrund des Aufstiegs der extremen Rechten in Europa, der Infragestellung der akademischen Freiheiten und der Zunahme von Gewalt und Einschränkungen der Freiheiten statt, die sich gegen alle Minderheiten und politischen Gegner·innen richten. Inzwischen wurden neue Richter ernannt, die über das Schicksal von Pınar Selek entscheiden sollen. Es ist schwierig, die Folgen dieses Wechsels abzuschätzen, aber eines ist sicher: Nur eine grosse europäische Delegation und eine internationale Kampagne in Solidarität mit Pınar Selek und zur Verteidigung der Meinungs-, Forschungs- und Redefreiheit werden verhindern können, dass die im Juni 2022 vom Obersten Gerichtshof verkündete Entscheidung, den vierten Freispruch aufzuheben, einfach bestätigt wird.

Pınar Selek muss die Möglichkeit haben, ihre Aussage zu machen, ohne Frankreich zu verlassen. Es geht um ihre Sicherheit und ihr Leben. Die Demokratinnen und Demokraten in Frankreich und Europa sind es sich schuldig, gegen diese inakzeptable juristische Hetze vorzugehen, die über die Person Pınar Seleks hinaus alle unsere demokratischen Freiheiten betrifft, insbesondere die Meinungsfreiheit und die Freiheit der akademischen Forschung. Pınar Selek stellt fest: «Trotz vier Freisprüchen lebe ich mit der Drohung einer lebenslangen Haftstrafe. Mein Prozess spiegelt sowohl die Kontinuität des autoritären Regimes in der Türkei wider als auch dessen repressive Mechanismen.»

Wenn Sie an der Prozess-Beobachtungsdelegation teilnehmen oder diese sonst irgendwie unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an das Europäische Bürger:innen Forum, z.H. Constanze Warta.

  1. Centre National des Recherches Scientifiques: Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Frankreich

  2. Institut de Recherche pour le Développement: Institut für Entwicklungsforschung