Im vergangenen Dezember war ich zum ersten Mal seit 2010 wieder in der Türkei. In den letzten fünfeinhalb Jahren hat sich in dem Land eine starke soziale Bewegung und eine damit verbundene politische Öffnung entwickelt. Alle Hoffnungen sind jedoch seit dem vergangenen Sommer durch die herrschende Gewalt, Repression und die inneren Spannungen verschüttet. Im Jahr 2010 bereicherte die Öffnung gegenüber den Arme-nier_innen die politische Kultur, nachdem mehrere türkische Intellektuelle diese Volksgemeinschaft wegen der an ihr begangenen Massaker um Verzeihung gebeten hatten. Die Regierung der AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) beschränkte die Macht der Armee und begann Verhandlungen mit den Kurd_in-nen.
Die Revolte um den Gezi-Park in Istanbul 20131 und der Erfolg der HDP («Demokratische Partei der Völker») bei den Wahlen im Sommer 2015 hatten eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Jetzt aber haben alle, denen ich begegnet bin, ihre Verzweiflung und ihr Gefühl von Ohnmacht gegenüber den Ereignissen im Land zum Ausdruck gebracht.
Nach den Wahlen vom 7. Juni, bei denen die AKP nicht die angestrebte absolute Mehrheit erreichte, hat sich alles abrupt verändert. Das Wahlergebnis hat die von Recip Tayyip Erdogan beabsichtigte Verfassungsänderung verhindert, die ihm uneingeschränkte Macht durch ein starkes Präsidialregime sichern sollte. Die Anschläge in Suruc und Ankara, die Rückkehr zum Krieg gegen die kurdischen Städte im Süd-Osten des Landes und die massive Hetzpropaganda in den von der Regierungspartei kontrollierten Medien, haben es Erdogan ermöglicht, sein Ziel bei den Wahlen vom 1. November zu erreichen.
Ferhat Kentel, Soziologieprofessor in Istanbul:
«Die AKP hat sich verändert. Vorher war sie eine Partei, die die Entwicklung einer Zivilgesellschaft mit demokratischen Einrichtungen gefördert hat, und bemüht war, den öffentlichen Raum dem Einfluss der Armee und ihrer putschistischen Mentalität zu entziehen. Inzwischen hat aber die neue Bourgoisie der AKP ihren Einfluss ausgeweitet und sich den Staat zu eigen gemacht. Die AKP verhält sich heute wie die Kemalisten damals: Sie will angepasste und gehorsame Bürger_in-nen und will von sozialer Dynamik nichts wissen.
Eine Person, die zehn Jahre alt war, als die AKP an die Macht kam, kennt keine andere Partei oder politische Kultur. Aber die Situation hat sich geändert. Die AKP ist autoritär, charismatisch, herrschend, sie befiehlt in allen gesellschaftlichen Bereichen, den Anordnungen eines Patriarchen folgend, der sich als Vater aller Türken in Szene setzt. Erdogan ist über alles auf dem Laufenden.
Die Demonstrationen für den Gezi-Park wurden zu einem Symbol und waren für viele Jugendliche ein Ausweg, eine Möglichkeit sich auszudrücken, Vertrauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen. Sie sind auf die Strasse gegangen, und haben die Demokratisierung der Gesellschaft verlangt; neue Bürger_in-nen, die in die Öffentlichkeit traten und neue, eigene Ideen vertraten. Ich vergleiche das mit 1968 in Frankreich, wo es nicht um eine politische Partei ging und wo es auch keinen greifbaren Erfolg gab, aber wo eine neue Kultur entstand, die sich in den Jahren nach '68 ausgebreitet hat. Eine Vielfalt öffentlich geäusserter Gedanken. Im Gezi-Park gab es eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Wortmeldungen, die sich gegen die Omnipräsenz des Staates und die Repression richteten.
Dieser vielfältige Ausdruck einer Bewegung hat sich bei den Wahlen in der HDP gebündelt, die für Koexistenz und friedliches Zusammenleben eintritt. Dazu gehören antikapitalistische Muslim_innen, viele Jugendliche, die ökologische Bewegung, die Linken, und alle, die eine Erneuerung der Gesellschaft wollen. Es war eine populäre demokratische Bewegung mit einer muslimischen Komponente. Die HDP mit Selahettin Demirtas wurde zu einer starken Konkurrenz für Erdogan. Für diesen war das unerträglich. Deshalb hat die AKP den Krieg gegen alles eröffnet, was ihre Alleinherrschaft in Frage stellen könnte. Der Krieg, die Konflikte und die Gewalt haben von Neuem die Gräben in der Gesellschaft, besonders zwischen Türk_innen und Kurd_innen, vertieft. Innerhalb von nur 4 Monaten, von den Wahlen am 7. Juni bis zu denen am 1. November, wurden die Kurden, die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und besonders die HDP durch eine massive Hetzkampagne in den türkischen Medien diabolisiert.2»
Asli Dogan, Sängerin der Istanbuler Gruppe Kolektif Istanbul
«Viele Leute wurden während der Verteidigung des Gezi-Parks stark politisiert. Ich selbst bin kurz nach dem letzten Militärputsch 1981 geboren. Vor Gezi nannte man uns die unpolitische Generation, wir wurden unpolitisch erzogen und die meisten waren es auch. Es war ein magischer Moment. Menschen ganz verschiedenen Alters und politischer Ansichten haben sich versammelt, um für eine gemeinsame Sache und gemeinsame international anerkannte Werte zu kämpfen. Die meisten kamen zum ersten Mal zusammen; Atheist_in-nen haben Muslim_innen während ihres Gebetes beschützt, Kurd_innen haben Seite an Seite mit Türk_innen gegen die Polizei gekämpft. Das waren Dinge, die wir uns vorher überhaupt nicht vorstellen konnten. Auf ganz persönlicher Ebene haben sich Menschen verändert, und es sind unter ihnen bleibende Brücken entstanden. Selahettin Demirtas und die HDP haben einen riesigen Schritt gemacht. Wenn wir bei dem Wahlergebnis vom 7. Juni geblieben wären und mit dem Parlament und dem damals herrschenden sozialen Klima weitergemacht hätten, wäre alles anders gekommen, viel besser als es heute ist. Alles, was zwischen den beiden Wahlen geschehen ist, hat Demirtas und die HDP gezwungen, sich zu radikalisieren. Dadurch hat ihre Stimme für den Frieden an Kraft verloren. Demirtas hatte gesagt, wir seien die letzte Generation, mit der ihr Frieden schaffen könnt. Ich hatte nie Hoffnungen mit diesem Land verbunden, aber die Bewegung um die HDP gab mir zum ersten Mal Hoffnung. Ich denke, dass diese Zeit zu Ende ist. Wenn Krieg herrscht, verliert das Wort seinen Sinn.
Was jetzt im Osten des Landes passiert und das Schweigen der restlichen Türkei, zerstört die Brücken und die Herzen der Kurd_innen, die sich allein gelassen fühlen. Ich kann nicht hinnehmen, dass eine so starke Armee, eine der grössten auf der Welt, sich organisiert, um die zivile Bevölkerung in meinem Land anzugreifen. Wir sind ziemlich verzweifelt und wissen nicht, was wir tun können.»
Rückkehr zum Krieg
Seit Juli führt die türkische Armee Militärschläge auch ausserhalb der Grenzen durch, vor allem in Syrien, aber auch in den Bergen im Norden des Irak. Die Türkei hat zwar erklärt, dass sie sich an der Allianz gegen den Daech (den sogenannten «Islamischen Staat») beteiligt, aber alle wissen, dass ihr eigentliches Ziel die Kurd_innen sind, um die Bildung einer neuen autonomen Region um jeden Preis zu verhindern.3
Diese Rückkehr zum Krieg, nach einer langen Periode des Waffenstillstandes hat junge revoltierende Kurd_innen in vielen Städten im Süd-Osten des Landes gedrängt, darauf zu antworten.4 Ihr erklärtes Ziel ist es, in einigen Stadtteilen «befreite Zonen» zu schaffen.
Es ist praktisch unmöglich, verlässliche Informationen darüber zu erhalten, was in diesen Gebieten genau passiert. Offiziell stehen sie nicht unter Ausnahmezustand, aber es herrscht eine völlige Unsicherheit über ihren rechtlichen Status, und die Verwaltung der Provinzen handelt nach ihrem Gutdünken. Viele kurdische Bürgermeister wurden ihres Amtes enthoben und eingesperrt5. Nach Angaben der Zeitung Hurriyet wurde seit dem 22. Juli der Ausnahmezustand über 17 Distrikte in 7 Provinzen verhängt. Einzelne Orte stehen regelrecht unter Belagerung wie zum Beispiel der Stadtteil Sur in Diyarbakir und die Stadt Cizre. Von den 24'000 Einwohner_in-nen des Stadtteils Sur sind nur noch 2'000 zurückgeblieben. Mehr als 100'000 Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Es heisst, dass Hunderte getötet wurden, darunter mindestens 50 Kinder. In Wirklichkeit sind es wahrscheinlich weit mehr! In seiner Neujahrsrede versprach Erdogan, das Land von allen Rebell_innen der PKK zu «säubern», und er brüstete sich damit, im Jahr 2015 3'000 von ihnen «erledigt» zu haben.
Die Gewalt ist nicht auf die kurdischen Gebiete beschränkt. Alle Demonstrationen hier in Istanbul werden brutal unterdrückt und eine sehr angespannte Stimmung verbreitet sich zwischen den verschiedenen Gemeinschaften. Während unseres Aufenthaltes fanden sich Freund_innen von uns in einer Demonstration von Kurd_innen wieder, die von der Polizei in den Stadtteil Topane getrieben wurden. Dort sind Händler_innen und andere Ein-wohner_innen auf die Strasse gegangen und haben brutal auf die jungen Demonstrant_innen eingeprügelt. Unsere Freund_innen, die Zeug_innen davon waren, haben die Polizei gerufen und selber einen Krankenwagen organisiert, damit die schwer verletzten Demonstrant_innen herausgeholt und verarztet werden konnten.
Cengiz Aktar, Politikwissenschaftler in Istanbul:
«In Istanbul leben 3,5 bis 4 Millionen Kurd_innen, insgesamt lebt ungefähr die Hälfte der kurdischen Bevölkerung im Westen des Landes. Es ist schwer vorauszusagen, wie sich diese mit Gewalt betriebene Befriedung der kurdischen Frage weiter entwickeln wird. Es ist alles möglich, aber der radikale Teil der politischen Bewegung wird bleiben, er kann sich zu einer Stadtguerilla entwickeln oder es kommt zu einer Abspaltung, alles ist möglich. Es entsteht eine offensichtliche Trennung zwischen Kurd_innen und Türk_innen, für die es keine einfache Lösung mehr gibt. Ich sehe eine Parallele zu dem Konflikt zwischen Kosovo-Albaner_innen und Serb_innen. Er hat zu einer Trennung geführt. Diese Trennung wird vor allem von den Kurd_in-nen angestrebt. Ihre Integration in die Türkei war ein Misserfolg. Man kann sie nicht mehr mit Supermärkten, wo es alles zu kaufen gibt, oder mit modernen Wohnblöcken besänftigen. In der Regierung sitzen nicht gerade politische Leuchten, man kann eher sagen politische Tiere, ohne jede politische Vision, die nichts von der Lösung von Konflikten und Soziologie verstehen. Im Fall einer Abspaltung könnte es wie in Jugoslawien zu antikurdischen Pogromen kommen; in den Städten im Westen werden sie nicht gerne gesehen und versuchen deshalb nicht aufzufallen, bis hin zur Leugnung ihrer kurdischen Zugehörigkeit.
Das Regime gibt vor, alles zu wissen und das kurdische Problem auf seine Weise zu regeln. Es verteilt weiterhin Geschenke in Form verschiedener materieller Begünstigungen wie zum Beispiel die finanzielle Unterstützung von Familien oder die bevorzugte Erteilung von staatlichen Aufträgen an die Reichsten. Es ist ein massloser Klientelismus, der schlussendlich zu einem gut funktionierenden System wird. Ich glaube, dass die Türkei ein leuchtendes Vorbild und Modell für den arabischen Frühling war, heute aber zu einer nahöstlichen Diktatur geworden ist, die nach dem Motto funktioniert: «Halt den Mund und konsumiere.» Eine Konsumgesellschaft, die sich über alle Fragen der Umwelt hinwegsetzt, wie eine Konsumfurie, mit einem völlig wackligen Wirtschaftssystem, das sich beinahe ausschliesslich auf den Bausektor abstützt.
Ist dieses System auf Dauer tragbar und lebbar? Ich glaube es nicht. Es wird wie alle Diktaturen und autoritären Regime eines Tages zusammenbrechen. Man weiss aber nicht, wann und wie. Jedenfalls steht die Türkei vor grossen Problemen.
So kann man die Dinge heute nicht mehr angehen - als autoritäre Regierung, die sich nur auf Grund ihrer Macht überall durchsetzt, das funktioniert nicht mehr, wir leben im 21. Jahrhundert. Früher oder später fliegt das alles auseinander. Dieses Land hat sehr finstere Monate, wenn nicht Jahre vor sich. Viele Menschen verlassen die Türkei: diejenigen, die die Mittel dazu haben, die Jugendlichen, aber auch die Gebildeten. Die Bevölkerung ist sehr verunsichert, das politische Klima ist ungesund und krank und das wirtschaftliche Klima ist nicht besser.»
Die Ereignisse im Januar haben das autoritäre Abgleiten Erdogans und der AKP bestätigt. Diese hat hasserfüllt auf die Petition von beinahe 1'200 Intellektuellen, besonders Akademiker_in-nen aus der Türkei und dem Ausland, reagiert. Sie verlangen von der Regierung, die militärischen Aktionen gegen die kurdischen Städte abzubrechen, sie prangern diese als ein «Verbrechen» an und sprechen von dem «Massaker» an kurdischen Zivilist_in-nen. Der Präsident hat die Unterzeichner umgehend der «terroristischen Propaganda» bezichtigt und spricht von Hochverrat. Die Zeitung Hurriyet schrieb am 16. Januar 2016, 130 Intellektuelle würden bereits angeklagt und 18 seien verhaftet worden.
Ferhat Kentel
«Ich denke, es ist wichtig, dass ich und andere nicht aufhören, von der Hoffnung zu sprechen, die wir empfunden haben. Ok, es gibt die Faschist_innen und die Schläger der Rechtsextremen oder in der Polizei, es gibt aber auch eine Bevölkerung, Vereinigungen und viele Einzelne, die leben wollen und sich anders artikulieren wollen, die die Sprache des Friedens stärken wollen. Sie müssen wir vertreten und schützen, denn ich will nicht in Fatalität verfallen.»
- Gezi ist ein bewaldeter Park im Zentrum Istanbuls, direkt neben dem bekannten Taksim-Platz, eine Besonderheit in der Stadt, da sie sonst sehr wenige Grünflächen hat. Präsident Erdogan hatte beschlossen, an seiner Stelle ein grosses Einkaufszentrum bauen zu lassen. Die Protestbewegung dagegen begann im Mai 2013 und hat sich in Windeseile ausgebreitet, bis sie mit Gewalt wieder unterdrückt wurde.
- Nach Angaben der französischen Zeitung «Le Monde» hatten die verschiedenen Parteien während des Wahlkampfes im vergangenen Oktober folgende Präsenz in der staatlichen türkischen Radio- und Fernsehanstalt: AKP - 30 Stunden; Präsident Erdogan persönlich - 29 Stunden; CHP, die kemalistische sozialdemokratische Partei, grösste Oppositionspartei - 5 Stunden; MHP, die ultra-nationalistische Partei - 70 Minuten; HDP - 18 Minuten.
- Die Verbindungen der türkischen Regierung und Armee zum Daech sind bereits gut dokumentiert. Vor kurzer Zeit wurden der Chefredakteur und ein Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet verhaftet und eingesperrt, nachdem die Zeitung Informationen und ein Photo veröffentlicht hatte, die einen Lastwagen der türkischen Armee mit Waffen für den Daech zeigen. Gespräche zwischen türkischen Offizieren und Mitgliedern des Daech konnten aufgenommen werden. Die Türkei gehört zu den Ländern, in denen die zahlreichsten Verhaftungen von Journalist_in-nen vorkommen.
- In den offiziellen Erklärungen und in den Medien wird der Konflikt immer als Krieg der PKK dargestellt und die Toten werden alle als Terrorist_innen der PKK aufgeführt. Allem Anschein nach kontrolliert diese Organisation, die hauptsächlich in den Bergen und ländlichen Gebieten besteht, kaum die Ereignisse in den Städten. Demnach handelt es sich viel mehr um spontane Reaktionen der Bevölkerung, die über die gewalttätige Repression aufgebracht ist. Unter den Opfern sind viele alte Menschen, Frauen und Kinder.
- siehe Bulletin «info-Turk» aus Brüssel, Januar 2016: www.info-turk.be.