Im Monat Mai haben wir unseren alten Freund Hüseyin Yildirim «zurück nach Hause» begleitet. Er ist aus Dersim, einer Stadt und einer Region im türkischen Teil von Kurdistan, gleich weit vom Schwarzen Meer wie von der syrischen Grenze.
Wir kennen Hüseyin seit 1983. Nach dem Militärputsch 1980 wurden Hunderttausende von Menschen ins Gefängnis geworfen und mehrere Tausend von ihnen zum Tode verurteilt oder zu Tode gefoltert. Hüseyin war einer von drei Anwälten, die den Mut hatten, Anhänger der PKK vor den Militärgerichten zu verteidigen. Die marxistisch-leninistische PKK (Kurdische Arbeiterpartei) trat für die Unabhängigkeit Kurdistans ein, hatte aber damals noch nicht den bewaffneten Kampf aufgenommen. Hüseyin wurde selbst inhaftiert und gefoltert. Durch internationalen Druck kam er wieder frei und fand politisches Asyl in Schweden. Danach fuhr er durch Europa, um über die Geschehnisse in der Türkei zu informieren. So haben wir ihn kennen gelernt.
Alewitische Kurden und Armenier
Hüseyin ist ein echter Dersimi, also ein sturer Kopf. Die Gegend um Dersim ist hügelig und von hohen Gebirgen von über 3.000 Metern umgeben. Die Bevölkerung ist dafür bekannt, dass sie sich in der Geschichte nie einer Zentralmacht freiwillig unterworfen hat, weder den Osmanen noch dem türkischen Staat. Ihre Sprache ist Zaza, die sich von der Hauptsprache der Kurden, Kurmandschi, wesentlich unterscheidet. Die meisten Türken sind sunnitische Muslime, die meisten Kurden alewitische Chiamuslime. In Dersim haben sie aber besondere religiöse Bräuche, die auch von den christlichen Armeniern beeinflusst wurden. Während Jahrhunderten lebten hier Kurden und Armenier in Eintracht. Sie teilten sich oft die Kultstätten, die überall in der Natur verstreut liegen: an einem Felsen, bei einer Quelle oder an einem Grab. Im Ersten Weltkrieg, als das Osmanische Reich gegen Russland und die Westmächte um sein Überleben kämpfte, wurden 1.5 Millionen Armenier innerhalb von einigen Monaten ermordet oder vertrieben. Die Kurden in Dersim haben sich geweigert, ihre Nachbarn ans Messer zu liefern. Sie versteckten sie, halfen ihnen nach Russland zu fliehen, und retteten mehreren tausend Armeniern das Leben.
Dersim heute
Hüseyin hat uns viel über Dersim erzählt. Es erstaunt uns dennoch, dass die Stadt so modern aussieht. Verstreut auf den vielen Hügeln liegen Wohnblöcke von fünf bis acht Stockwerken mit bequemen Wohnungen und Sonnenkollektoren für Warmwasser auf den farbigen Dächern. Jemand sagt: «Hier gibt es viel Arbeitslosigkeit und ein Mensch arbeitet für zwanzig andere. Aber wir alle haben jemanden im Ausland. So kommen wir über die Runden.» Nur am Rande stehen einige alte niedrige Häuser mit kleinen Ställen für Hühner, Ziegen oder ein paar Kühe. Die Stadt hat neuerdings eine Universität mit etwa 6.000 Studenten. Moderne Kleinbusse sichern den öffentlichen Transport.
Die ultra-liberale Politik der konservativen AKP-Regierung, seit 2002 an der Macht, hat einen grossen Aufschwung im Bausektor und erhöhten Wohlstand gebracht. Anfänglich hatte sie einige soziale Reformen und gewisse Verbesserungen für die Kurden eingeführt. Sogar Hüseyin war davon begeistert. Die etwa 15 Millionen Kurden (von einer Gesamtbevölkerung von 76 Millionen Menschen) dürfen jetzt ungestraft ihre Sprache verwenden, und Präsident Erdogan schwenkt den Koran auf Kurmandschi als Wahlpropaganda. Die Sprache wird aber nicht in den Schulen unterrichtet und weitere Reformen sind ausgeblieben.
30.000 Einwohner und wie viele Soldaten?
Beim morgendlichen Teetrinken wird die Idylle durch einen Höllenlärm unterbrochen. Ein schwarzer Militärhubschrauber fliegt tief über der Stadt. Das geschieht jeden Tag mehrere Male. Gleich in unserer Nähe liegt ein riesiges Militärlager und am Hügel steht in grossen Buchstaben: «Wir sind stark, furchtlos und immer bereit». Hier hausen die Spezialeinheiten, die auf Provokation und Repression trainiert sind. Die Stadt ist tatsächlich von Militärlagern eingekreist und nahe an den Wohnquartieren befinden sich unzählige und moderne Polizeiposten, von hohen Zäunen und gesicherten Toren geschützt. Die Polizei patrouilliert in gepanzerten Fahrzeugen und nur die Verkehrspolizisten treten in Uniform auf die Strasse. Die Soldaten zeigen sich nie.
Die Stimmung in der Stadt erscheint uns aber entspannt. Hier gibt es keine Einkaufzentren, nur viele kleine Läden und Werkstätten. Auf improvisierten Ständen wird wilder und schön saurer Rhabarber zum Sofortessen feilgeboten. Ältere Männer sitzen überall herum, sie diskutieren und trinken Tee. Viele von ihnen gehen auf Hüseyin zu, um ihn zu begrüssen. Obwohl er so lange nicht hier gewesen ist, haben sie diesen ehrwürdigen und eleganten Herren von 80 Jahren nicht vergessen. In jeder Familie gibt es jemanden, den er verteidigt hat.
Zuerst Dersim, dann Tunceli
Am Eingang aller öffentlichen Gebäude thront der Gründer der türkischen Republik, Mustapha Kemal, der sich selbst Atatürk – Vater der Türken – nannte, als er 1923 die Macht übernahm. Auf einem schönen Platz oberhalb des Flusses Munzur dreht eine Statue dem gegenüberliegenden Hügel den Rücken zu. Dort liegt das Militärlager, von wo die Helikopter abheben. Der alte Mann aus Stein ist Sayyit Riza, Oberhaupt eines kurdischen Klans. Um die Türkei in einen modernen Nationalstaat, mit «einem Volk, einer Sprache und einer Kultur» umzuwandeln, entschied die Regierung Atatürk 1935, die Kurden massenweise umzusiedeln. Die Bevölkerung von Dersim lehnte sich dagegen auf. Ein Ausnahmegesetz, Tunceli (die Bronzehand) genannt, wurde deshalb verabschiedet. Sayyit Riza, 81 Jahre alt und einer der Anführer der Rebellion, wurde 1937 in eine Falle gelockt und ermordet. Darauf folgte ein Blutbad, in dem mehr als 40.000 Kurden ihr Leben verloren. Seither steht der Name Tunceli auf jeder Karte und jeder Ortstafel. Die Einwohner hingegen benützen noch immer den tausendjährigen Namen Dersim (Silberpforte), entstanden in Zeiten der Perser, die hier Silberminen ausbeuteten.
Hüseyin hat als kleines Kind diese Ereignisse miterlebt, aber erst lange danach erfahren, was damals wirklich passiert ist. Seine Familie kehrte 1938 in ihr Dorf zurück, das am Rande einer riesigen und schönen Bergwiese lag. Dort gibt es heute einen kleinen Friedhof mit Gräbern von Kurden und Armeniern und einen grossen Stein mit Kerzen und Opfergaben. Vom Dorf gibt es keine Spur mehr. Eine andere Katastrophe hat alles vernichtet.
1984 nahm die PKK den bewaffneten Kampf auf, zuerst in der Gegend mit den Grenzen zu Syrien, dem Irak und dem Iran. Die türkische Armee setzte Hunderttausende von Soldaten ein und mobilisierte lokale «Dorfwächter», um die Bevölkerung zu «schützen». Die Repression wurde mit allen Mitteln durchgeführt und jagte die Menschen wieder in die Flucht. Ab 1994 suchten die PKK-Kämpfer in den grossen, alten und seltenen Wäldern von Dersim Zuflucht. Wieder konnte die Armee nicht auf die Zusammenarbeit mit der Lokalbevölkerung zählen. Sie steckte den Wald im Brand. Das Feuer dauerte monatelang und Tausende von Dörfern und Weilern wurden ausradiert. Diesmal kamen die Einwohner nicht mehr zurück. Die Bergebenen sind kahl und nur einige alte Menschen leben noch von ein bisschen Viehzucht. Die Kurden sind Stadtbewohner geworden. Heute leben mehr Kurden in den grossen Städten im Westen der Türkei (und im Ausland) als in Kurdistan.
Wahlkämpfe
Dieser Krieg, der jederzeit neu ausbrechen könnte, hat mindestens 50.000 Menschenleben gekostet. Mehrmals wurden Verhandlungen zwischen der PKK und den Behörden eingeleitet, ohne dauerhaften Erfolg. Die PKK wird auch heute noch als Terrororganisation eingestuft. Während ruhigen Perioden sind mehrmals kurdische Parteien gegründet worden, um sehr schnell wieder verboten zu werden. Für die Parlamentswahlen in Juni 2015 konnte sich aber eine neue Partei, die HDP (Demokratische Volkspartei), aufstellen. Sie versteht sich als Vertreterin aller Minderheiten der Türkei, nicht nur der Kurden und anderer ethnischen und religiösen Minderheiten, sondern auch der sexuellen Minderheiten, der Umweltschützer, der Kleinbauern, der Gewerkschafter. Die Hälfte ihrer Kandidaten sind Frauen und viele von ihnen waren schon im Gefängnis. Wegen ihres entspannten und offensiven Auftretens haben sie die Begeisterung vieler Wähler erwecken können.
Das spüren wir auch in Dersim. Hüseyin diskutiert viel und gern, vor allem mit jungen Menschen, über Politik und über die Geschichte der Kurden. Viele von ihnen haben keine kurdische Sprache gelernt. Es geht lebhaft zu. Die AKP, die Partei von Präsident Erdogan, hat auch unter den Kurden viele Anhänger. Ihre 13-jährige Regierungszeit war durch eine gewisse Stabilität geprägt und die traditionelle Machtstellung des Militärs wurde geschwächt. Erdogan benützt diese Argumente, um die Wähler davon zu überzeugen, dass die Rolle des Präsidenten gestärkt werden muss. Um dies legal zu erreichen, müsste die Verfassung geändert werden. Falls die HDP die 10 Prozent der Stimmen nicht erreicht, die ihr den Einzug ins Parlament sichern, übernimmt die stärkste Partei, die AKP, alle ihre Mandate und so könnte sie die Änderungen im Alleingang vornehmen. Der Wahlkampf ist deswegen dramatisch. Zahlreiche Wahlkampflokale der HDP werden angegriffen und Hunderte von Menschen getötet oder schwer verletzt.
Nach unserer Abreise
Die Wahlen sind zu Ende. Die HDP hat über 13 Prozent der Stimmen und 80 Sitze gewonnen. Die AKP kann nicht mehr allein regieren und ist jetzt (Anfang Juli) daran, einen Koalitionspartner zu suchen. Der wahrscheinlichste Kandidat ist die faschistische und anti-kurdische Partei MHP. Falls die Verhandlungen scheitern sollten, werden im Herbst neue Wahlen stattfinden. Erdogan glaubt, dass er dann seine Wählerschaft zurückgewinnen könnte. Die Situation der Türkei ist aber heikel. Wegen ihrer strategischen Lage und ihrer starken Armee (1,2 Millionen Soldaten) ist sie ein wichtiges NATO-Mitglied. Der Islamische Staat, ISIS, ist schon ihr Nachbar. Die stärksten Widersacher von ISIS sind aber die Kurden, unter anderem die PKK, mit der Unterstützung der Westmächte. Von der Türkei aus werden Waffen und neue Toyotas an ISIS geliefert. Gleichzeitig leben zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Erdogan hat mehrmals erklärt, dass ihm ISIS als Nachbar lieber ist als ein kurdisches autonomes Gebiet. Vor kurzem hat er der Armee vorgeschlagen, gegen beide – ISIS und die Kurden – in den Krieg zu ziehen. Bis jetzt hat die Armee Nein gesagt. Ein türkischer Kommentator stellt die Frage: Ist unser Präsident verrückt genug, um einen Krieg zu starten, dessen Konsequenzen niemand überschauen kann, mit dem einzigen Ziel, die Unterstützung des Volkes zurück zu gewinnen?
Hüseyin wollte eigentlich in der Türkei bleiben. Er hat sich aber anders entschieden und ist nach Schweden zurückgekehrt. «Ich will meine Memoiren fertig schreiben», hat er uns gesagt.
Bemerkung der Redaktion: Die Autorin hat im Artikel auf die weibliche Schreibform aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.