Auf dem Saatgut-Festival von Peliti 1 haben wir Julia Bar-Tal von einem landwirtschaftlichen Kollektiv bei Berlin getroffen. Sie erzählt uns von ihrem Engagement mit Flüchtlingen und Bewohner_innen aus Syrien und zeigt uns, dass konkretes Handeln auch in scheinbar ausweglosen Situationen möglich ist.2
Ich habe seit langem ganz enge Verbindungen zum Mittleren Osten, nach Palästina, während dem Irakkrieg und zu den internationalen Solidaritätsbewegungen. Ich war auch früher schon in Syrien. Als in Syrien die Revolution ausgebrochen ist, war dort während sechs Monaten eine tolle, beeindruckende Bewegung, über die kaum berichtet wurde. Die Syrier_innen haben keinen Tropfen Solidarität abbekommen, aber gleichzeitig die massivste Gewalt als Antwort auf ihre Proteste gekriegt. Während sechs bis zwölf Monaten haben sie es geschafft, diese Proteste trotzdem in ganz Syrien gewaltfrei zu halten, obwohl auf jeden Protest hin Leute ermordet wurden. Dann wurde das Ganze zu einem bewaffneten Konflikt, auch von Seiten der revolutionären Bewegung. Erst dann fingen die Mainstream-Medien an, darüber zu berichten, und ganz schnell gab es eine Polarisierung. Auf der einen Seite die angeblichen Islamisten und auf der anderen Seite das Assad-Regime, und wir müssten uns entscheiden zwischen dem einen oder dem anderen Übel. Diese Narrative hat mich wahnsinnig geärgert, mich hat auch die mangelnde Solidarität geärgert. Als Aktivist_innen waren wir auch gar nicht schnell und wussten nicht wie wir agieren können. Ich habe mich entschieden, einfach nach Syrien zu gehen. Wenn du dich wirklich mit Syrien beschäftigst, dann lernst du, dass es in ganz Syrien eine unglaublich beeindruckende Zivilgesellschaft gibt. In den befreiten Gebieten organisieren die Leute selber Schulen, medizinische Versorgung, Lebensmittel. Aber die Gewalt, die Bombardierungen sind massiv! Da habe ich den Ausdruck Carpet-bombing3 verstanden. Ich bin über die Türkei eingereist. Jetzt sind inzwischen fast 10 Millionen Menschen vertrieben, innerhalb und ausserhalb, davon ganz viele in die Türkei. Wir haben sofort Syrier_innen an der Grenze in der Türkei kennengelernt. Viele von ihnen organisieren humanitäre Hilfe. Zum Beispiel gibt es in der Türkei überall selbstorganisierte Care-Centers für die Schwerverletzten in dafür gemieteten Häusern. Ich habe gleich Leute kennengelernt, und wir sind dann gemeinsam über die Grenze hinübergeschlichen.
In den Flüchtlingslagern
Innerhalb von Syrien, an der Grenzlinie entlang, sind überall Flüchtlingslager. Da kommen die Leute angeströmt und stranden an der Grenze. Du begreifst das Ausmass erst, wenn du dort bist, wenn du diesen massiven Exodus siehst. Nur ein paar Minuten zu Fuss liegt die Türkei hinter dir, und du triffst auf ein erstes Camp mit 35.000 Menschen. 5 Kilometer weiter ist das nächste Camp mit inzwischen 15.000 Leuten. Und dann ein drittes, das ganz neu entstanden war, mit fast 5.000 Leuten, wo es gar keine Zelte gab. Es war im Januar und wahnsinnig kalt, die Leute lebten im Matsch. Es gab kaum was zu essen und keine medizinische Versorgung. Dort haben wir wieder Leute kennengelernt. In Syrien kann ich natürlich nicht alleine reisen. Du kannst eine Strasse entlangfahren - da können aber die Scharfschützen vom Regime hinschiessen. Du musst wirklich ganz genau wissen, welche Strasse du nehmen kannst.
Es ging erst mal gar nicht primär um Landwirtschaft. Ich wollte einfach die Situation begreifen; wie arbeiten die Leute, was wünschen sie sich für eine Unterstützung? Natürlich sehe ich ganz automatisch diese Situation auch als Landwirtin. Zum Beispiel wurde gerade die grösste militärische Airbase der Region befreit, und als wir dort durchfuhren, waren die Bauern sofort wieder auf den Feldern. Das hat mich überall in Syrien wahnsinnig beeindruckt, wie die Leute die ganze Zeit das Leben aufrechterhalten. Nahrungsmittel sind ein ganz zentraler Punkt. Die Menschen hungern massiv und inzwischen verhungern Leute in Syrien. Gerade in den Gebieten, die das Regime systematisch belagert und abriegelt. Zum Beispiel Jarmuk, das palästinensische Flüchtlingslager -7 km vom Zentrum von Damaskus entfernt - ist seit über zwei Jahren belagert. Da sind inzwischen um die 200 Leute verhungert. 18.000 Menschen sind immer noch dort und alle sind massiv unterernährt. Seit letztem Jahr ist auch noch das Wasser abgedreht worden. Mehrere Städte in verschiedenen Regionen Syriens sind von aller Versorgung abgeschnitten.
Versuchte Selbstversorgung
Ich war mehrere Male in Syrien. Dann kam die Initiative von Leuten aus Jarmuk, die gesagt haben: «Wir müssen uns hier versorgen, wir müssen irgendwie Gärten machen. Wir haben als total städtische Leute aber gar keine Erfahrung im Gärtnern.» Sie wussten, dass ich Landwirtin bin. Wir haben uns zusammengesetzt und überlegt. Zuerst ging es um zwei Gärten in Jarmuk. Das hat sich dann aber wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und innerhalb von weniger als einem Jahr ist in ganz Syrien ein Netzwerk von Nahrungssouveränitätsprojekten entstanden. Das sind Stadtgärten in belagerten Städten, aber auch landwirtschaftliche Projekte in ländlichen Regionen. Als uns viele Leute überall in Syrien angesprochen haben, dachten wir, dass das wirklich eine Aufgabe ist, für die wir uns als internationale Aktivist_innen der Bewegung für Nahrungssouveränität engagieren können. Diese Idee hat sich wahnsinnig ausgebreitet. Die Leute in Syrien sind sehr wohl vernetzt. Es ist so beeindruckend, was die Leute in Syrien leisten, obwohl die Situation mit den Bombardierungen und den fehlenden Kommunikationsmitteln so schlimm ist. Ein grosser Teil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu Internet und zu Telefon. Wir treffen uns alle zwei, drei Monate, irgendwo an der Grenze im Libanon oder in der Türkei, und die Leute, die es schaffen, sich aus ihren Gegenden herauszuschleichen, kommen und stellen ihre Projekte vor. Andere Leute in den belagerten Städten versuchen per Skype teilzunehmen. Die Projekte sind sehr unterschiedlich. Im städtischen Raum fehlt oft die Erfahrung über die Grundlagen vom Gärtnern. Hier geht es darum, gärtnerische Fähigkeiten zu vermitteln. Im ländlichen Raum haben Leute viel Erfahrung, aber die Landwirtschaft ist schon stark industrialisiert.
Gezieltes Aushungern
Was Saatgut betrifft, hat das Assadregime den Bauern ein sehr zentralisiertes System aufgezwungen. Es gab viele Kleinbauern, aber das Saatgut wurde immer zentral eingesammelt. Es wurde unter Strafe gestellt, wenn man es nicht abgab. Menschen haben berichtet, dass diejenigen mit Folter und Verhaftung bestraft wurden, die versucht haben, Saatgut zu behalten. Das Regime hat auch aus einer sehr zentralagrarpolitischen Perspektive entschieden, welches Saatgut an wen gegeben wird, und was Leute wo anbauen. Viele Leute aus verschiedenen Regionen haben berichtet, dass sie, wenn ihre Region dem Regime zu aufmüpfig erschien, bestraft wurden. Das war zum Beispiel der Fall in kurdischen Gebieten, so dass sie minderwertiges oder gar kein Saatgut zurückbekommen haben.
Das Assadregime hat eine total industrialisierte und dem Westen zugewandte Agrarpolitik, die sich zunehmend auf Cashcrops4 stützt. In den letzten Jahren vor der Revolution wurden ganze Regionen zum Baumwoll-Anbau gezwungen. Das ging einher mit dem totalen Verbrauch der Grundwasserressourcen. Es gibt jetzt ganze Regionen, wo man aus 300 Metern Tiefe und mehr das Wasser hochpumpen muss. Regionen, wo die Bauern verarmt sind und wo die Leute in die Städte migriert sind, um Arbeit zu finden. Das waren oft die Städte, die auch als erste an der Revolution teilgenommen haben. Die Slogans der Demonstrationen waren «Brot und Würde».
Bei einem Krieg bricht diese industrialisierte Landwirtschaft sofort zusammen. Durch die Zentralisierung konnte das Regime sehr leicht den Hahn zudrehen. Das Getreide war zentralisiert gelagert, die Getreidemühlen waren staatlich. Selbst wenn es ein grosses Netzwerk von kleinen Bauern und vielen kleinen Bäckereien gibt, haben sie weder Zugang zu den Getreidelagerungen, noch zu den Mühlen. Also haben in ganz vielen Orten Leute selber kleine Mühlen organisiert, um Brot backen zu können. Dann gab es eine Phase, wo unglaublich viele kleine Bäckereien bombardiert wurden. Das war ganz schrecklich, Bomben wurden gezielt auf die Leute, die in Schlangen vor diesen Bäckereien standen, abgeworfen. Nahrung wird auf ganz vielen Ebenen als Waffe genutzt.
Wir müssen uns überhaupt weltweit diese Frage stellen, denn wir sind alle nicht sicher vor einer Krise oder einem Krieg in den Regionen, in denen wir leben. Wenn du das Grundwasser von 300 Metern hochpumpen musst, wenn du nur noch auf mineralische Düngemittel gesetzt hast und deine Böden nur mit industriellen Inputs produzieren, dann brechen diese Landwirtschaft und diese Nahrungsmittelproduktion sofort zusammen, sobald die Zufuhr von all diesen Inputs abbricht oder die Zufahrtswege dicht sind.
Biolandbau als Chance
Das ist es, was wir in vielen Regionen in Syrien erlebt haben. Ökologische Landwirtschaft ist also ein Bestandteil dessen, was wir gemeinsam auf den Workshops an der Grenze erarbeiten. Wie können wir uns möglichst schnell auf eine andere Landwirtschaft umstellen? Eine, die ohne Inputs funktioniert, die nachhaltig ist. Die auch funktioniert, wenn wir wegen der Kämpfe nicht jeden Tag zu unseren Feldern können, und die Pflanzen nicht sofort vertrocknen, weil sie nicht künstlich bewässert werden. Aus der Krise ist also eine Diskussion um ökologischen Landbau geboren.
Saatgut ist natürlich ein zentrales Thema. Ohne Saatgut geht gar nichts. Als Aktivist_innen- Netzwerk können wir nicht grössere Mengen Getreide einführen. Aber Gemüse ist etwas anderes. Als Bewegung haben wir seit langem Gemüsesaatgut ausgetauscht und wissen, wie man es vermehrt. Das können wir anbieten - Saatgut von möglichst vielfältigen Sorten. Das ist sofort sehr lebendig geworden. Die Leute haben dann auch dokumentiert, welche Sorten für sie gut funktionieren. Wie überall, wo die Landwirtschaft industrialisiert wurde, ist das Wissen verloren gegangen. Das ist ein zentraler Bestandteil dessen, was wir gemeinsam diskutieren - die verschiedenen Methoden, Saatgut zu vermehren. Wir treffen uns alle zwei, drei Monate an der Grenze und machen diese Ausbildungsworkshops. Ein anderes Ziel ist Anleitungen zu entwickeln, nicht nur zur Saatgutvermehrung, sondern auch Anleitungen über Anbau, Kompostierung, Fruchtfolge. In Syrien verbreiten jetzt Leute Gärtneranleitungen über die freien Radios. In Syrien gibt es ein tolles Netzwerk von selbstorganisierten Radios. Unsere Initiative, die sich Fifteenth Garden nennt, will bewirken, dass die Leute in Syrien uns ganz schnell überhaupt nicht mehr brauchen, dass sie dann ihre eigenen Arten kultivieren, vermehren und tauschen können.
Jetzt sammelt Peliti in ganz Griechenland Saatgut für Syrien. Das ist wichtig, weil Griechenland in der gleichen Klimazone liegt. Wir sammeln aber auch Saatgut in Deutschland, in Österreich… Jetzt sind Leute aus Frankreich dazu gekommen und werden diesen Sommer mit einem Freilicht-Kino herumfahren und dabei Saatgut und Geldspenden sammeln. Fifteenth Garden for Syria and all its people ist das erste Nahrungssouveränitätsnetzwerk in Syrien. Es ist natürlich antisektiererisch, und es endet auch nicht an den Grenzen Syriens. Es gibt auch Nahrungssouveränitätsprojekte in Flüchtlingslagern im Libanon, wo sie angefangen haben zu gärtnern. Es können auch Projekte mit Flüchtlingen in Europa sein. In Deutschland gibt es jetzt bei uns in der Nähe den ersten Biobetrieb, der von Flüchtlingen begonnen wurde.
Garten statt Schwarzmarkt
In Syrien gibt es jetzt hunderte Gärten mit ganz unterschiedlichen Strategien, weil die Situationen sehr unterschiedlich sind - Community gardens, Familiengärten -, die als Netzwerk zusammen arbeiten. Es gibt auch einige selbstverwaltete Schulen, die Gärten angefangen haben. Aus vielen Regionen haben wir Berichte bekommen, dass unser Saatgut einige Ernten, teilweise sogar grosse und erfolgreiche Ernten ermöglicht hat. In manchen Regionen ist es sehr wichtig, dass sie das Gemüse auch vermarkten können, weil ein Schwarzmarkt mit mafiösen Strukturen entstanden ist, der die Preise bestimmt. Da gab es das Feedback aus Regionen, dass erreicht wurde, die Preise für diese Gemüsearten wieder auf das Niveau von vor dem Krieg hinunter zu schrauben. Das ist sehr wichtig, wenn du dir vorstellst, dass ein halbes Kilo Reis 30 Dollar kosten kann. Es sind unglaubliche Preise, die die Leute natürlich nicht aufbringen können. Dann gibt es Orte, wo wegen der Sicherheitssituation kein Garten richtig angelegt werden kann, weil die Scharfschützen vom Regime die Leute beim Bewässern oder Gartenanlegen umbringen. Da entwickeln die Leute ganz andere Strategien und machen vielleicht die ganze Stadt zum Garten. Also wächst vielleicht in jeder Ritze eine Pflanze, aber man wird nie erkennen können, dass es einen gesammelten Garten gibt. In Kobane gibt es nach der Befreiung eine etwas feierlichere Stimmung. Kobane ist nicht nur eine Stadt, sondern eine ganze ländliche Region. Jetzt ist die Frühjahrsbestellung schon in vollem Gang.
Die Leute in Syrien haben wirklich unsere Solidarität verdient. Das ist eine sehr lebendige Gesellschaft, die ganz tolle Dinge leistet und gleichzeitig unglaublich um ihr Überleben kämpfen muss.