Nicole Maron hat Ende März 2015 die Flüchtlingslager in der syrischen Grenzstadt Suruç besucht. Ihre Reportage erzählt von den Wünschen, Ängsten und Hoffnungen der Menschen, die dort leben.
Wie ein Beweisstück hebt sie ihr Baby hoch und stellt es auf seine Füsschen. Noch nicht in der Lage, selbst zu stehen, wankt es hin und her und hält sich an den Händen der Mutter fest. Diese deutet mit einer Kopfbewegung auf die vernarbte und verwachsene Oberlippe der Kleinen. «Als die IS-Kämpfer sich unserem Dorf genähert haben, sind wir Hals über Kopf aufgebrochen. Da habe ich sie fallen lassen, voll aufs Gesicht.» Geschrieen habe sie wie am Spiess, als ob die Panik nicht schon gross genug gewesen sei. Zum Glück, Gott sei Dank, ist weiter nichts passiert – die Lippe wird wahrscheinlich operiert werden können, aber erst in ein paar Jahren, dann wird man nichts mehr sehen, insallah, hoffentlich, sagt Mutter Leyla, ihre Worte kullern nur so heraus, schnell und eindringlich, erfüllen das Zelt, doch dann fällt ihr ihre Schwester Seride ins Wort. «Wir hatten Glück, dass wir mit dem Auto fliehen konnten. Bis zur Grenze sind wir damit gekommen, doch wir durften es nicht mit hinüber nehmen. Wahrscheinlich benutzt es jetzt der IS.» Fast ungläubig schüttelt sie den Kopf, wenn sie daran denkt.
Fast zwanzig Mitglieder der Grossfamilie sind es, die seit Herbst 2014 in einem Flüchtlingslager in der türkischen Kleinstadt Suruç leben. «Zelt Nummer sechs ist mein Zuhause – mein Bruder lebt mit seiner Familie nebenan in Nummer drei», erklärt Seride. «Ein paar Reihen weiter vorne wohnen meine Schwester und ihr Mann.» Kinder rennen so viele herum, dass nicht ganz klar wird, wer zu wem gehört. Ahmed, das kleinste, ist hier in Suruç geboren – er mag es, wenn man Grimassen schneidet, und lacht dann lange und glucksend. Wie alt Serides Mutter ist, weiss sie nicht genau; zwischen sechzig und siebzig werde sie wohl sein, genau so wie der Vater, der aber nicht mit ihnen geflüchtet sei. «Er kämpft mit der YPG, um unser Dorf zu verteidigen», erzählt Seride und hebt dabei den Kopf voll Stolz. Angst haben sie auch um ihn, natürlich, aber sie telefonieren jeden Tag. «Er berichtet uns von der Lage drüben – ins Dorf sollen wir nicht kommen, sagt er, doch Kobane ist befreit.» Die syrisch-kurdische Stadt, die direkt an der türkischen Grenze liegt, wurde im September 2014 vom IS angegriffen. Ein Grossteil der Zivilbevölkerung verliess die Stadt, die kurdischen Verteidigungseinheiten der YPG/YPJ 1 kämpften fast fünf Monate lange um jede Häuserzeile, jede Strasse, jeden Hügel, bis sich der IS zurückzog. In zig Dörfern rund um Kobane geht der Krieg weiter – die Stadt selbst ist fast komplett zerstört: 80 Prozent der Gebäude bestehen nur noch aus Ruinen, ausserdem wurde praktisch die gesamte Infrastruktur zerstört. Doch dies hält die Familie nicht davon ab, ihre Rückkehr zu planen – und sie sind längst nicht die einzigen: Die Zeltstadt, in der sie leben, leert sich immer mehr. 200.000 Menschen waren es, die allein in Suruç Schutz gefunden hatten. Gut die Hälfte ist inzwischen zurückgekehrt – doch wie es weitergeht, wissen sie nicht genau. «Wir haben kein Haus mehr, keine Möbel, und all unsere Tiere sind tot», resümiert die ehemalige Bauernfamilie. «Wir wissen nicht, unter welchen Umständen wir dort leben werden. Doch wir werden gehen und unser Haus wieder aufbauen.» Wie viel Hoffnung und Kraft sie in ihre Zukunft setzen, ist beeindruckend und erschütternd – man merkt deutlich, dass man es mit Menschen zu tun hat, die nicht zum ersten Mal ihr Heim verlieren, Menschen, die schon ihr ganzes Leben lang verfolgt, unterdrückt und vertrieben werden.
Kriegslieder statt Kinderverse
Bis nach Kobane sind es bloss 15 Kilometer – 15 Kilometer und ein Grenzzaun trennen die Flüchtlinge von ihrer Heimat. «Wenn wir endlich dort sind, will ich helfen, die Stadt neu aufzubauen», sagt auch die 19-jährige Medya. Sie ist die älteste Tochter einer siebenköpfigen Familie und führt den Zelt-Haushalt mit selbstverständlicher Gastfreundschaft (…).
Bis der IS in Kobane eingedrungen ist, ist Medya zur Schule gegangen, dieses Jahr hätte sie das Gymnasium abgeschlossen. Jetzt gelten all ihre Träume dem Wiederaufbau – später möchte sie als Lehrerin arbeiten. «Angst habe ich keine», sagt sie leise, bestimmt und mit einem Blick, der keinen Zweifel lässt. Sie streicht ihre langen schwarzen Haare hinter die Ohren zurück und richtet die Schultern auf. «Nicht wenige meiner Schulfreundinnen sind zur Fraueneinheit YPJ gegangen und kämpfen nun gegen den IS. Dazu hat mein Mut leider nicht gereicht. Doch nun beginnt alles neu!» Diese Überzeugung teilt sie mit den meisten Flüchtlingen; ihre Hoffnung, dass Kobane auferstehen wird wie Phönix aus der Asche, ist unerschütterlich. Kobane ist zu einem Symbol geworden, eine «Zitadelle des Widerstandes», wie die Kurdinnen und Kurden sagen – ein geflügeltes Wort, das in unzählige Gedichte und Lieder aufgenommen wurde. Lieder, die die Kinder in den Flüchtlingslagern mit einer Inbrunst singen, die Gänsehaut auslöst.
Eine ganze Gruppe hat sich um zwei sechsjährige Mädchen versammelt, die sich trauen, etwas vorzutragen. Mit ernsten Gesichtern stellen sie sich auf, heben ihre Arme hoch und spreizen die Finger zum Victory-Zeichen, bevor sie beginnen: «Ach Kobane, oh Kobane, mit deinen Heldinnen und Helden, Tag und Nacht im Widerstand – du bist die Zitadelle des Widerstandes, du bist die Stimme Kurdistans!» Ihre Stimmen klingen heiser und kein Lächeln huscht über ihre Gesichter, auch wenn sie nur wenige Minuten vorher lachend herumgetollt sind. Schlagartig wird klar: Dies hier ist kein Spiel. Diese Kinder sind nicht mit Reimen und Abzählversen aufgewachsen, sondern mit Kriegsliedern.
Von Europa allein gelassen
Wenn Ramo sich auf den Boden setzt, die Beine im Schneidersitz, den Rücken an die Aussenmauer der alten Bulgurfabrik gelehnt, versammeln sich die kleinen Sängerinnen und ihre Freunde um ihn. Er ist so etwas wie der Dorfälteste des Lagers, mit seinem langen Gewand und dem rot-weissen Kufiya-Tuch auf dem Kopf eine respekteinflössende Erscheinung. Doch seine von Fältchen umrandeten Augen sind traurig. «Ich habe eine Frau und neun Kinder zu versorgen – wie soll ich das tun?» Das Dorf des 66-jährigen Bauern wurde zerstört – er hat kein Haus, in das er zurückkehren kann, keine Tiere, die sein Überleben sichern könnten. Anders als Seride hat er die Hoffnung aufgegeben. «Ich bin müde», sagt er, «müde von all der Anstrengung, am Leben zu bleiben. Wenn uns niemand hilft, weiss ich nicht wie es weitergehen soll.»
Für den Wiederaufbau von Kobane ist Geld nötig – viel Geld. Die Unterstützung der kurdischen Organisationen, Parteien und Stadtverwaltungen, die bisher das Leben in den Flüchtlingslagern aufrecht erhalten haben, wird nicht ausreichen. «Warum lässt uns Europa allein?» ist eine Frage, die man in den Flüchtlingslagern immer wieder hört. Denn dieses Gefühl, von allen vergessen zu werden, kennen die Kurdinnen und Kurden seit fast hundert Jahren – seit ihr Siedlungsgebiet 1923 in vier Teile geteilt wurde und sie fortan in verschiedenen Staaten als Minderheiten lebten, ein Volk von mindestens 40 Millionen Menschen, die ein zusammehängendes Gebiet von 500.000 Quadratkilometern bewohnen.
Die Menschen aus Kobane wünschen sich Unterstützung beim Wiederaufbau – nicht nur in Form von Geld; auch Spezialisten werden gesucht, etwa Fachleute für die Entminung. Denn der IS hat in der Stadt viele Minen gelegt, um sie unbewohnbar zu machen – unzählige Menschen, leider auch viele spielende Kinder, sind dadurch bereits umgekommen. «Ausser dieser direkten Hilfe wünschen wir uns auch, dass Europa politischen Druck auf die Türkei ausübt», betonen die Kurdinnen und Kurden. Als der IS Kobane angegriffen hat, hat die Türkei nämlich erst nach langem Zögern die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet, und nun kontrolliert sie die Lage, indem sie die Versorgung der Stadt behindert. Zwei Lastwagen mit Lebensmitteln täglich dürfen die Grenze passieren – für 100.000 Menschen. Baumaterial und Zelte dürfen überhaupt nicht ausgeführt werden. Doch die türkische Grenze ist der einzige Weg nach Kobane – auf allen anderen Seiten steht nach wie vor der IS.
*Nicole Maron ist Journalistin und Autorin mit dem Schwerpunktthema Flucht und Asyl. Mit der Geschichte der Kurden beschäftigt sie sich seit über 10 Jahren. 2014 erschien ihr Buch «Mutter, hab keine Angst», das die Geschichte einer kurdischen Flüchtlingsfamilie und ihrem Schweizer Exil erzählt. (Siehe Buchvorstellung in diesem Archipel)
- Die «Volksverteidigungseinheiten» YPJ und YPG (Yekîneyên Parastina Gel) sind eine bewaffnete kurdische Miliz in Syrien und kontrollieren verschiedene mehrheitlich kurdisch besiedelte Gebiete in Nordsyrien sowie Teile vorwiegend kurdisch bewohnter Viertel in Aleppo. Sie stellen eine De-facto-Armee in den kurdisch besiedelten Regionen Syriens dar.