SYRIEN: In Zeiten der Machtkonsolidierung

von Félix Legrand, CAREP, Paris, 09.06.2025, Veröffentlicht in Archipel 348

Dieser Artikel ist das Ergebnis eines Aufenthalts in Syrien von November 2024 bis Februar 2025 während und kurz nach dem Sturz des Regimes al Assads. Er wurde von unserem Freund Félix Legrand vor Ort verfasst. Im ersten Teil berichtete er über den Werdegang der islamistischen Miliz «Haiʾat Tahrir asch-Scham» (HTS) bis zur Machtergreifung. Im folgenden zweiten Teil beleuchtet er den schwierigen Übergangsprozess. 2. Teil

Der neue Regierungschef Ahmed al-Charaa der HTS befindet sich seit dem 8. Dezember 2024 in einer paradoxen Situation, in der seine Autorität sowohl innerhalb des Landes als auch ausserhalb unbestritten zu sein scheint, er sich aber gleichzeitig in einer besonders fragilen Position befindet, inmitten eines extrem fragmentierten und polarisierten politischen Umfelds. Er hält sich an der Macht dank eines Sieges, von dem er glaubt, er allein sei der Architekt, nach der von seinen Anhänger_innen oft verwendeten Formel: «Wer befreit, entscheidet» (min iharer iqarer), wobei er beinahe vergisst, dass dieser Sieg nur durch erhebliche Zugeständnisse seinerseits zustande kam. Denn nur so war es ihm gelungen, genügend Verbündete für die siegreiche Endoffensive zu finden. Darüber hinaus steht das Land weiterhin unter dem Einfluss zahlreicher Fraktionen, von denen einige an der Befreiung des Landes beteiligt waren und die ihre Bedingungen stellen, bevor sie einer Entwaffnung und Auflösung ihrer Strukturen zustimmen.

Auf schmalem Grat

Al-Charaa bewegt sich also auf einem Grat zwischen denen, die sich einer islamistischen, ausschliesslich sunnitischen und autoritären Herrschaft über den Staat widersetzen, und denen, die sich im Gegenteil durch die politischen Kehrtwendungen der HTS und die Abkehr vom Islamismus verraten fühlen. Zwar wurden die von vielen erwarteten Übergriffe während der Kämpfe bis zum 8. Dezember 2024 weitgehend vermieden, doch tauchen sie nun in den alawitischen Regionen an der Küste und in Homs in beunruhigender Weise auf. Oft autonom agierende und manchmal aus ausländischen Kämpfern bestehende Gruppierungen übernehmen auf chaotische Weise die Säuberung und Entwaffnung ehemaliger Regime-Mitglieder, und das, ohne dass ein Plan für eine Übergangsjustiz existieren würde. Während die neue Regierung bei einigen hochsymbolischen Themen – wie dem Entfernen der Flagge der «Schahada» (islamisches Glaubensbekenntnis) aus offiziellen Darstellungen und den angekündigten Änderungen der Lehrpläne – schnell nachgab, weicht sie bei anderen besonders wichtigen Themen nicht zurück – wie der Beibehaltung eines Justizministers, der während des Konflikts öffentliche Hinrichtungen und körperliche Strafen praktiziert hatte, oder der Ernennung ausländischer Kämpfer zu Offizieren der neuen Armee.

Hinzu kommt der Druck islamistischer Kreise, die sich betrogen fühlen und die Islamisierung von Staat und Gesellschaft sowie die Anwendung der Scharia beschleunigen wollen. Offensichtlich vergrössert sich der politische Spielraum seiner islamistischen Gegner umso mehr, je mehr Ahmed al-Charaa Zugeständnisse gegenüber der anderen Seite macht und seine politische Neuausrichtung fortsetzt. Seit dem 8. Dezember 2024 sieht er sich einem starken Druck seiner Basis ausgesetzt, welche die Freilassung der Gefangenen in Idlib fordert. Diese Forderungen stützen sich auf die folgende Tatsache: Während die Gefängnisse praktisch in ganz Syrien geöffnet wurden und die neue Macht eine umfassende Amnestie für die Militärs des alten Regimes verkündete, blieben die Gefangenen von Idlib weiterhin inhaftiert. Diese stammen oft aus konkurrierenden salafistischen und dschihadistischen Kreisen und hatten sich aber auch für die Eröffnung einer Front gegen Damaskus eingesetzt.

Neoliberal und autoritär?

Von wesentlicher Bedeutung für die allererste Phase des Übergangs ist natürlich die Gewährleistung der Sicherheit der Minderheiten – besonders in einem Land, in dem schwere Übergriffe stattgefunden haben sowie befürchtet werden und das nun von einer Gruppe regiert wird, deren Geschichte selbst von konfessioneller Gewalt geprägt ist. Und je weiter der Übergangsprozess voranschreitet, desto mehr rücken die Fragen des Autoritarismus, der Rechtsstaatlichkeit und der Wirtschaftspolitik in den Mittelpunkt. Auch wenn es noch zu früh ist, um eine echte Wirtschaftspolitik auszumachen, gibt es Hinweise in Richtung eines neoliberalen Übergangs, der bereits von Baschar al-Assad eingeleitet wurde und dessen Verbindungen zum Ausbruch des Aufstands im Jahr 2011 nicht mehr nachgewiesen werden müssen1. Angesichts der in Idlib unter der HTS getroffenen Massnahmen ist es sehr wahrscheinlich, dass Syrien in eine Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung eintritt, in der die Rolle des öffentlichen Sektors zugunsten des privaten Sektors und der NGOs reduziert wird. Es herrscht grosse Unsicherheit über das Schicksal der zahlreichen Beamten und Beamtinnen, die bis zur Klärung der Situation ohne Gehalt beurlaubt wurden. Der Abbau der klientilistischen Netzwerke des alten Regimes scheint als Vorwand für eine Umverteilung der staatlichen Ressourcen und eine Entflechtung des öffentlichen Sektors zu dienen. Zudem gibt die Gefahr einer autoritären Machtkonsolidierung bereits Anlass zu grosser Besorgnis. Obwohl sie als Übergangslösung dargestellt wird, zeigt die Zusammensetzung der neuen Regierung den offensichtlichen Willen al-Charaas, die wesentlichen Hebel der Macht zu fixieren, indem er sich auf einen engen Kreis von Getreuen stützt. Die Spitzen der HTS monopolisieren die strategischen Positionen, während die alte Verwaltung entweder aufgelöst oder ihr eine HTS-treue Parallelstruktur nach dem Vorbild von Idlib zur Seite gestellt wird. Die der HTS direkt unterstellte «Verwaltung der befreiten Gebiete» (Idara al-Manateq al-Muharrara) existierte in Idlib neben der eher technokratischen Verwaltung der «Regierung des Heils». Nach dem 8. Dezember 2024 ermöglichte eine Struktur, die unter dem Namen «Verwaltung für politische Angelegenheiten» (Idara al-shuun al-siassiaya) bekannt ist, der HTS, die Kontrolle über den Staatsapparat auszuüben. Auch wenn die konkreten Auswirkungen davon bisher schwer zu messen sind, nähren einseitige Ernennungen, die damit gerechtfertigt werden, den Apparat von der Baath-Partei zu säubern, sowie die Aussicht auf eine strenge Massregelung des Vereinsrechts das Misstrauen gegenüber der neuen Regierung und die Angst vor einem Übergangsprozess, der mit der Konsolidierung einer autoritären Macht enden könnte.

Vorläufiges Fazit

Die wachsende Einflussnahme der HTS auf den syrischen Staatsapparat stösst selbst in revolutionären Kreisen auf Widerstand, wo bereits über eine «Korrekturbewegung» (Haraka Tas'hihiya) von Ahmed al-Charaa, in Anlehnung an die autoritäre Neuausrichtung von Hafez al-Assad im Jahr 1970, die Rede ist. Der schaltete dazumal zwar seine politischen Konkurrenten aus, verfolgte aber auch eine pragmatische Politik, die sich von den ursprünglichen Idealen der Baath-Partei entfernte. Es ist offensichtlich, dass die neue Macht in keiner Weise mit der Diktatur des vorherigen Regimes vergleichbar ist, dessen Sturz zweifellos ein Fortschritt ist. Dennoch ist diese Referenz nicht völlig unbegründet, da für die HTS die politische Neuausrichtung durch Pragmatismus mit einer autoritären Übernahme zusammenfällt, zunächst in Idlib und heute in gewissem Masse in ganz Syrien. Entscheidend wird jedoch die Fähigkeit der syrischen Gesellschaft sein, wie schon seit Beginn des Konflikts, sich selbst zu organisieren und wirksame Gegenkräfte aufzubauen, die in der Lage sind, die in Übergangszeiten so häufigen autoritären Auswüchse einzudämmen und die Errungenschaften der Revolution zu bewahren. Es sind diese Gegenkräfte, welche der HTS die politische Linie der Revolutionäre von 2011 (teilweise) aufgezwungen haben und zu einer tiefgreifenden Transformation gedrängt haben, die für den Sieg notwendig war. Die Rückkehr zu nicht konfessionellen Slogans und Symbolen, welche die Einheit des Landes fördern sollen, kann daher als Rückkehr zu den revolutionären Grundlagen nach fast einem Jahrzehnt konfessioneller Abweichungen angesehen werden.

Aber die politischen Errungenschaften der sogenannten «2011er-Linie» bleiben begrenzt und fragil. Die wenigen Versuche, lokale Räte wieder einzuführen, – die für die syrische Revolutionsbewegung charakteristischen Modelle der demokratischen Selbstorganisation – , bleiben angesichts der Kontrolle des Staatsapparats durch die HTS marginal. Darüber hinaus scheint die politische Transformation der HTS zwar abgeschlossen zu sein, doch ein Teil der Führungskräfte und der Basis bleibt, wenn auch nicht unbedingt in einer salafistischen Ideologie, so doch zumindest in einem gewissen sunnitischen Suprematismus verhaftet. Offensichtlich, und wie die schwierigen Erfahrungen des Arabischen Frühlings gezeigt haben, ist der Sturz des Regimes al Assads nur eine Etappe des revolutionären Prozesses, die zwar wichtig, aber unvollständig und zerbrechlich ist.

Félix Legrand, CAREP*, 19.02.2025

Die in dieser Publikation geäusserten Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Position des CAREP Paris wider.

*Centre arabe de recherches & d’études politiques (Arabisches Zentrum für politische Forschung und Studien), 12, rue Raymond Aron 75013 Paris, contact@carep-paris.org +33 (0)1 43 45 45 94

1. Anand Gopal, «The Arab Thermidor», Catalyst, No 2, Vol. 4, summer 2020. 

In Zeiten der Macht