SYRIEN: Entwicklungen wie auf Treibsand

von Amalia van Gent, Journalistin, 09.01.2025, Veröffentlicht in Archipel 343

In der Nacht auf Sonntag, den 8. Dezember 2024, war Damaskus, wie zuvor auch Aleppo und Homs, kampflos an die islamistischen Rebellen gefallen. Der unerwartet rasante Umbruch hat den Einfluss alter Akteure im Land, wie den des Iran und Russlands empfindlich reduziert; neue treten auf die Kriegsschaubühne.1

Der türkische Aussenminister Hakan Fidan forderte am vergangenen Sonntag die syrischen Oppositionsgruppen auf, sich jetzt zusammenzuschliessen: «Es ist an der Zeit, das Land wieder zu vereinen und wieder aufzubauen», sagte er vor Journalisten am Rande des Doha-Forums in Katar.

Sich Ankara beugen?# Die Türkei wähnt sich in diesem Konflikt als der «grosse Sieger». Ohne das grüne Licht aus Ankara hätten die islamistischen Rebellen ihren Vormarsch auf Aleppo und Damaskus vermutlich nie begonnen. Dies ist sich Aussenminister Fidan Hakan bewusst. Als Gegenleistung für den unverhofften Sturz Assads möchte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem «neuen Damaskus» seine Syrien-Politik mitdiktieren können.

Heute ist Abu Mohammed al-Jolani das Gesicht des rasanten Siegs; er ist der populärste Führer der sunnitischen Opposition in Syrien und mächtiger als je zuvor. Wird er sich den Wünschen Ankaras etwa im Konflikt mit den Kurden in Nordsyrien beugen? In Ankara werden bereits Zweifel laut, ob sich die Türkei auf Abu Mohammed al-Jolani verlassen kann. Im Sotschi-Abkommen, das 2016 von Russland, dem Iran und der Türkei unterzeichnet wurde, hatte sich Ankara verpflichtet, in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens die Macht al-Jolanis und seiner islamistischen Bewegung Hayat Tahrir al-Sham (HTS) einzuschränken. Dies ist Ankara nie gelungen. Die HTS hat ihre Wurzeln in der arabischen al Qaida; ihr Führer Al-Jolani agierte meist unabhängig.Hakan Fidan war vor seinem jetzigen Amt als Aussenminister Leiter des türkischen Geheimdienstes (MIT). Während seiner langen Amtszeit baute er den MIT, der bis dahin eher über begrenzte Kompetenzen verfügte und sich vor allem auf «innere Feinde» konzentrierte, zu einer mächtigen Institution aus, die sich nun auf einer Stufe mit der amerikanischen CIA oder etwa dem israelischen MOSSAD sieht. Die Gründung der sogenannten «Syrischen Nationalarmee» (SNA) fiel mit Hakans Vorsitz der MIT zusammen. Die SNA wurde nach 2016 von Ankara in der Hoffnung ausgebildet und bewaffnet, einen Regierungswechsel in Damaskus herbeiführen zu können. Entgegen allen Erwartungen blieb die SNA jedoch bis zuletzt ein loser Zusammenschluss korrupter Warlords. Al-Jolanis HTS und die SNA bilden heute den wichtigsten bewaffneten Arm der syrischen sunnitischen Opposition. Die Sunniten stellen mit 75 Prozent die überwältigende Mehrheit der syrischen Bevölkerung. Der türkische Aussenminister rief in Doha eindringlich zur Vereinigung aller syrischen Oppositionsgruppen auf. «Das Prinzip der Inklusion aller darf niemals in Frage gestellt werden», sagte Hakan Fidan. Mehr als ein Appell sollten seine Worte eine unmissverständliche Warnung an al-Jolani sein, nicht die Alleinherrschaft in Damaskus anzustreben.

Syrischer Kulturkampf

Der Einmarsch der Rebellen in Damaskus hat Präsident Baschar al-Assad zur Flucht gezwungen. Die russische Nachrichtenagentur TASS bestätigte, dass ihm und seiner Familie in Moskau politisches Asyl gewährt wurde. Damit ging die ein halbes Jahrhundert währende Herrschaft der Familie al-Assad endgültig zu Ende.

Diese begann mit Hafiz al-Assad, dem Vater des jetzt gestürzten Präsidenten. Hafiz strebte in Syrien einen arabisch-nationalistischen Staat nach dem Vorbild des Irak und Ägyptens an und verordnete seinem Volk einen strikten Säkularismus. Da die Bevölkerung mehrheitlich sunnitisch und in den Provinzen teils noch tiefreligiös war, kam es zu Aufständen. Da die Al Assads der religiösen Minderheit der Alawiten angehörte, nahmen die sozialen Unruhen oft den Charakter eines Kulturkampfes an. Hafiz griff zu immer brutaleren Mitteln der Repression. Bezeichnend ist, dass am Ende seiner Herrschaft sechs mächtige, miteinander konkurrierende Geheimdienste jeden Winkel des Landes zu überwachen und jede Opposition im Keim zu ersticken hatten. Als 1982 in der mittelsyrischen Stadt Hama ein Aufstand der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gegen das Regime ausbrach, ließ Hafiz die historische Altstadt von Hama in Schutt und Asche bomben; über Zehntausend Menschen kamen ums Leben.

Synonym für Folter

Nach Hafiz Tod kam der junge Baschar zunächst als Hoffnungsträger einer politischen Liberalisierung an die Macht. Doch schon bald erwies er sich als schlechter Abklatsch seines tyrannischen Vaters: Im Lauf des Bürgerkriegs nach 2011 sind schätzungsweise bis zu einer halben Million Menschen ums Leben gekommen; mehr als 13 Millionen Syrer, mehr also als die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung des Landes, wurden vertrieben. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben heute über 6 Millionen von ihnen als Geflüchtete ausserhalb ihres kriegszerrütteten Landes.

Das Militärgefängnis Saydnaya wurde zum Symbol der Assad-Herrschaft und zum Synonym für unvorstellbare Folter, systematische Erniedrigung und Massenhinrichtungen. Ein Team des privaten Nachrichtensenders Al-Jazeera aus Doha zeigte als erster Nachrichtensender Bilder von Häftlingen, die noch völlig verwirrt, völlig erschöpft die Tore ihres Martyriums hinter sich liessen. «Ich stand auf der Liste der Hinrichtungen. Heute Morgen sollte der letzte Morgen meines Lebens sein», erzählte ein Mann, unfähig seine Freude über den überraschenden Umbruch in Damaskus in Worte zu fassen.

Geordneter Rückzug?

Über ein halbes Jahrhundert stellten die Alawiten die politische und wirtschaftliche Elite des Landes. Während ihrer Herrschaft konnten sie dabei auf die zumindest stille Unterstützung auch der christlichen Minderheiten zählen. Die beiden religiösen Minderheiten machen ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus (15 Prozent Alawiten und 10 Prozent verschiedene christliche Kirchen). Der neue starke Mann in Damaskus, Al-Jolani, hat zwar zur Respektierung aller Minderheiten aufgerufen. Dennoch geht unter Alawiten und Christen Angst vor Racheakten und offenen Abrechnungen um. Es ist ein Modell, das sich im Nahen Osten beinah monoton wiederholt: Auf säkuläre Diktaturen, welche die Religionsfreiheit für die Minderheiten garantieren, folgen religiös-fundamentalistische Regime, die keinen Freiraum für Andersdenkende lassen. So war es bislang im Iran und in Afghanistan, in Ägypten sowie in Libyen. Aus diesem Grund will die Mehrheit der Alawiten und Christen den Zusicherungen der neuen Machthaber in Damaskus nicht trauen. Noch unter dem Schock der unglaublichen Implosion ihrer Armee sind sie bereit zu glauben, dass es sich in Wirklichkeit um einen geordneten Rückzug der syrischen Armee handele. Und dass dieser auf einer Vereinbarung zwischen den globalen Akteuren beruhen würde.

Und so machen Gerüchte und Karten in Damaskus die Runde, wonach der alawitischen Minderheit in den syrischen Mittelmeerprovinzen Latakia und Tarsus künftig eine Autonomie gewährleistet werde. Diese Provinzen sind ohnehin das traditionelle Siedlungsgebiet der Alawiten. Soll Moskau den Sturz von al-Assad gegen die Sicherheit seiner Militärbasen in Tarsus und Latakia ausgetauscht haben? Tatsache ist, dass Moskau den raschen Vorstoss der Islamisten zumindest hätte abbremsen können, wenn es in der Anfangszeit der Rebellion die wichtige Verbindungsstrasse M4 bombardiert hätte. Die russische Luftwaffe hat dies aber nicht getan. Tatsache ist auch, dass Russland nicht bereit ist, auf die Militärbasen in Tarsus und Latakia zu verzichten. Denn sie sind die einzigen, über die Russland im Mittelmeer verfügt.

Demographische Umwälzungen

Mehr als 6 Millionen Syrer leben also, wie bereits oben erwähnt, als Geflüchtete ausserhalb ihres Landes, die meisten von ihnen direkt in den umliegenden Nachbarländern. Rund 3.2 Millionen sind allein in der Türkei. Der Sturz des Regimes öffne den Weg für eine sichere Rückkehr dieser Geflüchtete in ihre Heimat, sagte der türkische Vize-Präsident Devdet Yilmaz am Sonntag. Wird diesen Menschen die Wahl zu einer freiwilligen Rückkehr erlaubt? Oder werden sie vielmehr zurückgezwungen?

Eine Migrationswelle droht das instabile Land aber vor eine neue Zerreissprobe zu stellen und die Demographie ganzer Landstriche fundamental zu verändern. Angaben der Vereinten Nationen zufolge sind bereits über 150.000 Menschen auf der Flucht; Die ersten Geflüchtete nach Beginn des Krieges waren Kurden und kamen aus dem Gebiet Sehba um die Stadt Tell Rifat. Beide Städtenfielen Ende November 2024 an die Syrische Nationalarmee (SNA). Die meisten dieser Geflüchteten stammten ursprünglich aus der Stadt Afrin. Die Geschehnisse um die Region Afrin sind eine vom Westen weitgehend ignorierte Tragödie: Die türkischen Truppen hatten, unmittelbar nach ihrem ersten Einmarsch in Afrin 2018, die Kontrolle über diese Region an die verbündete SNA übergeben. Und die islamistischen Kriegsherren der SNA verwandelten das ehemalige Universitätszentrum der syrischen Kurden in eine Region, in der laut renommierten Menschenrechtsorganisationen wie «Human Rights Watch» Plünderungen, Folter, Vergewaltigungen und Vertreibungen an der Tagesordnung waren.

Aleppo – einst multikulturell

Aus Angst vor Repressalien flohen nach dem Fall Aleppos auch Abertausende aus den kurdischen Vierteln der Grossstadt wie Sheikh Makqsood und Ashrafiyeh in Richtung Nordosten. Dem Flüchtlingstreck der Kurden schlossen sich nach und nach die Yeziden aus Aleppo an. Der 3. August 2014, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in die nordirakische Stadt Sindschar einfiel, bis zu 10.000 Männer ermordete und fast 7.000 Frauen und Kinder versklavte, hat sich als das 74. grosse Massaker in die kollektive Erinnerung dieser kleinen religiösen Minderheit im Nahen Osten eingebrannt. Wie sollten sie unter Islamisten leben?

Im multikulturellen Aleppo lebten auch rund 80.000 Armenier, bis der syrische Bürgerkrieg 2011 diese lebensfrohe Minderheit auf heute 12.000 dezimierte. Die armenische Kirche hat nach dem Fall von Aleppo ihre Gläubigen zur Ruhe aufgerufen. Wer kann, versucht dennoch, in den Nordosten des Landes zu fliehen. Wie die armenisch-sprachige Zeitung Kantsasar aus Aleppo berichtete, wurden zwei armenische Ärzte bei ihrem Fluchtversuch von Scharfschützen tödlich verletzt.

Kurden, Christen und Jeziden fliehen in die kurdisch kontrollierte Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES), bekannt auch als Rojava, weil die dort dominante politische Bewegung – ideologisch vom Kurdenführer der Türkei, Abdullah Öcalan, beeinflusst – strikt säkulär ist. In der AANES gilt zudem die Geschlechtergleichheit, was für Minderheiten von besonderer Bedeutung ist. «All diese Menschen brauchen Zelte, Lebensmittel, Medikamente. Wir brauchen humanitäre Nothilfe, um Unterkünfte, Wasser und Nahrung zu sichern», warnte vor kurzem Sêxmûs Ehmed, der in Rojava für Camps und Migration zuständig ist.

Eine syrische Föderation?

Drei Hauptakteure haben drei unterschiedliche Antworten: Israel würde eine Teilung Syriens entlang konfessioneller Zugehörigkeiten begrüssen, schreibt aus Tel Aviv die im Nahen Osten gut informierte Internet-Plattform «al monitor». Man spricht bereits von einer sogenannten «Kantonisierung», die eine Region für Sunniten, eine für die Alawitisch-Schiiten, eine weitere für Drusen und schliesslich Kurden beinhalten könnte.

Die «Türkei werde eine neue Teilung Syriens niemals tolerieren», wiederholte Recep Tayyip Erdogan. Ankara betrachtet Rojava schon aufgrund der ideologischen Nähe ihrer Führung zur PKK als ein «Nest von Terroristen», das von der Landkarte ausgelöscht gehört. Nach heftigen Kämpfen mit der von der Türkei unterstützten SNA haben sich die Kurden letzten Dienstag aus der strategisch wichtigen Stadt Manjib westlich des Euphrats zurückziehen müssen. Nun sollen die Kämpfer der islamistischen SNA in Richtung Kobani marschieren.

Kobani gilt den Kurden als «ihre historische Stadt». Drei Monate lang belagerten im Jahr 2015 die Dschihadisten des ISIS das kleine Städtchen an der Grenze zur Türkei und konnten es nie einnehmen. Kurdische, meist schlecht bewaffnete Jugendliche, bescherten bei Kobani dem damals übermächtigen ISIS seine erste empfindliche Niederlage. Damals beschloss US-Präsident Obama, eine Allianz mit den syrischen Kurden zu schliessen.

Washington ist heute in dieser Frage aber gespalten. Joe Biden erklärte zwar, die amerikanischen Truppen würden weiterhin im Gebiet bleiben. Die 900 US-Soldaten verkörpern für Rojava die Garantie ihrer Existenz. Der neue US-Präsident Donald Trump aber liess in den sozialen Medien verlauten: «Die Lage in Syrien ist chaotisch. Die USA sollten sich nicht einmischen. Es ist nicht unser Kampf», schrieb er in der Plattform «Truth social». «Mischt Euch nicht ein!».

Jedoch:

Unter Vermittlung der Regierungen Frankreichs und der USA haben die Gespräche zwischen dem Kommandeur der regierenden Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Mazloum Abdi Kobani, und der innerkurdischen Opposition Ende Dezember zu einer Einigung zwischen den beiden politischen Bewegungen geführt. Diese Einigung ist in Rojava absolut einzigartig. Damit können die Kurden Syriens nun mit einer Stimme in Damaskus für die Rechte der kurdischen Minderheit kämpfen.

Amalia Van Gent*

*Amalia van Gent ist Journalistin und Autorin. Ihre Spezialgebiete sind die Türkei und die Kaukasusstaaten. Ausserdem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Dieser Artikel wurde in einer ersten Fassung am 12/12/2024 in Infosperber publiziert und jetzt von der Autorin für den Archipel aktualisiert.

  1. Alle Bezeichnungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sind grundsätzlich geschlechtsneutral gemeint; die vorliegende Schreibweise hat die Autorin gewählt.