Seit Herbst 2024 protestieren die Menschen in Serbien gegen die Regierung von Aleksandar Vučić und sein korruptes politisches System. Anlass für die Proteste war der Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. Seitdem wächst der Widerstand gegen das autoritäre Regime des Präsidenten.
Mit unzähligen Strassenblockaden legten Bürger·innen im Sommer mehrere Städte lahm. Die Regierung setzt nach wie vor brutale Gewalt gegen die Demonstrierenden ein. Vor allem Studierende treiben die Protestbewegung voran – in Serbien wie auch in der österreichischen Diaspora. Politisch einte sie zunächst nur ein minimales Ziel: rechtsstaatliche Institutionen sollen unabhängig arbeiten können. Die Bewegung wies Parteipolitik zurück und organisierte sich stattdessen über basisdemokratische Versammlungen. Jetzt fordert sie plötzlich Neuwahlen. Dabei hat die Bewegung bisher auf den Aufbau basisdemokratischer Organisierung gesetzt. Ein Strategiewechsel? Was steckt dahinter? Lucia Steinwender hat den Aktivisten und Psychologie-Studenten Mihailo in Belgrad getroffen. Er erzählt vom Aufbau von Nachbarschaftsversammlungen («zborovi»), wer sich darin organisiert und ob es am Ende jetzt doch um die Macht im Staat geht.
Lucia Steinwender: Eure Studierendenbewegung ist basisdemokratisch organisiert. Es gibt keine Führungsrollen, Entscheidungen werden in Plena an den besetzten Fakultäten getroffen. Teile der Bevölkerung sind eurem Beispiel gefolgt und organisieren sich jetzt in Versammlungen – sogenannten «zborovi». Wie können wir uns das vorstellen?
Mihailo: Die «zborovi» sind Bürger·innenversammlungen, die ähnlich funktionieren wie die Plena an unseren Unis. Sie sind in Arbeitsgruppen organisiert, Entscheidungen werden in einer gemeinsamen Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Sie ähneln den «assemblies», die zum Beispiel die Occupy Wallstreet-Bewegung genutzt hat. Mit zwei entscheidenden Unterschieden: Die zborovi bilden sich nach Stadtteilen oder Nachbarschaften. Und sie sind in Serbien bereits gesetzlich verankert: Wenn mindestens zehn Prozent der gemeldeten Bürger·innen eines bestimmten Gebiets zusammenkommen, können sie eine Art Bürgerrat bilden und Vorschläge in den Gemeinde- oder Bezirksrat einbringen. Im März haben wir die Bevölkerung in einem offenen Brief dazu aufgerufen, solche zborovi zu organisieren. Dabei ging es uns nicht so sehr um die legale Gültigkeit dieser Versammlungen. Wir wollten einfach ein Konzept wählen, das den Leuten bereits ein Begriff ist, mit dem sie etwas anfangen können und vielleicht sogar positive Assoziationen haben.
Hat das funktioniert? Ja. In der Anfangsphase haben in über 1000 Siedlungen in ganz Serbien Versammlungen stattgefunden. Nicht alle davon haben sich institutionalisiert. Aber mindestens 100 zbovori haben sich dauerhaft – und teilweise ziemlich beeindruckend – organisiert.
Und was machen diese Versammlungen? Zum einen sind sie Teil der landesweiten Protestbewegung. Zum anderen organisieren sie sich aber auch für eigene, lokale Anliegen.
Sich basisdemokratisch zu organisieren, erfordert meist sehr viel Zeit. Organisieren sich in den Bürger·innen-Versammlungen vor allem Leute, deren finanzielle Situation es erlaubt oder die in der Vergangenheit schon politische Bildung genossen haben? Das würde ich nicht sagen. Die Versammlungen spiegeln ihre Nachbarschaften wider: In wohlhabenden Vierteln sind wohlhabende Leute vertreten und vice versa. Gerade dadurch, dass die zborovi konkrete, greifbare Probleme in der lokalen Umgebung anpacken. Das sind teilweise Probleme, die schon lange bestehen – aber bisher gab es weder die lokale Organisierung noch den politischen Druck, sie zu lösen. Beides gibt es jetzt.
Wie wichtig war und ist eure Rolle als Studierende im Anstossen dieser Organisierung? Wir haben eine Arbeitsgruppe für diese Versammlungen gegründet, in der ich aktiv bin. Zum einen leisten wir praktische Unterstützung – das ist vor allem in der Gründungsphase von einem «zbor» (Singular von zborovi, Anm. d. Red.) relevant: Formiert sich in einem Stadtteil ein zbor, geben wir ihm als Studierendenbewegung oft eine gewisse Legitimität. Wir helfen auch bei Problemen: zum Beispiel, wenn die Beteiligung nicht so gross ist wie erhofft oder politische Parteien versuchen, Einfluss zu nehmen. Wir geben unsere eigenen Erfahrungen und die anderer zborovi weiter. Unsere zweite zentrale Funktion ist die Kommunikation und Koordinierung zwischen den Versammlungen. Wir organisieren bald die dritte «Versammlung der Versammlungen», zu der wir Delegierte aller zborovi einladen.
Tauscht ihr in diesen Versammlungen nur praktische Erfahrungen aus, oder diskutiert Ihr auch strategische Schritte der Protestbewegung? Beides. Die zborovi haben sich zu einem zentralen Teil der Protestbewegung entwickelt. Sowohl die zweiwöchige Blockade des öffentlichen Rundfunks RTS im April als auch die Strassenblockaden im Sommer wären ohne sie nicht möglich gewesen. Mit den zborovi besteht jetzt eine unabhängige Struktur abseits der Studierenden, in der sich alle Bürger·innen organisieren können.
Noch im März habt ihr betont, auf diesen Strukturaufbau zu setzen. Zu Parteipolitik habt ihr euch nie geäussert – das hat euch auch viel Unterstützung von der politikverdrossenen Bevölkerung eingebracht. Seit Mai fordert ihr nun Neuwahlen – und greift dafür auch zu radikaleren Mitteln. Seit Sonntagnacht legen Strassenblockaden in vielen Städten Serbiens den Verkehr lahm. Woher der Sinneswandel? Zum einen hat sich gezeigt, dass die Regierungspartei unsere Forderung nach der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit niemals erfüllen wird. Auf den bisherigen Höhepunkt der Proteste am 15. März, als Hunderttausende in Belgrad friedlich protestiert haben, reagierte sie mit Gewalt. Für viele Teile der Bewegung war spätestens dann klar: Um dieses Regime loszuwerden, braucht es Neuwahlen. Für die breite Masse sind Wahlen nun mal die logische politische Artikulation. Und weil wir als Studierende nicht nur Teil dieser Bewegung sind, sondern gewissermassen ihr zentrales Organ, haben wir uns letztlich entschieden, die Forderung mitzutragen. Heute glaube ich, es ist auch was dran: Vučić war in den letzten Jahren stets der erste, der Wahlen ausrief, um Proteste zum Verstummen zu bringen. Jetzt aber weigert er sich – weil er Angst hat, zu verlieren. Bei den Lokalwahlen in Kosjerić und Zaječar hat die Opposition stark zugelegt.
Geht es jetzt also doch um die Macht im Staat statt um Basisorganisierung von unten? Das ist kein Widerspruch. Erstens: Es wird Teil des Programms der neuen Liste sein, direkte Demokratie zu institutionalisieren. Plena an den Universitäten, aber auch lokale Selbstverwaltung sollen ausgeweitet und verfestigt werden. Zweitens soll die nächste potenzielle Regierung vermutlich nur für eine Übergangsphase dienen. Und egal welche Partei an der Macht ist, es braucht immer eine soziale Bewegung als Kontroll- und Druckmechanismus.
Ihr tretet als Studierende zwar nicht selbst bei möglichen Wahlen an, nominiert aber die Kandidat·innen für eine neue Liste. Und ihr schreibt das Programm mit. Bisher hatte eure Bewegung kaum soziale oder wirtschaftliche Forderungen. Ändert sich das nun? Es stimmt, unsere ursprünglichen Forderungen haben sich auf ein grundlegendes Minimum beschränkt: dass die rechtsstaatlichen Institutionen ihre Arbeit tun und Gesetze für alle gelten. Indem sich unserem Kampf mehr und mehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen angeschlossen haben, haben sie aber auch ihre Anliegen in die Bewegung hineingetragen. Das Programm der neuen Liste soll diese breite soziale Front repräsentieren. Durch den Streik der Pädagog·innen wurde zum Beispiel klar, dass es eine Reform des Streikrechts braucht. Das geltende Streikgesetz verbietet vielen Sektoren quasi den Streik. Auch den Pädagog·innen und Lehrer·innen, die als eine der wenigen Berufsgruppen für die Forderungen eurer Bewegung in den Streik getreten sind. Ihnen wurden die Gehälter bis zu 100 Prozent gekürzt. Nun haben die Gewerkschaften eine Initiative für eine Reform des Streikrechts gestartet. Ich denke, durch unseren Kampf haben wir viele Teile der Gesellschaft aufgeweckt und aktiviert. Zum Beispiel auch die Gewerkschaften. Wir haben neue Ideen und Werkzeuge ins Spiel gebracht, mit denen wir uns gegen autoritäre Regierungen zur Wehr setzen können. Ich denke, diese Effekte werden noch lange spürbar sein – unabhängig davon, was das konkrete Ergebnis unseres aktuellen Kampfes gegen diese Regierung letztendlich sein wird. Denn in Serbien haben wir eine lange Geschichte repressiver, undemokratischer Regime, die gegen die Interessen der Bevölkerung arbeiten.
Die Demonstrationen der letzten Monate waren unglaublich divers. Von linken bis rechten politischen Gesinnungen war dort alles vertreten. Wie wollt ihr euch jetzt auf ein konkretes politisches Programm einigen? Für die Studierendenbewegung kann ich sagen, dass der soziale Zusammenhalt uns über inhaltliche Differenzen hinwegträgt. Wir haben uns in den vergangenen Monaten fast täglich gesehen und viele politische Diskussionen geführt. Durch die Praxis der direkten Demokratie haben wir uns auch daran gewöhnt, dass vielleicht nicht immer alles so entschieden wird, wie wir uns das als Einzelne wünschen. Wenn ein Vorschlag die Mehrheit überzeugt, dann ist er meistens gut genug, um ihn mitzutragen.
Und in der Bevölkerung? Zurzeit habt ihr da ja eine ausgesprochen grosse Unterstützung. Werdet ihr die verlieren, wenn ihr euren bisherigen Minimalkonsens verlasst? Die letzten Monate haben gezeigt, für welche Themen die Menschen bereit waren, zu protestieren und zu kämpfen. Zum Beispiel gegen die Privatisierung unserer Rohstoffe. Im Osten des Landes richten multinationale Konzerne mit Bergbau schon viel ökologische Zerstörung an, im Jadartal will «Rio Tinto» Lithium ausbeuten. Die lokalen Gemeinschaften wehren sich dagegen. Deshalb haben wir auch den Stopp dieser Projekte in unser Programm mitaufgenommen.
Das Interview führte Lucia Steinwender*
- Lucia Steinwender ist freie Journalistin und lebt zurzeit in Belgrad. Dieser Artikel vom Juli 2025 wurde zuerst in mosaik publiziert. Mosaik ist ein Medium, das solidarische, herrschaftskritische und kämpferische Positionen sichtbar macht. Politische Bewegungen und Entwicklungen in Österreich stehen dabei im Fokus, der Blick reicht aber auch über den Tellerrand der Alpenrepublik hinaus.