Die Schweiz ist bisher von der Flüchtlingswelle kaum betroffen. Die Zunahme der Asylgesuche ist im Vergleich zu den umliegenden Ländern kaum erwähnenswert. Nichtsdestotrotz übt sich die Schweizerische Volkspartei SVP in Stimmungsmache gegen die Flüchtlinge.
Niemand wird erstaunt sein, denn es ist Vorwahlzeit: Am 18. Oktober 2015 wird das eidgenössische Parlament neu gewählt und die Damen und Herren gehen wieder mit Fremdenangst auf Stimmenfang. In der Nationalratsdebatte zum neuen Asylgesetz versuchte die SVP während der Septembersession, mit mehreren Dutzend Minderheitsanträgen zusätzliche Verschärfungen durchzusetzen. Zusätzlich schlug sie dem Parlament ein so genanntes «Asylmoratorium» vor, das für ein Jahr das Asylgesetz ausser Kraft gesetzt hätte. Die Partei fand glücklicherweise keine Unterstützung für dieses menschenverachtende Vorgehen und unterlag auf der ganzen Linie. Denn auch hier in der Schweiz macht sich ein Stimmungswandel in der Bevölkerung und in den grossen Medien bemerkbar. Hilfsangebote und Solidaritätsbekundungen spriessen wie Pilze aus dem Boden. Die Glückskette (Spendenkampagnen, die vom öffentlich-rechtlichen Radio SRF bei grossen Katastrophen im grossen Stil getätigt werden) sammelte an einem Tag, am 15.9.2015, an die sechs Millionen Franken zugunsten Not leidender Flüchtlinge. Im kleinen Rahmen finden immer wieder überall in der Schweiz Mahnwachen und Demonstrationen statt, welche die Solidarität mit den Flüchtlingen zum Ausdruck bringen. Ganz konkret versuchen auch verschiedene Initiativen, die Aufnahme von Flüchtlingen bei Privatleuten voranzubringen. Dem Versuch der Bundesverwaltung, die Asylbewerber_innen immer mehr in Zentren unterzubringen, die fernab von der Bevölkerung in abgelegenen Gegenden eingerichtet werden, wird entgegengetreten. Solche Initiativen entstanden in den drei kleinen jurassischen 300-Seelen-Dörfern Giez, Soulce und Undervelier.
Gastfreundliche Dörfer
In Giez im Kanton Waadt rief Nicolas Rouge, Mitglied des Gemeinderates und ehemaliger Präsident der Mineralwasserquelle Henniez, öffentlich dazu auf, dass jede Gemeinde der Schweiz eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen solle. Er rechnete vor, dass dies bei 4‘000 Dörfern Hilfe für 16‘000 Flüchtlinge bedeuten würde. Der Aufruf von Nicolas Rouge fand in den Medien einen grossen Widerhall. Der Bürgermeister der Gemeinde stellte sogleich eine leerstehende Wohnung zur Verfügung. In Soulce und Undervelier im Kanton Jura kommt die Initiative von unten. Eine seit einigen Jahren im Dorf lebende Niederländerin war so berührt vom Schicksal der Flüchtlinge, dass sie im Dorf nach Verbündeten suchte, um einen Empfang von zwei oder drei Flüchtlingsfamilien einzuleiten. Sehr rasch gewann sie einige Mitglieder der dortigen Longo maï-Kooperative und andere Dorfbe-wohner_innen und gründete ein Komitee, das Ende August eine erste öffentliche Versammlung einberief. Über 40 Menschen nahmen daran teil, was für das Dorf sehr viel ist. Trotz mehrerer kritischer Stimmen, die von Verunsicherung gegenüber fremden Kulturen zeugten, überwog die Hilfsbereitschaft bei weitem. Ein pensionierter Elektriker bot seine Hilfe für die Renovation einer leer stehenden Wohnung an, eine Schriftstellerin ist bereit als Sprachlehrerin zu fungieren, eine Gärtnerin möchte Flüchtlinge mit Gartenarbeiten vertraut machen und so weiter. Auf dieser Sympathie aufbauend, wandte sich das Komitee an die Gemeinde- und Kantonsbehörden, um das Projekt voranzubringen.
Diese Ereignisse zeigen deutlich auf, dass in der Bevölkerung die Empathie viel grösser ist als vielfach gesagt wird. Trotz einer latenten Fremdenfeindlichkeit, die vor allem in Allgemeinplätzen und an runden Tischen kolportiert wird, gibt es, vor allem wenn es um konkrete Hilfeleistungen an Menschen geht, einen starken Drang nach Solidarität.