SCHWEIZ / VERDINGKINDER: Geraubte Kindheit

von F.Gideon, 07.12.2024, Veröffentlicht in Archipel 342

Zwei Schweizer Freunde, Bernard und Nicolas, haben uns mit einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte konfrontiert: der Geschichte der Verdingkinder. Tatsächlich gehören beide Freunde zur letzten Generation dieser Kinder, die weit weg von ihren Familien aufgewachsen sind und die ihre jungen Jahre unter sehr schwierigen Umständen verbracht haben.

Bernard und Nicolas sind heute erwachsen und haben es geschafft, ihre Traumata so weit zu überwinden, dass sie ein halbwegs «normales» Leben führen können, auch wenn sie unauslöschliche Spuren dieser geraubten Kindheit in sich tragen. Die hier zusammengestellten Informationen stammen aus Dokumentationen, die unsere beiden Freunde an uns weitergegeben haben. Ihre persönlichen Aussagen veröffentlichen wir in der Jänner-Ausgabe des Archipels. Heute widmen wir uns den geschichtlichen Hintergründen und der aktuellen Situation.

Der Einfluss von Vorurteilen

Im 19. und 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz viele Kinder von den Behörden zwangsweise in Familien und Institutionen platziert. Lange Zeit schwiegen die Opfer über ihre Leiden. Doch allmählich brachen die Mauern des Schweigens und einige Betroffene begannen, ihre Geschichte zu erzählen. Diese Tatsache löste eine Debatte aus, die diese dunkle Periode der Schweizer Sozialgeschichte ans Licht brachte. Die Zeit nach 1930 ist gut dokumentiert, mit direkten Aussagen von Zeuginnen und Zeugen, Berichten und Studien. Auf diese Periode soll hier eingegangen werden. In diesen wenigen Jahrzehnten wurden Zehntausende von Kindern ihren Familien weggenommen. Zwangsmassnahmen gegen arme Familien waren damals üblich. Die Behörden neigten dazu, diesen Familien die Kinder wegzunehmen, weil sie die Eltern als «untauglich» oder «unwürdig» eingestuft hatten. Diese Platzierungen, die oft mit moralischen Argumenten oder dem Schutz der Kinder begründet wurden, spiegelten aber vor allem soziale und wirtschaftliche Vorurteile wider. Die damaligen Gesetze waren davon geprägt, und erschwerend kam noch hinzu, dass deren Einhaltung und Auslegung je nach den örtlichen Gegebenheiten variierten.

Problematische Praktiken

Der Begriff «Pflegekind» umfasste ein breites Spektrum an Situationen. Geben wir einen Überblick über die häufigsten: • Einige Kinder wurden fast wie Sklaven behandelt, wie z. B. er achtjährige Max Verdon, der bei einer Versteigerung («La Puta Misa» im Dialekt) auf einem Dorfplatz verkauft wurde. Er wurde verkauft, um für seinen «Besitzer» zwangsweise zu arbeiten. • Administrative Internierungen: Jugendliche und junge Erwachsene wurden ohne ein formelles Gerichtsverfahren aus moralischen, sozialen oder verhaltensbedingten Gründen in gewöhnlichen Gefängnissen eingesperrt, aber nicht aufgrund von präzisen strafrechtlichen Anklagen oder Gerichtsurteilen. Beispielsweise konnte es sich um eine unehelich schwanger gewordene Jugendliche oder einen jugendlichen Ausreisser handeln. Diese Internierungen konnten von unbestimmter Dauer sein und das Verfahren zur Entlassung war oft vage und willkürlich. • Einweisungen in Erziehungsanstalten mit sehr strenger Disziplin für Kinder, die als Straftäter galten oder sich unangemessen verhielten. • Unterbringung bei Bauern: Einige Kinder wurden als Hilfskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Glücklicheren fanden manchmal ein familiäres Umfeld vor, aber meistens wurden sie misshandelt, sexuell missbraucht, vernachlässigt und wie billige Arbeitskräfte behandelt. • Bei Pflegefamilien: Diese Unterbringung erfolgte entweder auf Wunsch der Familie oder auf Anordnung der Behörden, wobei die Bedingungen sehr unterschiedlich waren. • Unterbringung in psychiatrischen Kliniken: Kinder mit psychischen Störungen oder abweichendem Verhalten konnten in psychiatrischen Kliniken untergebracht werden, oft ohne angemessene Versorgung und unter Bedingungen, die als unmenschlich beschrieben werden können. Einige dieser Kinder wurden sogar als Versuchspersonen klinischen Studien in Bezug auf neue Medikamente bzw. Behandlungen ausgesetzt, wobei sie oder ihre Eltern nicht immer ihre Zustimmung gaben. Diese Praktiken waren häufig das Ergebnis von Stigmatisierung und Unkenntnis über psychische Störungen sowie des Fehlens klarer Standards für den Kinderschutz und die psychosoziale Versorgung.

Schwierige Bewusstseinsbildung

In den 30 Jahren seit der Abschaffung des Systems im Jahr 1981 wurde die Anerkennung von Missbräuchen innerhalb des Schweizer Pflegekinderwesens durch beträchtlichen Widerstand und beabsichtigte Langsamkeit behindert. Trotz der Bemühungen von Aktivist·innen wie Louisette Buchard-Molteni und Daniel Cevey schienen die Schweizer Behörden nicht gewillt zu sein, die schmerzhaften Realitäten anzuerkennen. Es muss dazu gesagt werden, dass viele Personen, die damals Autoritätsposten innehatten, wie Sozialarbeiter·innen, Erzieher·innen, Richter·innen oder Pflegefamilien, noch am Leben bzw. noch da waren, was vermutlich zu einem institutionellen Widerstand gegen das Eingeständnis vergangenen Unrechts beigetragen hat. Es war auch schwierig, soziale Vorurteile zu überwinden und politische Interessen beiseitezuschieben, um sich den zu bewältigenden rechtlichen Herausforderungen zu stellen. Es ist auch möglich, dass die Gesellschaft als Ganzes nicht bereit war, sich mit der Realität des Missbrauchs und der Traumata, die diesen Kindern zugefügt wurden, auseinanderzusetzen. Es dauerte bis zum Jahr 2013, bis es endlich zu einer echten Anerkennung des Leidens kam und ein kollektives Bewusstsein entstand. Diese Anerkennung war das Ergebnis des wachsenden Drucks von Überlebenden des Heimsystems sowie von Aktivist·innen und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen.

Traumata

Die Schäden, die Pflegekindern zugefügt wurden, sind unermesslich und tiefgreifend, weil sie einen erheblichen Prozentsatz der Überlebenden dauerhaft beeinträchtigen. Etwa 60 Prozent von ihnen sind auf die eine oder andere Weise auf der Strecke geblieben und haben mit Schwierigkeiten wie Sucht oder psychischen Störungen zu kämpfen. Einige haben Suizid begangen. Nur 40 Prozent von ihnen haben es geschafft, ihr Leben wieder aufzubauen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, eine Familie zu gründen und berufliche Stabilität zu finden. Alarmierend ist auch, dass nach Angaben von Vertreter·innen der Bundesbehörden bis zu 90 Prozent dieser Kinder sexuell missbraucht wurden -eine Zahl, die das schockierende Ausmass der zugefügten Traumata verdeutlicht. Diese Statistiken offenbaren nicht nur die katastrophalen Folgen des damaligen Pflegekinderwesens, sondern auch die Dringlichkeit, dieses Leid anzuerkennen und den Überlebenden angemessene Unterstützung zukommen zu lassen.

Die offizielle Anerkennung des Leids der Verdingkinder war ein entscheidender Schritt nach vorn, doch der Weg zu wirklicher Gerechtigkeit und Wiedergutmachung ist noch weit. Die Reaktion der Schweizer Behörden war während der ganzen Auseinandersetzung mit den Überlebenden des Pflegekinderwesens gemischt. Zwar entschuldigten sie sich offiziell und boten einen finanziellen Betrag an, doch dieser entsprach nicht den Erwartungen von zahlreichen Überlebenden. Denn es handelte sich um lediglich 25.000 CHF pro Person.

Nur 11.000 Betroffene haben sich schlussendlich bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft gemeldet. Die meisten Opfer sind inzwischen verstorben. Die Forderungen der Überlebenden wurden zwar teilweise erfüllt, aber es bleibt noch viel zu tun. Neben einer substanziellen finanziellen Entschädigung braucht es auch konkrete Massnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensqualität, einschliesslich einer besseren medizinischen und sozialen Betreuung. Heute leben viele Betroffene in Armut und haben nur ein minimales Renteneinkommen, das ihnen kein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

Einige Überlebende treffen sich regelmässig und/oder haben sich in Gruppen zusammengeschlossen. Sie wollen sicherstellen, dass sich solche Gräueltaten, wie sie sie erlebt haben, nie mehr wiederholen können. Dazu gehören Gesetze und politische Entscheidungen, um die Rechte der Kinder dauerhaft zu schützen, strenge Überwachungsmechanismen zur Verhinderung von Missbrauch und angemessene Unterstützung für Familien in Not.

F. Gideon

Literaturauswahl:

Sergio Devecchi: «Heimweh. Vom Heimbub zum Heimleiter», Stämpfli Verlag AG, Bern, 2017

Marco Leuenberger, Loretta Seglias: «Geprägt fürs Leben – Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert», Chronos Verlag, Zürich 2015

Marco Leuenberger, Loretta Seglias: «Versorgt und vergessen – Ehemalige Verdingkinder erzählen», Rotpunktverlag, Zürich 2008

Lotti Wohlwend, Arthur Honegger: «Gestohlene Seelen. Verdingkinder in der Schweiz», Huber Frauenfeld, 2006

Dora Stettler: «Im Stillen klagte ich die Welt an – als Pflegekind im Emmental», Limmat-Verlag, Zürich 2004

Arthur Honegger: «Die Fertigmacher». Neuausgabe Huber Frauenfeld Verlag, 2004

Rosalia Wenger: «Rosalia G.: Ein Leben», Zytglogge, Gümligen 1989

Hélène Beyeler-Von Burg: «Schweizer ohne Namen – Die Heimatlosen von heute», Vierte Welt Verlag, Schweiz 1985

Chronologie

1970er Jahre: Die Öffentlichkeit wird aufgrund der ersten Zeugenaussagen, Zeitungsartikel und Reportagen auf den systemischen Missbrauch von Pflegekindern aufmerksam. Es findet eine allmähliche Sensibilisierung für die Rechte des Kindes statt.

1978: Die Schweiz verabschiedet ein neues Sozialhilfegesetz, das die Platzierungspraxis reformiert und strengere Schutzmassnahmen für Kinder einführt. Diese sollen die Missbräuche eindämmen und sicherstellen, dass Platzierungen tatsächlich nur im besten Interesse des Kindes erfolgen.

1981: Abschaffung des alten Systems.

1980er Jahre: Gesellschaftliche und gesetzliche Veränderungen markieren einen Übergang zu Praktiken, die das Kind besser schützen und seine Rechte achten.

1990er Jahre: Mehrere Vereine und Einzelpersonen beginnen, sich für die Anerkennung des erlittenen Unrechts einzusetzen, darunter der Verein «Agir pour la dignité», dem Bernard und Nicolas angehören.

2004: Es wird eine landesweite Petition gestartet, in der eine offizielle Anerkennung und Entschädigung für ehemalige Heimkinder gefordert wird.

2011: Die Schweizer Regierung – der Bundesrat – beginnt, Massnahmen zur Anerkennung des Leids dieser Kinder zu prüfen.

2013: Die erste Veröffentlichung eines historischen Berichts, der vom Staat in Auftrag gegeben wurde, zeigt das riesige Ausmass des Missbrauchs auf. Der Bundesrat entschuldigt sich offiziell bei den ehemaligen Verdingkindern für das erlittene Leid.

2014: Die «Wiedergutmachungsinitiative» wird von dem Unternehmer Guido Fluri, einem ehemals Betroffenen, lanciert und findet breite Unterstützung. Diese Initiative fordert eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte und die Errichtung eines Fonds in der Höhe von 500 Millionen Franken zugunsten der Opfer.

2015: Als indirekten Gegenentwurf zur Initiative schlägt der Bundesrat die Bereitstellung von 300 Millionen Franken für Entschädigungen vor. Die Wiedergutmachungsinitiative wird zurückgezogen, weil ein beachtlicher Teil ihrer Forderungen als erfüllt erscheint.

2016: Das Parlament verabschiedet das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981», welches eine finanzielle Entschädigung für die Opfer vorsieht.

2017: Das Gesetz tritt in Kraft und der Wiedergutmachungsfonds wird von staatlicher Seite eingerichtet.