Wie im letzten Archipel kurz berichtet, hat die Schweizer Stimmbevölkerung am 15. Mai 2022 mehrheitlich für den Ausbau der Schweizer Beteiligung an der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex abgestimmt. Der folgende Artikel stellt den Versuch dar, eine Analyse des Abstimmungskampfes aus der Sicht eines Vertreters der NEIN-Kampagne vorzunehmen.
Zuerst zum Resultat: Bei einer Stimmbeteiligung von extrem niedrigen 40 Prozent hat sich eine erdrückende Mehrheit von 71,5 Prozent der Stimmbevölkerung für die Ausweitung der Komplizenschaft mit der fortdauernden Brutalisierung der Abschottungspolitik Europas ausgesprochen. Trotz dieser De-facto-Niederlage hat sich meiner Meinung nach das Engagement für ein NEIN gelohnt. Am 22. September 2021 hatte das Schweizer Parlament entschieden, die EU-Grenzschutzagentur Frontex mit 61 statt 14 Millionen Franken jährlich zu unterstützen und die personelle Beteiligung der Schweiz ebenfalls zu erhöhen. Die Schlussabstimmung fiel zwar mit 88 Ja- zu 80 Nein-Stimmen bei 28 Enthaltungen knapp aus. Die Nein-Stimmen kamen von der SP-, Grünen- und vereinzelt von der SVP-Fraktion (1). Doch keine dieser Parteien wollte das Referendum (2) gegen diesen knappen Parlamentsbeschluss ergreifen; auch alle grossen humanitären Organisationen waren absent. Zum Glück sprang Anfang Oktober die kleine Basisorganisation «Migrant Solidarity Network» (MSN), die noch nie eine solche Aktion initiiert hatte, mit grossem Mut in die Bresche. In Windeseile schlossen sich 70 Organisationen (wie das EBF) und mehrere Parteien dem Unterfangen an (3).
Ein gewagter Kraftakt
Doch während langer Zeit schien das Referendum nicht zustande zu kommen. Das Komitee hatte mangels Erfahrung wenig eingespielte Kanäle mit dezentralen Lokalkomitees und entsprechenden Ressourcen. Normalerweise können die notwendigen 50‘000 Unterschriften niemals nur mit Versänden sichergestellt werden; das A und O jedes Referendums ist das Sammeln auf den Strassen, was aber durch die Coronakrise massiv erschwert war. Beim Unterschriftensammeln stellten wir alle fest, wie wenig die Bevölkerung über die Existenz von Frontex Bescheid wusste und noch weniger über die Schweizer Beteiligung an dieser Agentur. Wir mussten für jede einzelne Unterschrift oft lange Überzeugungsarbeit leisten.
So waren Anfang Dezember erst 10‘000 Unterschriften beisammen. Doch Anfang Januar 2022, kurz vor Ablauf der Sammelfrist, wendete sich das Blatt. An einigen Tagen kamen bis zu 5‘000 Unterschriften mit der Post an. Die im Westen Berns gelegene Aktionszentrale im Lokal «de•Block» wurde geradezu überrollt von den zahlreichen, prall gefüllten grauen Postkisten. Und so konnten wir am 20. Januar tatsächlich der Bundeskanzlei in Bern 62’000 Unterschriften übergeben. Kurze Zeit später entschied der Bundesrat, dass die Abstimmung am 15. Mai stattfinden würde.
Auftakt nach Kriegsbeginn
Das Abstimmungskomitee aus der Taufe zu heben, war keine einfache Sache, denn die Bandbreite der unterstützenden Organisationen war sehr gross und die politischen Absichten und Vorgehensweisen sehr unterschiedlich. Die überwiegende Mehrheit der engagiertesten Leute kam aus der aktivistischen Linken, aber auch zwei grosse Parteien – SP und Grüne – sowie die Internet-Plattform Wecollect (ohne deren Sammeltätigkeit die notwendigen 50‘000 Unterschriften wohl nicht erreicht worden wären) beteiligten sich. Die unterschiedliche politische Herkunft der Beteiligten führte teilweise zu Spannungen, wenn es darum ging, gemeinsame Auftritte zu organisieren und kollektiv geteilte Argumentationslinien festzulegen.
Die Lancierung unseres Abstimmungskampfes war mit einer grossen Pressekonferenz für den 26. Feburar in Bern anberaumt. Vertreter•innen unterschiedlichster Organisationen und Parteien nahmen an ihr teil – inklusive eine Vertretung der Kirchen mit der Pfarrerin Andrea Meier und dem bekannten Mitbegründer des Alarmphone, dem eritreischen Pfarrer Mussie Zeraï. Zwei Tage vor der Pressekonferenz begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und den Fokus der Medien fast vollständig absorbierte. Diese Tatsache und die durch den Krieg entstandene Verunsicherung wurde zu einem schweren Handicap während der ganzen Kampagne – bis zur Abstimmung.
Öffentliche Präsenz
Die folgenden Wochen waren geprägt vom Organisieren unzähliger Informationsveranstaltungen, Kundgebungen, Filmvorführungen, Medien-Mitteilungen, Social-media-Beiträgen und Schulungskursen. Zusätzlich musste die Produktion von Informationsmaterial in diversen Formaten angeleiert werden. Expert•inn•en über Frontex in der Schweiz und aus dem Ausland wurden beigezogen; bekannte Personen wie Carola Rackete aus der Klima- und Seenotrettungsbewegung und andere kamen aus Solidarität in die Schweiz. Ein besonderes Augenmerk richtete das Referendum-Komitee darauf, geflüchtete Menschen zu Wort kommen zu lassen. So bleibt für mich der Auftritt von Saeed Farkhondeh in der TV-Sendung Arena im Deutschschweizer Fernsehen SRF ein Höhepunkt der Kampagne. Ausserdem verging kaum eine Woche, in der nicht Berichte über die mangelnde Transparenz von Frontex und deren systematische Verstrickung in Menschenrechts-Verletzungen an den EU-Aussengrenzen in den Medien publiziert wurden (4).
Am 29.4. 2022 trat dann der Direktor von Frontex, Fabrice Leggeri, zurück. Der definitive Stolperstein für den Franzosen war wohl der Bericht der Anti-Korruptionsbehörde OLAF der EU. Dieser war zu einem vernichtenden Urteil über die Funktionsweise von Frontex und das Gebaren ihres Chefs gekommen. Bis heute durfte der Bericht aber nicht veröffentlicht werden. Das längst fällige Rollen dieses Kopfes heisst noch lange nicht, dass sich die Agentur reformieren lässt.
Kirchliche Stimmen
Mit einigen Mitstreiter•innen aus dem Referendums-Komitee und der Migrationscharta gelang es uns, ein Ad-hoc-Komitee von Kirchenmitgliedern gegen den Frontex-Ausbau zu gründen (5). Dieses entwickelte einen eigenen Auftritt mit christlich-theologischen Argumenten gegen die mörderische Militarisierung der Grenzen und konnte dem beschämenden Schweigen der Kirchenleitungen während der Abstimmungszeit entgegenwirken. Vielleicht trug es dazu bei, dass schlussendlich Caritas Schweiz und ACAT ebenfalls für die NEIN-Parole eintraten. Das vom Theologen Pierre Bühler entwickelte Argumentarium behält auch über die Abstimmung hinaus seine Schärfe und Gültigkeit. (6)
Ein enttäuschendes Ergebnis
Ausschlaggebend für die Annahme der Vorlage war die Verknüpfung, die der Bundesrat und das JA-Komitee zwischen einem NEIN und dem Ausscheiden der Schweiz aus dem Schengener Abkommen herstellten. Ein NEIN hätte, so argumentierten sie, einen automatischen Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin zur Folge. Obwohl diese Verknüpfung nicht zwingend war, löste diese Vorstellung bei vielen Menschen Verunsicherung und Angst aus. Zum anderen band die Mobilisierung gegen den russischen Aggressions-Krieg in der Ukraine Energie und Mittel, die wiederum für unsere Kampagne fehlten. Das war insbesondere bei der Grünen Partei und der SP offenkundig. Diese Tatsache, verstärkt durch deren zögerliche Positionierung in der Kampagne, hatte dann zur Folge, dass ein grosser Teil ihrer Wähler•innen ein JA in die Urne legte. Auch das Argument, dass sich die Schweiz gegen die Verletzung der Menschenrechte durch Frontex nur stark machen könne, wenn sie auch mit voller Kraft in der Agentur mitmache, verfing leider sehr oft, obwohl die bisherige Beteiligung der Schweiz dafür keinerlei messbaren Beweis geliefert hätte. Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass es uns in unserem eigenen Umfeld nicht genügend gelungen ist, für ein klares NEIN zu überzeugen.
Wie es weitergeht
Trotzdem können wir zurückbehalten, dass wir mit der Kampagne einer breiteren Öffentlichkeit die Existenz von Frontex und deren katastrophales Funktionieren bekannt machen konnten. Das Abstimmungsresultat kann nicht als Persilschein für Frontex betrachtet werden. Zahlreiche bürgerliche Politiker•innen und der Bundesrat mussten zugeben, dass die Agentur erhebliche Mängel punkto Kontrollmechanismen, Transparenz und Achtung der Menschenrechte zu verzeichnen hat. Wir werden alle an die von ihnen geleisteten Versprechen erinnern, dass sich die Schweiz mit ihrer Frontex-Beteiligung für die Einhaltung der Menschenrechte engagieren würde. Und vor allem war die Abstimmungskampagne ein Lehrstück, wie kleine bewegungsnahe Organisationen auch auf der nationalen Bühne sich vernetzen und die politische Agenda mitbestimmen können.
Claude Braun, EBF
SVP=Schweizerische Volkspartei: rechtspopulistisch, gegen Migration eingestellt, aber auch gegen die EU. Das erklärt das Stimmverhalten einiger SVP-Parlamentarier•innen, die wegen ihrer EU-Gegnerschaft den Ausbau der Zusammenarbeit mit Frontex ablehnen.
In der Schweiz kann nach der parlamentarischen Verabschiedung eines neuen Gesetzes innert 100 Tagen ein Referendum ergriffen werden. Dazu gehört, 50‘000 beglaubigte Unterschriften von stimmberechtigen Bürger•innen zu sammeln. Wenn dieses zustande kommt, muss zwingend eine schweizweite Volksabstimmung abgehalten werden, um über das Inkrafttreten des Gesetzes zu befinden.
Die Internetseite des Referendum-Komitees: www.frontex-referendum.ch
Besonders hervorzuheben ist die Wochenzeitung Woz Nr. 16 vom 21.4.2022
www.kirchen-gegen-frontex-ausbau.ch
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