Der Schweizer Parlament verlangt einen Importstopp von Lebensmitteln, die unter untragbaren Sozial- und Umweltbedingungen erzeugt worden sind.
Gegen den Antrag der Wirtschaftskommission und gegen die Meinung des Bundesrates genehmigten im Dezember die Nationalrätinnen und Nationalräte mit 85 zu 76 Stimmen die Standesinitiativen von fünf Westschweizer Kantonen.
Diese laden die Bundesbehörden ein:
- sich in den Verhandlungen mit der WTO und der EU einzusetzen für gerechte Arbeitsbedingungen und nachhaltige Produktionsverfahren bei allen Produkten, die in die Schweiz eingeführt werden;
- für alle Lebensmittel, die in die Schweiz eingeführt werden, eine Deklarationspflicht hinsichtlich der sozialen Bedingungen und der Nachhaltigkeit der Produktion zu verlangen;
- die Einfuhr von Nahrungsmitteln zu verbieten, die unter sozialen Bedingungen produziert werden, die zum Standard in unserem Land in frappantem Widerspruch stehen.
Es war eine Überraschung für viele, dass der Nationalrat diese Forderungen der Kantonsparlamente übernahm. Dieser Entscheid kam sicherlich auch dank den zahlreichen öffentlichen Protestaktionen von Personen und Organisationen zustande, die sich für eine soziale und ökologisch nachhaltige Nahrungsmittelproduktion einsetzen. Ihre Anstrengungen haben sich gelohnt. Einen besonderen Dank all jenen, die bei den verschiedenen Aufrufen des Europäischen BürgerInnen- Forums (EBF) mitgemacht haben.
Anderseits widerspiegelt dieses erfreuliche Resultat das wachsende Misstrauen großer Teile der Bevölkerung gegenüber der schnell fortschreitenden Industrialisierung der Lebensmittelversorgung und all ihrer Konsequenzen: das Verschwinden der bäuerlichen Landwirtschaft, die durch riesige Monokulturen und Tierfabriken mit BilligarbeiterInnen und «moderner Sklaverei» ersetzt werden, die sich häufenden Lebensmittelskandale, die Pestizidverseuchung von Boden, Luft und Wasser, die Zerstörung der pflanzlichen und tierischen Vielfalt, etc. Dazu kommt noch die Unverfrorenheit der Großverteiler, die in ihrer Propaganda eine bio-ökologische, naturnahe und sozial gerechte Lebensmittelproduktion vorgaukeln, die aber in Wirklichkeit mit ihrer Preispolitik die gravierenden Veränderungen in der Landwirtschaft fördern.
Seit mehr als 10 Jahren verlangen das EBF und andere Organisationen von den Großverteilern eine sozial und ökologisch verantwortungsvolle Einkaufspolitik. Trotzdem ist nicht viel geschehen. Die Standesinitiativen öffnen die Möglichkeit, politisch auf die Importe Einfluss zu nehmen. Deren Annahme durch den Nationalrat ist ein schöner Erfolg. Der Ständerat wird nun in diesem Jahr nochmals über die Initiativen abstimmen, die er im vergangenen Juni abgelehnt hatte. Wir sind somit weiterhin gefordert, so breit wie möglich über die Standesinitiativen zu informieren und mit den uns bekannten Ständeräten Kontakt aufzunehmen. Wir danken Ihnen im Voraus für’s Mitmachen.
Kleiner Rückblick auf das Jahr 2010
Im vergangenen Januar protestierten Konsumenten vor den Toren der Filialen der Großverteiler gegen den Verkauf von Mandarinen aus Rosarno. 10 Tage nach der Hetzjagd gegen afrikanische Landarbeiter in Rosarno boten gewisse Lebensmittelkonzerne (z. B. Coop) immer noch «billige Mandarinen» aus Rosarno an, obwohl sie in den Medien das Gegenteil behauptet hatten.
Im Februar jährte sich zum zehnten Mal das Pogrom von El Ejido gegen die marokkanischen Landarbeiter. Im Angebot findet man jetzt «Knospengemüse» (Bio) aus Almeria, welches mit Bestimmtheit nicht nachhaltig produziert wurde. Die sozialen Bedingungen für die ImmigrantInnen im Plastikmeer von Almeria sind unmenschlich und der Druck auf die Arbeitssituation aller LandarbeiterInnen ist sehr groß. Diesem Druck sind auch die Beschäftigten der «Biobetriebe» von Almeria ausgesetzt, ob sie nun in den einzelnen Betrieben eine bessere oder schlechtere Arbeitssituation vorfinden.
Im April fanden in 10 Westschweizer Städten gleichzeitig Protestaktionen gegen Früh-Erdbeeren und Billiggemüse aus menschenverachtender Produktion statt. Dazu hatten, unter anderen, Konsumentenvereinigungen, die Bauerngewerkschaft Uniterre, Bio Suisse, die Kooperative Longo maï, Unia und das EBF aufgerufen.
Im August prüften die Schweizer Kantonschemiker erstmals in einer nationalen Aktion, ob bei Früchten und Gemüse im Offenverkauf die Herkunftsangaben stimmen. Sie verwarnten darauf zwei von drei Lebensmittelgeschäften wegen mangelhaften Herkunftsangaben beim Verkauf von Früchten und Gemüse. Getestet wurden unter anderem je rund 100 Migros- und Coop-Filialen sowie Läden von Anbietern wie Denner, Aldi, Volg, Spar oder Manor. Die bemängelten Produkte betrafen gleichmäßig alle Verteiler und alle Regionen.
Im Oktober richtete die Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft einen offenen Brief an die ParlamentarierInnen. Der Brief fand in der ganzen Schweiz Gehör und wurde durch zahlreiche persönliche Stellungnahmen unterstützt.
Im November propagierte ein Großverteiler (Migros) in ganzseitigen Werbungen billige Gurken aus Spanien zu 70 Rappen. Gleichzeitig erreichten uns Meldungen über rassistische Auseinandersetzungen aus einem seiner Zulieferbetriebe in Almeria.
Im Dezember, kurz vor der Abstimmung im Nationalrat, meldeten sich dann auch noch die Schüler aus der BioSchule Schwand - angehende Bäuerinnen und Bauern - und inszenierten auf dem Bundesplatz in Bern, vor den Augen der ins Bundeshaus eintretenden ParlamentarierInnen, die unhaltbaren Bedingungen in der industriellen Gemüse- und Obstproduktion.
Im Dezember erreichte uns folgende Nachricht: Coop und Migros gehören angeblich zu den profitabelsten Detailhändlern Europas. Laut einer Untersuchung im Auftrag des Branchenverbandes der europäischen Markenher-steller European Brand Association in Brüssel erreichte Migros 2008 eine Bruttomarge von 37 Prozent, Coop kam auf 33,1 Prozent.
Wo ist da noch der Genossenschaftsgedanke, der den beiden Großverteilern zugrunde liegt und der Konsumenten und Produzenten Vorteile bringen sollte?