SCHWEIZ: Ein theologisches Plädoyer für die Migrationscharta

von Pierre Bühler, 13.05.2016, Veröffentlicht in Archipel 246

Die Migrationscharta nimmt eine biblisch-theologische Perspektive in Anspruch; deshalb spreche ich hier als Theologe 1. Theologie und Kirche haben aber eine gesellschaftliche Verantwortung; deshalb spreche ich am Schnittpunkt zwischen Theologie und Gesellschaft. Meine Reflexion habe ich in zehn Punkten formuliert. Es sind nicht etwa zehn Gebote, sondern einfach zehn Gedanken zu den Grundanliegen der Migrationscharta, die als Diskussionsimpulse zu verstehen sind.

1 - Man kann die Migrationscharta sehr einfach und sehr schnell abtun (wie auch von Gegnern schon zu lesen war…): sie sei zwar sehr nett, aber auch sehr unrealistisch; romantisch und marxistisch, ja populistisch; sie vertrete biblisches Gutmenschentum, bleibe aber abstrakt, greife nicht in der Wirklichkeit; usw.
Damit man die Migrationscharta wirklich ernst nimmt, muss geklärt werden, auf welcher Diskursebene sie spricht.
2 - Dafür möchte ich mich auf den französischen Philosophen Paul Ricœur (1913-2005) beziehen. Er hat in vielen Arbeiten immer wieder darauf hingewiesen, dass jede Gesellschaft eine «Sozialphantasie» (auf Französisch: «un imaginaire social») braucht, in der sie an sich selbst arbeitet, darüber nachdenkt, was sie ist, was sie sein will oder sollte. In diesem «imaginaire social» sieht Ricœur zwei grundlegende Diskurstypen am Werk, die einander bedingen, aber auch immer wieder miteinander rivalisieren und einander korrigieren: den «ideologischen» und den «utopischen».2
«Ideologie» (nicht bereits mit negativer Konnotation, sondern in neutralem Gebrauch des Begriffs) bemüht sich darum, den gegebenen Zustand zu rechtfertigen, an ihm zu arbeiten, um ihn immer besser abzusichern, damit die Gesellschaft möglichst so erhalten wird, wie sie ist. Deshalb steckt sie ab, was vom Gegebenen her möglich ist, und was nicht. Sie hat grundsätzlich einen befestigenden, legitimierenden Effekt.
«Utopie» (vom Griechischen her: ein «Nicht-Ort») will die Sozialphantasie dazu anhalten, zu überlegen, wie es auch anders sein könnte. Sie versucht, einen Perspektivenwechsel auszulösen, der es ermöglichen soll, die Probleme anders anzugehen. Den ideologischen Befestigungen gegenüber hat sie einen subversiven Charakter, weil sie etwas anderes will, das es so nicht gibt, das aber die eigentliche Lösung wäre.
Es geht also um unsere Grundeinstellung in Hinsicht auf die Werte, die Normen, die Überzeugungen, die das menschliche Zusammenleben prägen.
3 - Die Migrationscharta steht eindeutig auf der Seite des Utopischen, und das macht auch ihre Stärke aus. Wer sie gleich am Möglichen misst und sie des Irrealismus und der Abstraktion bezichtigt, antwortet ideologisch auf sie, und hat sie in dem, was sie will, gar nicht ernst genommen. Sie versteht sich nicht als «Kunst des Möglichen» (um eine klassische Definition der Politik zu zitieren), mit bereits fertigen Lösungen und klaren Handlungsanleitungen. Sie will provokativ, subversiv einwerfen, was ideologisch gesehen als unmöglich erscheint. Das macht ihre polemische Kraft aus, mit der sie die grundlegende Wahrnehmung der Probleme verschieben will. In Hinsicht auf Flüchtlinge: Die Ideologie überlegt, wie man möglichst unattraktiv bleibt, so dass möglichst wenige kommen; die Utopie fragt kühn: Was würde sich verändern, wenn man davon ausginge, es sollen möglichst viele kommen können?
4 - Die heutige Diskussion um Migration und Asyl wird in der Politik, in der Öffentlichkeit, in den Medien, und leider in den Kirchenleitungen meistens auch, ideologisch geführt, im Sinne von Ricœur: als ein Bündel von Problemen, das man technisch angehen muss, um es mit gewissen Massnahmen in den Griff zu bekommen, ein Fluss, der einzudämmen ist, Statistiken, die unter Kontrolle zu halten sind, Grenzen, die zu wahren sind, Missbräuche und Kriminalität, die zu bekämpfen sind, usw. Vom Bestehenden her sind Migration und Asyl als Bedrohung, und nicht als Chance, wahrgenommen, und mit Bedrohung lässt sich Angst schüren. Ideologie stiftet Angst vor der Bedrohung des Bestehenden.
5 - Die Migrationscharta formuliert eine neue Migrationspolitik von menschenrechtlich begründeten Grundrechten und ethischen Grundsätzen her. Sie bringt damit den traurigen Tatbestand zum Ausdruck, dass heute in der Migrationsfrage Grundrechte und ethische Grundsätze grösstenteils ins Utopische abgetrieben wurden. «Der öffentliche Diskurs über Flucht und Migration wird auch in der Schweiz in den letzten Jahren immer mehr jenseits von ethischen Leitlinien geführt.» Vielleicht müsste die Migrationscharta sogar sagen: «immer noch diesseits von ethischen Leitlinien», denn wenn man jenseits wäre, hätte man sie zumindest zur Kenntnis genommen! Und die Charta fügt hinzu: «Die entsprechenden Verschärfungen der Migrations- und Asylgesetzgebung verletzen elementare Rechtsgrundsätze.» Den ideologischen Diskurs stört das meistens nicht einmal: Man nimmt es hin, als Sachzwang, und deshalb ist die Erinnerung an ethische Leitlinien und Rechtsgrundsätze bereits subversiv.
6 - Natürlich gibt es in unseren Gesellschaften komplexe, schwierige Situationen, und damit muss auch sachgemäss umgegangen werden. Grundsätze und Grundrechte wollen jedoch als utopisches Ferment wirken, um den sachgemässen Umgang von den zu schnell hingenommenen Sachzwängen zu befreien. Die Botschaft könnte so lauten: «Lasst euch mal kurz versetzen, nehmt für einen Moment von den Sachzwängen Abstand: Was wäre denn, wenn freie Niederlassung für alle gelten würde, wenn alle in einer solidarischen Gesellschaft willkommen wären? Was würde sich verändern, wenn man nicht immer dafür sorgen würde, dass möglichst wenige kommen, sondern möglichst viele?» Ist das nicht, im Sinne von Ricœur, eine «heilsame Distanzierung», die möglicherweise eine erneute Wahrnehmung (Sub-version) stiftet?3
7 - Die Migrationscharta nimmt für sich biblische Grundlagen in Anspruch, indem sie in ihnen die utopischen Züge hervorhebt, die sie selbst in heutiger Gesellschaft und Kirche vertreten will. Es gibt zwar in der Bibel auch an vielen Stellen ideologische Diskurse, in denen die Sorge um das Bestehende herrscht: Die Eroberung Kanaans stand nicht im Zeichen der freien Niederlassung für alle, und das Königtum Davids oder Salomos wurde als Herrschaftsstruktur religiös legitimiert. Die «Grundstruktur der Bibel» sei jedoch, sagt die Migrationscharta, «herrschaftskritisch», in Anlehnung an «die Präferenz Gottes für die Ausgeschlossenen». In diesem Sinne vertritt die Migrationscharta in ihrer Auslegung der Bibel einen entschiedenen befreiungstheologischen Ansatz, im Sinne lateinamerikanischer Befreiungstheologie.
8 - Die Migrationscharta will die Kirchen, und damit auch die Kirchenleitungen, dazu aufrütteln, «ihre Kräfte [zu] bündeln und sich mit geeinter Stimme unmissverständlich zur Migrationspolitik [zu] äussern». Sie richtet sich aber nicht ausschliesslich an die Kirchen, denn die Migrationscharta wünscht sich auch «Zusammenarbeit mit religiösen und nichtreligiösen Gruppen und Organisationen» und will Bündnisse fördern. Das heisst für die Migrationscharta: Der Utopie, und damit verbunden, den Grundrechten und den ethischen Leitlinien, soll im öffentlichen Raum stärker Platz gewährt werden. Die Migrationscharta ist in diesem Sinne ein Stück «public theology» (wie man in den USA sagt), öffentliche Theologie, Theologie im öffentlichen Raum.
Mit anderen zusammen ruft sie die Schweiz öffentlich auf, die Präambel ihrer Bundesverfassung nicht zu vergessen: «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen».4
9 - Grundsätze und Grundrechte werden in einer Willkommenskultur «beseelt», sagt die Migrationscharta. Wie wir heute immer wieder sehen, ist diese Willkommenskultur aber auch (noch) eine Utopie, ein erhoffter «Nicht-Ort», der noch auf- und auszubauen ist. Biblisch hat sie zwar gute Tradition: Abraham empfängt überschwänglich die drei unbekannten Männer, die sich dann als Gottesboten enthüllen (Genesis 18). Deshalb kann der Hebräerbrief viel später in Anlehnung an diese Willkommensgeschichte sagen (Heb 13, 2): «Die Gastfreundschaft vergesst nicht, denn so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.»
Interessant ist hier der griechische Begriff: philoxenia, wörtlich: Fremdenliebe, im Kontrast zur ideologischen Xenophobie, Fremdenangst. Philoxenia ist die beste Voraussetzung für eine offene, kreative Integrationsarbeit.
10 - Migranten und Asylbewerber, und Menschen, die mit ihnen arbeiten und sich für sie einsetzen, stossen immer wieder auf Mauern und Stacheldrähte aller Art (im wörtlichen und im übertragenen Sinne!), die sie entmutigen, in die Resignation und Ohnmacht stürzen. Utopie schenkt Mut, Kraft und Humor, nicht zu verzweifeln.
Um hier als Schlusswort eine Stelle von Friedrich Dürrenmatt zu zitieren:
«Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen. [...] Es ist immer noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen.»5
Deshalb habe ich die Migrationscharta unterschrieben.

  1. Der Autor Pierre Bühler ist ein Schweizer reformierter Theologe. Er ist ordentlicher Professor für Systematische Theologie, insbesondere Hermeneutik und Fundamentaltheologie.
  2. Vgl. P. Ricœur, Ideologie und Utopie: zwei Ausdrucksformen des sozialen Imaginären, in: P. Ricœur, Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg, Felix Meiner Verlag, 2005, S. 135-152. Ausführlicher in: P. Ricœur, Lectures on Ideology and Utopy, New York, Columbia University Press, 1986.
  3. Anspielung auf Ricœurs Begriff der «distanciation», im Sinne von Abstandnehmen; vgl. P. Ricœur, La fonction herméneutique de la distanciation, in: P. Ricœur, Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris, Seuil, 1986, S. 101-117.
  4. Die französische Fassung ist noch schärfer, nämlich in wörtlicher Übersetzung: «dass die Stärke der Gemeinschaft sich misst am Wohl des Schwächsten ihrer Mitglieder».
  5. F. Dürrenmatt, Theaterprobleme, in: F. Dürrenmatt, Werkausgabe in siebenunddreissig Bänden, Zürich, Diogenes, 1998, Bd. 30, S. 65

MIGRATIONSCHARTA

Heimat ist dort, wo es gerecht zugeht.*
«Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft! Grundsätze einer neuen Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive.»
So heisst der vollständige Titel der Migrationscharta, die von dem ökumenischen Netzwerk KircheNordSüdUntenLinks verfasst wurde und im Jahr 2015 erschienen ist. Die Charta sorgt wegen ihrer klaren Verurteilung der gängigen Migrations- und Asylpolitik und wegen ihres aussergewöhnlich grosszügigen Ansatzes zu einer neuen Perspektive für Aufsehen. Sie formuliert die Grundsätze einer anderen Herangehensweise auf der Basis der Gleichheit aller Menschen, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Hier ein Auszug: «Für eine neue Migrationspolitik sind das Recht auf freie Niederlassung, das Recht auf Asyl und das Recht auf Existenzsicherung entscheidend. Diese Grundrechte (…) können aber nicht isoliert betrachtet werden. Ihnen direkt zugeordnet sind das Recht auf Mitbestimmung, auf Arbeit, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, das Recht auf angemessene Unterkunft, Bildung, Gründung und Schutz von Familie und Partnerschaft und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung.» Die freie Niederlassung steht dabei im Zentrum: «Das Recht auf freie Niederlassung – mit weltweiter Geltung – ist die Bedingung dafür, dass Migration auch für die Kleinen und Bedrohten in Würde geschehen kann. Migration darf nicht länger kriminalisiert und verächtlich gemacht werden.»
Die Verfasser_innen der Charta erinnern aber auch an Pflichten: «Mit dem Recht auf freie Niederlassung hängt eine Pflicht der Migrant_innen zusammen: Sie haben die vielfältige Identität der Menschen und Gemeinwesen anzuerkennen und zu respektieren, bei und in denen sie sich niederlassen.» Und sie plädieren für den «Ausbau einer breiten, sichtbaren und lebendigen Willkommenskultur: Sie ermöglicht es, dass Zugewanderte und schon länger Ansässige gemeinsam und gleichberechtigt die Gegenwart gestalten und die Zukunft planen.»
* Den ganzen Text der Migrationscharta, sowie die Liste der Unterzeichnenden und zusätzliche Informationen sind zu finden unter: www.migrationscharta.ch