Von August bis November 2015 waren Graines et Cinéma1 in den Dörfern Südfrankreichs mit ihrem mobilen Kino unterwegs. Sie informierten und diskutierten über bäuerliches Saatgut, den Volksaufstand in Syrien und die Nahrungsmittelsouveränität in diesem Land. Seit Januar sind sie wieder unterwegs – mit Saatgut für die «Gärten der Revolution». Ich bin mit ihnen aufgebrochen.
Ende Januar
Das Vorhaben der Gruppe ist ehrgeizig und langfristig konzipiert: schon in diesem Frühjahr soll das Saatgut in die verschiedenen syrischen Gebiete transportiert werden, und gleichzeitig wollen wir uns an der Gründung eines Netzwerks von Samenprodu-zent_innen im Libanon beteiligen, um unser französisches Saatgut an das lokale Klima anzupassen. Zuerst einmal benötigen wir Saatgut von guter Qualität. So kontaktieren wir in Frankreich Produzent_innen von bäuerlichem Saatgut und sammeln dieses für die Gärten Syriens. Für uns ist es wichtig, dass es sich nicht um Hybridsaatgut handelt: es geht doch um Autonomie und Nahrungsmittelsouveränität! Hybrides Saatgut wird in Syrien schon von NGOs und grossen Saatgutfirmen, die mit dem syrischen Regime zusammenarbeiten, verteilt.
Beim Einsammeln des Saatguts machen wir viele wertvolle Begegnungen und erhalten die erhoffte grosszügige Unterstützung. Allerdings stossen wir auch auf Leute, die das aktuelle syrische Regime verteidigen; diese Treffen erweisen sich dann schon als erheblich komplizierter. Wir unterstützen in erster Linie das aufständische syrische Volk – abseits von den politischen Fragen, den Verschwörungstheorien, der angeblichen Legitimität Russlands, den erfolglosen Verhandlungen in Genf, usw... Ich denke, dass die Informationen durch die grossen Medien stark gefiltert sind und sich oft auf einen Konflikt zwischen den drei grossen Kräften reduzieren. Nach Begegnungen mit Syrier_innen und ihren eigenen Erklärungen komme ich zum Schluss, dass die Existenz und die Rolle der populären revolutionären Kräfte, die für ein freies Syrien kämpfen, das seit vierzig Jahren unter einer Diktatur leidet, ganz absichtlich vergessen werden.
Ende Februar
Wir verfügen jetzt über viel Saatgut, das per Bus durch Italien, Griechenland und die Türkei bis in den Libanon transportiert werden muss. Um es den syrischen Freund_innen übergeben zu können, müssen wir uns der Grenze bei Gaziantep (Türkei) und dem Libanon annähern. Über diese Reise gibt es viel zu berichten, all diese kleinen Details, die schlussendlich den Unterschied ausmachen... Zum Beispiel einige Kilometer vor der französisch-italienischen Grenze, auf der Strecke über Ventimilia, ist eine starke Präsenz der Polizei unübersehbar, wahrscheinlich um den Mi-grant_innen den Eintritt nach Frankreich zu verwehren. In der Regel ist der Grenzübergang nach Italien problemlos, aber dieses Mal werden wir von Soldaten kontrolliert. Zum Glück nichts Schlimmes: eine kaputte Glühbirne, inquisitorische Blicke und schliesslich ein fast freundliches «Auf Wiedersehen». Wir haben ja das Glück, gültige Papiere zu besitzen… Diese Massnahmen entsprechen wohl den von Frontex geforderten verstärkten und militarisierten Grenzkontrollen.
Die Fahrt durch Italien verläuft ruhig! Wir schiffen uns in Ancona nach Patras ein und drei Tage später befinden wir uns in Athen, in Exarchia, einem aufständigen Quartier der Hauptstadt. Hier treffen wir uns mit Freund_innen von Peliti2 und diskutieren unser Programm für die nächsten Tage. Wir sind zu drei Anlässen eingeladen, um unsere Arbeit vorzustellen: in Athen im Botanischen Garten, in Aegina, einer Schule mit Garten und Saatgutproduktion und anschliessend im Norden Griechenlands in Drama bei einem agro-ökologischen Verein. Danach geht es weiter nach Komotini, einer Stadt nahe der türkischen Grenze. Dort treffen wir einen anderen Freund von Peliti, mit dem wir den Grenzübergang in die Türkei vorbereiten.
Ich bleibe noch in Athen und stosse drei Tagen später wieder zur Gruppe. Ich nehme den Zug, der von Athen über Thessaloniki und Drama nach Alexandropolis fährt. Ich brauche zwölf Stunden bis nach Drama. In Athen quillt der Bahnhof vor Menschen über; mindestens die Hälfte davon sind Flüchtlinge. Ihr Ziel ist der Grenzübergang nach Mazedonien. In den Eisenbahnwaggons ist ein riesiges Ducheinander und nicht sehr gastfreundliche Griech_in-nen schimpfen über die grossen Plastiksäcke voll Decken, die den ganzen Platz einnehmen. Draussen schreit eine Frau auf Griechisch, um über die Ankunft der Polizei zu informieren...
Es ist schon nach Mitternacht, der Zug fährt an, und der Schlaf übermannt die Reisenden. Aber die angespannten Augen der Flüchtlinge ruhen sich nicht aus. Um sechs Uhr morgens treffen wir in Thessaloniki ein, der Zug leert sich; ich fahre weiter nach Drama.
Der Weg der Träume und des Leidens, der Weg der Mutigen führt in den Norden nach Idomeni. Obwohl sie genau wissen, dass die Grenze zu Mazedonien geschlossen ist, versuchen sie trotzdem ihr Glück. Wir wissen von Freund_innen, die den Grenzübertritt auch versucht haben, es aber misslang, und sie nun an der Grenze fest sitzen...
Wieder mit meiner kleinen Gruppe im Kleinbus, diesmal Richtung Türkei. An der griechisch-türkischen Grenze fahren wir langsam: es gilt drei Checkpoints zu passieren. Beim ersten für die Personenkontrolle geht alles gut; beim zweiten für die Warenkontrolle fangen die Probleme an. Der Polizist befiehlt, den ganzen Bus zu leeren! Dreissig Minuten Diskussion mit drei Polizisten; nichts zu machen. Und beim dritten Checkpoint donnert uns ein autoritäres «nein» ent-gegen! Noch einmal dreissig Minuten Diskussionen, aber das «nein» ist definitiv.
Wir fahren nach Griechenland zurück, unsere Köpfe laufen heiss: wie können wir über die Grenze kommen? Zurück in Komotini arbeiten wir eine ausgeklügelte Strategie aus. Wir teilen uns in drei Gruppen auf: eine fährt per Bus in der Nacht nach Istanbul, eine weitere begibt sich mit dem Saatgut an die Grenze im Norden, und die dritte Gruppe nimmt den Bus einen Tag später. Nach dem Essen schauen wir uns in Komotini die Nachrichten an. In der Türkei findet binnen sechs Tagen ein zweiter Terroristenanschlag statt. Wir verstehen nun die polizeilichen Vorbehalte an der Grenze, ihren Stress und ihre Ungeduld etwas besser.
In der Türkei
Der Plan gelingt und einen Tag nach dem Attentat sind wir in Istanbul! Die angespannte Stimmung ist spürbar, unsere Freund_in-nen raten uns an, die wichtigen Verkehrsadern zu meiden. Sie informieren uns auch, dass die meisten Tourist_innen abgereist sind. Wie schon im Januar, als Tourist_innen aus Deutschland ermordet wurden, sind Feriengäste offensichtlich im Visier der Terroristen. Vielleicht ist es Paranoia, aber wir umfahren vorsichtshalber die Hauptstrassen. Alle Händler, denen ich begegne, erzählen von einem dramatischen Rückgang der Tourist_innen wegen der Anschläge. In den Quartieren ist alles sauber und das Nichtvorhandensein einer (politisierten) Strassenkunst weist für mich auf die nicht existierende Redefreiheit hin. Nur einmal im Zentrum der Stadt sah ich in orangenen Buchstaben die Aufschrift «I dont like Erdogan».
Der Weg nach Gaziantep ist mühselig. Keine Bäume weit und breit. Die industrielle Landwirtschaft hat die Landschaft in eine riesige, streng eingeteilte Wüste verwandelt. Endlich angekommen, finden wir unsere syrischen Freund_innen. Sie sind einfach und freundlich, sie erzählen uns Geschichten, Geschichten, die für viele Bücher reichen würden. In jeder Geschichte sehe ich, was sie gemacht und verloren haben. Das alles stimmt mich traurig, aber aus Respekt verstecke ich meine Gefühle, und wir verteilen das Saatgut.
Wir sind in Mersin, einer türkischen Hafenstadt und warten auf die Überfahrt nach Tripolis an der libanesischen Küste. Unsere Herzen hoffen auf die Erfüllung unserer Träume und umarmen Syrien!
- Graines et cinéma (Samenkorn und Kino), siehe Artikel Gärten in Syrien von Julia Bar-Tal, Archipel 238 (06/2015).
- Peliti : Netzwerk für bäuerliches Saatgut in Griechenland, siehe Artikel Internationales Saatguttreffen, Archipel 207 (09/2012).