Am 7. April 2022 wurde eine gemeinsame Erklärung der russischen und ukrainischen Linken gegen den russischen Imperialismus veröffentlicht. Es handelt sich um eines der wenigen Beispiele, bei denen eine absolute Übereinstimmung der Forderungen zustande gekommen ist. Wir veröffentlichen diesen Text als Diskussionsbeitrag; auch innerhalb des Europäischen BürgerInnenforums gibt es hierzu keine einheitliche Position.
Obwohl die Mehrheit der Linken die russische Invasion in der Ukraine verurteilt hat, fehlt es dem linken Lager noch an Geschlossenheit. Wir möchten uns an diejenigen in der Linken wenden, die immer noch an der Position einer geteilten Schuldzuweisung festhalten, die den Krieg als einen Krieg zwischen zwei Imperialismen betrachten.
Es ist höchste Zeit, dass die Linke aufwacht und eine konkrete Analyse der konkreten Situation vornimmt, anstatt abgenützte Rahmenkonzepte aus dem Kalten Krieg zu reproduzieren. Den russischen Imperialismus zu übersehen, ist ein schrecklicher Fehler der Linken. Es ist Putin, nicht die NATO, der den Krieg gegen die Ukraine führt. Deshalb ist es hier wichtig, den Blick auf Putins aggressiven Imperialismus zu lenken, der nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ideologische und politische Grundlage besitzt.
Der russische Imperialismus
Der russische Imperialismus besteht aus zwei Elementen: Erstens beinhaltet er einen revisionistischen russischen Nationalismus. Nach 2012 gingen Putin und sein Establishment von einem bürgerlichen Konzept der Nation als «rossijskij» (mit Russland verbunden) zu einem exklusiven, ethnisch begründeten Konzept des Russentums als «russkij» (ethnisch/kulturell russisch) über. Die Aggression Putins im Jahr 2014 und jetzt diejenige von 2022 wurden durch die angestrebte Rückgabe «ursprünglich» russischer Gebiete legitimiert. Darüber hinaus lässt dieses Konzept des (ethnischen) «Russentums» das imperiale Konzept der russischen Nation aus dem 19. Jahrhundert wieder aufleben, das die ukrainische und belarussische Identität auf regionale Identitäten reduziert. Nach dieser Auffassung sind Russ_inn_en, Weissruss_inn_en und Ukrainer_innen ein einziges Volk. Die Verwendung dieses Konzepts in der offiziellen Rhetorik beinhaltet die Negierung der unabhängigen ukrainischen Staatlichkeit. Deshalb können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass Putin nur die Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim und den Donbass will. Möglicherweise will Putin die gesamte Ukraine annektieren oder unterwerfen, wie er es in seinem Artikel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» und in seiner Rede vom 21. Februar 2022 androhte. Und schliesslich sind die Aussichten auf ein Ergebnis der Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland düster, da das russische Verhandlungsteam von dem ehemaligen Kulturminister Wladimir Medinski geleitet wird, einem der eifrigsten Verfechter der Ideologie der «russkiy mir» (der ethnisch russischen Welt) – einer Welt, in der, Ihr könnt es uns glauben, niemand glücklich sein wird.
Zweitens: Auch wenn Putins Aggression rational schwer zu erklären ist, haben die aktuellen Ereignisse gezeigt, dass es dennoch vernünftig sein kann, die russische imperialistische Rhetorik für bare Münze zu nehmen. Der russische Imperialismus wird von dem Wunsch angetrieben, die so genannte «Weltordnung» zu verändern. So könnte Putins Forderung nach einem Rückzug der NATO aus Osteuropa darauf hindeuten, dass Russland nicht bei der Ukraine stehen bleiben will, sondern auch Polen, Lettland, Litauen und Estland die nächsten Ziele von Putins Aggression sein könnten. Es ist sehr naiv, die Entmilitarisierung Osteuropas zu fordern, denn angesichts der derzeitigen Umstände würden die osteuropäischen Länder für Putins Aggressionen anfällig gemacht. Der Diskurs über die NATO-Erweiterung verschleiert Putins Wunsch, die Einflusssphären in Europa zwischen den USA und Russland aufzuteilen. Die Zugehörigkeit zur russischen Einflusssphäre bedeutet die politische Unterordnung eines Landes unter Russland und gleichzeitig die Unterwerfung unter die Expansion des russischen Kapitals. Die Beispiele Georgien und Ukraine zeigen, dass Putin bereit ist, Gewalt anzuwenden, um die politischen Angelegenheiten von Ländern zu beeinflussen, die seiner Meinung nach den russischen Einflussbereich verlassen wollen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Putin im Wesentlichen nur die USA und China als wichtigste Akteure in der Weltordnung sieht. Er erkennt die Souveränität anderer Länder nicht an und betrachtet sie als Satelliten eines dieser Akteure der internationalen Ordnung.
Putin und sein Establishment sind sehr zynisch. Sie benutzen die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, die amerikanische Intervention in Afghanistan und die Invasion des Irak als Vorwand für die Bombardierung der Ukraine. In diesem Zusammenhang muss die Linke Konsequenz zeigen und sich gegen jede imperialistische Aggression in der Welt aussprechen. Heute ist der imperialistische Aggressor Russland und nicht die NATO, und wenn Russland in der Ukraine nicht gestoppt wird, wird es seine Aggression fortsetzen.
Feind der Demokratie
Ausserdem dürfen wir uns keine Illusionen über Putins Regime machen. Es bietet keine Alternative zum westlichen Kapitalismus. Es ist ein autoritärer, oligarchischer Kapitalismus. Das Ausmass der Ungleichheit in Russland hat in den zwanzig Jahren seiner Herrschaft erheblich zugenommen. Putin ist nicht nur ein Feind der Arbeiterklasse, sondern auch ein Feind aller Formen der Demokratie. Die Beteiligung der Bevölkerung an der Politik und an freiwilligen Vereinigungen wird in Russland mit Misstrauen betrachtet. Putin ist im Wesentlichen ein Antikommunist und ein Feind all dessen, wofür die Linke im Zwanzigsten Jahrhundert gekämpft hat und im Einundzwanzigsten weiter kämpft. In seiner Weltanschauung haben die Starken das Recht, die Schwachen zu schlagen; die Reichen haben das Recht, die Armen auszubeuten, und die Machthaber haben das Recht, Entscheidungen im Namen ihrer entmachteten Bevölkerung zu treffen. Dieser Weltanschauung muss in der Ukraine ein schwerer Schlag versetzt werden. Damit es zu einem politischen Wandel innerhalb Russlands kommt, muss die russische Armee in der Ukraine besiegt werden.
Wir wollen eine höchst umstrittene Forderung ansprechen, nämlich die nach militärischer Hilfe für die Ukraine. Wir verstehen den Widerstand der Linken gegen die NATO-Erweiterung oder westliche Interventionen. Doch in einem grösseren Kontext betrachtet, haben NATO-Länder, trotz des Embargos von 2014, Waffen an Russland geliefert. Es waren Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, Bulgarien, die Tschechische Republik, Kroatien, die Slowakei und Spanien. Die Diskussion darüber, ob die in die Region gelieferten Waffen in den richtigen oder falschen Händen landen, kommt deshalb zu spät. Sie befinden sich bereits in den falschen Händen, und die EU-Länder würden mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine nur ihr früheres Unrecht wiedergutmachen. Ausserdem erfordern die Sicherheitsgarantien, welche die ukrainische Regierung vorgeschlagen hat, die Beteiligung einer Reihe von Ländern.
Wie in zahlreichen Artikeln betont wird, ist das Asow-Regiment ein Problem. Doch anders als 2014 spielt die extreme Rechte im heutigen Krieg, der zu einem Volkskrieg geworden ist, keine herausragende Rolle mehr – und unsere Genossinnen und Genossen der antiautoritären Linken in der Ukraine, Russland und Belarus kämpfen gemeinsam gegen den Imperialismus. Wie in den letzten Tagen deutlich geworden ist, versucht Russland, sein Versagen am Boden durch Luftangriffe zu kompensieren. Die Luftabwehr wird Asow keine zusätzliche Macht verleihen, aber sie wird der Ukraine helfen, die Kontrolle über ihr Territorium zu behalten und die Zahl der zivilen Todesopfer zu verringern. Die internationale Linke sollte auch die ukrainischen Linken unterstützen, welche Widerstand leisten, indem sie ihnen Sichtbarkeit und Gehör verschafft und sie finanziell unterstützt. Wir sind davon überzeugt, dass es die Millionen von ukrainischen Arbeiter_inne_n und Freiwilligen in der humanitären Hilfe sind, die den weiteren Widerstand möglich machen.
Eine Reihe anderer Forderungen – Unterstützung für alle Geflüchteten in Europa unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Erlass der Auslandsschulden der Ukraine, Sanktionen gegen russische Oligarchen usw. – sind in der Linken weithin akzeptiert und werden deshalb hier nicht diskutiert. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein schrecklicher Präzedenzfall für die Lösung von Konflikten, die das Risiko eines Atomkrieges beinhalten. Deshalb muss die Linke eine eigene Vision der internationalen Beziehungen und der Architektur einer internationalen Sicherheit entwickeln, die eine multilaterale nukleare Abrüstung (für alle Atommächte verbindlich) und die Institutionalisierung internationaler wirtschaftlicher Antworten gegen jede imperialistische Aggression in der Welt beinhalten sollte. Die militärische Niederlage Russlands sollte der erste Schritt zur Demokratisierung der globalen Ordnung und zur Bildung eines internationalen Sicherheitssystems sein, und die internationale Linke muss dazu einen Beitrag leisten. Wir sind der Meinung, dass die Europäische Linke unsere Forderungen an ihre Regierungen weiterleiten sollte.
Forderungen der Russischen Sozialistischen Bewegung und der Ukrainischen Sozialen Bewegung*:
- sofortiger Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine
- neue gezielte, persönliche Sanktionen gegen Putin und seine Multimillionäre. (Es ist wichtig zu verstehen, dass Putin und sein Establishment sich nur um ihr eigenes Privatvermögen kümmern; der Zustand der russischen Wirtschaft insgesamt ist ihnen gleichgültig. Die Linke kann diese Forderung auch nutzen, um die Heuchelei derjenigen zu entlarven, die Putins Regime und seine Armee unterstützt haben und sogar jetzt noch Waffen an Russland verkaufen.)
- Sanktionierung von russischem Öl und Gas
- verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine, insbesondere die Bereitstellung von Luftabwehrsystemen
- Einsatz von UN-Friedenstruppen aus Nicht-NATO-Staaten zum Schutz der Zivilbevölkerung, einschliesslich des Schutzes grüner Korridore und des Schutzes von Kernkraftwerken (das Veto Russlands im UN-Sicherheitsrat kann in der Generalversammlung überwunden werden).
*Die Russische Sozialistische Bewegung ist eine politische Organisation, deren Vision eines demokratischen Sozialismus auf Gemeinschaftseigentum, politischer Freiheit und Selbstbestimmung beruht. Die Ukrainische Soziale Bewegung ist eine demokratisch-sozialistische Organisation, die gegen die Herrschaft des Kapitals kämpft und sich für die Gleichberechtigung von Minderheiten einsetzt. Die Bewegung vereint soziale Aktivist_inn_en und Gewerkschaften.