Wir bringen hier ein Interview mit Tanja*, Mitarbeiterin bei den russischen Soldatenmüttern, einer Interessensgemeinschaft, die sich um das Schicksal von Soldaten kümmern.
Archipel – Was können die Männer tun, die nicht an die Front gehen wollen? Haben es welche geschafft auszureisen? Werden so nach und nach alle im wehrfähigen Alter jetzt in den Krieg geschickt? Was passiert mit "Gewissensverweigerern"?
Tanja – Es gibt Möglichkeiten, sich als «Gewissensverweigerer» zum «Alternativdienst» zu melden; solche Leute müssen vor einer Kommission aussagen, dass sie aus religiösen, politischen oder anderen Gründen nicht Militärdienst leisten können, was zu einer Befreiung führt. Viele Leute wissen nicht über ihre Rechte Bescheid, oder sie wissen nicht, wie man das konkret macht. Es ist unsere Aufgabe, die jungen Männer zu informieren und sie bei der Gewissensverweigerung zu unterstützen. Im Moment sind das noch wenige, aber wir erwarten eine deutliche Zunahme der Nachfrage mit der nächsten Rekrutierungswelle am 1. April 2022.
Viele Männer im wehrfähigen Alter sind ausgereist, aus Angst vor einer Generalmobilmachung. Wir haben Angst gehabt, dass es eine Generalmobilmachung geben wird. (D.h. Mobilisierung aller Männer im wehrfähigen Alter, inkl. Reservisten., Anm.). Dazu ist es aber (noch) nicht gekommen, und es ist in näherer Zukunft auch nicht zu erwarten. Das würde einen riesigen Aufschrei geben in der Bevölkerung. Was bis jetzt stattfindet, sind verstärkte Rekrutierungen vor allem junger Soldaten und deren oft zwangsweise Umwandlung zu Vertragssoldaten. (D. h. sie werden gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben., Anm.) Nur Vertragssoldaten dürfen in «Spezial-Operationen» eingesetzt werden, das ist eine Lehre, welche die russische Armee aus dem ersten Tschetschenienkrieg gezogen hat.
Anmerkung der Redaktion: Das ist die Situation vor allem in grossen russischen Städten im Norden des Landes. Die Umstände sind um einiges prekärer im Nordkaukasus, wo die Zwangsrekrutierung von Soldaten bereits zu ethnisch und anti-kolonialistisch gefärbten Protesten geführt hat, die jeweils brutal niedergeschlagen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei steigenden Opferzahlen gerade in Tschetschenien, aber auch in anderen autonomen Republiken eine neue Widerstandsbewegung gegen Moskau entstehen wird. Besonders alarmierend ist die Situation mit den Zwangsrekrutierungen auch in den sogenannten Volksrepubliken Donetsk und Luhansk; hier werden alle Männer zwischen 18 und 55 Jahren von der Strasse weg zwangsrekrutiert. Viele versuchen sich zu verstecken oder zu fliehen, um nicht zum Kämpfen in die Ukraine geschickt zu werden. (1)
Haben die Soldatenmütter, deren Söhne unfreiwillig in den Krieg geschickt wurden, eine Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu bleiben (oder zu treten) und sie eventuell zurückzuholen? Was passiert mit denen, die nicht an der Front bleiben, sondern gehen?
Ich kann nur über die Leute Auskunft geben, die sich an unsere Interessensgemeinschaft wenden. Es gab seit 2014 noch nie so viele Leute, die bei uns um Rat gefragt haben. Sie haben zwar Angst, persönlich vorbeizukommen, melden sich aber per Telefon auf unserer Hotline. Wir erwarten, dass diese Nachfrage ab 1. April noch deutlich zunehmen wird, mit der nächsten Welle der Aushebung von Rekruten. Die Anfragen betreffen insbesondere folgende Gebiete:
Mütter/Verwandte haben den Kontakt zu eingezogenen Familienmitgliedern verloren und möchten diese lokalisieren/zurückholen; Mütter/Verwandte haben ihre Söhne in ukrainischen sozialen Netzwerken als Kriegsgefangene gesehen und möchten Kontakt aufnehmen; Mütter/Verwandte, bei deren Söhnen der Status gegen ihren Willen oder sogar gegen ihr Wissen vom Rekrut zum Vertragssoldat umgewandelt worden ist, möchte sich zur Wehr setzen.
Den Leuten, die Kontakt zu ihren Familienangehörigen verloren haben, raten wir, über den letzten bekannten Punkt die Suche zu beginnen; meist sind dies Militärbasen in Belarus, in Südrussland oder auf der Krim. Von da aus gelingt es oft, die Söhne aufzustöbern – nicht direkt, aber plötzlich rufen sie an. In diesem Moment ist es ganz wichtig, dass man die richtigen Fragen stellt, knapp und präzise. Normalerweise rufen die Rekruten von fremden Telefonen an, die eigenen wurden ihnen weggenommen, und ein Vorgesetzter hört im Hintergrund mit. Deshalb instruieren wir die Angehörigen, dass sie sich auf essentielle Informationen beschränken sollen: Wo bist Du? In der Ukraine? In der Nähe welcher Stadt/welchen Dorfes? Eine Frau, der wir so helfen konnten, ihren Sohn zu lokalisieren, ist daraufhin in die Ukraine gereist und hat ihren Sohn und noch 40 weitere Rekruten zurück auf russischen Boden zurückgebracht. Es ist illegal, Rekruten in den Krieg zu schicken oder sie zwangsweise in Vertragssoldaten zu verwandeln. Aber wenn die Eltern sie nicht lokalisieren und zurückholen, wird das niemand tun.
Wenn die Soldaten lokalisiert sind, können wir den Familien helfen den unter Zwang abgeschlossenen Vertrag gerichtlich anzufechten. Oder wenn noch kein Vertrag vorliegt, raten wir den Rekruten nicht mitzugehen, solange kein schriftlicher Marschbefehl vorliegt; das kann bewirken, dass die jungen Männer gar nicht erst weggeschickt werden. Da es illegal ist, Rekruten gegen ihren Willen in den Krieg zu schicken, liegt in der Regel kein schriftlicher Marschbefehl vor, sondern alles geschieht informell. Männer, welche die Front verlassen wollen (und von ihren Verwandten dabei unterstützt/zurückgeholt werden), wird dies in der Regel ermöglicht. Die Armeeführung hat grosse Angst davor, dass kritische Soldaten an der Front andere anstecken und diese dann in Gruppen Alarm schlagen und vom Frontdienst zurücktreten. Deshalb lässt man in der Regel einzelne Unwillige gehen, in der Hoffnung, einen Flächenbrand zu vermeiden.
Stimmt es, dass die Moral vieler russischer Soldaten auf dem Nullpunkt ist und dass vor allem Spezialeinheiten die Gräueltaten ausführen?
Informationen von der Front sickern sehr selten durch, vor allem weil die Rekruten, wenn sie endlich wieder in Kontrakt treten, nur unter Beobachtung telefonieren können und daher sehr knapp Auskunft geben, «ich lebe noch». Damit über Soldaten Informationen über die Gräueltaten durchsickern, dazu braucht es wohl noch etwas mehr Zeit. Aber auch das wird kommen. Auch treffen in Russland nur vereinzelt offizielle Informationen zu gefallenen Soldaten ein, und wenn, dann werden diese auserlesenen Gefallenen als Helden begraben und die Familien bekommen Kompensationszahlungen. Wir vermuten jedoch, dass die Armee einen grossen Teil dieser sogenannten «Last 200» (=Lastwagen voll mit gefallenen Soldaten, Anm. d. Red.) zurückbehält, aus Angst vor der Reaktion der Massen, und weil sie keine Kompensation an die Familien zahlen wollen.
Sickert es so nach und nach auch bei der russischen Bevölkerung durch, dass Putin alle manipuliert (hat), oder ist der Grossteil des russischen Volkes überzeugt von der "Befreiung der Ukraine" usw.. Halt das, was sie in den Staatsmedien hören?
Im Moment steht die Mehrheit der Bevölkerung noch stramm hinter Putin und glaubt der Propaganda, darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen. D.h. die Menschen stützen nicht nur den Präsidenten, sondern dreschen auch wild auf alle Andersdenkenden in ihrer Umgebung ein. Es ist sehr viel Aggression in der Gesellschaft.
In unserer Arbeit konzentrieren wir uns darauf, denjenigen jungen Leuten zu helfen, die nicht zu «Zombies» geworden sind, d.h. die sich nicht mit Mainstream-Nachrichten zufrieden geben und dem Krieg (und ihrer Rolle darin) kritisch gegenüber stehen. Ich denke, die Zahl dieser Leute wird in der nächsten Zeit noch stark wachsen.
Das Interview führte Cécile Druey am 25. März 2022
*Name geändert
- Quelle: Interviews mit Frauen im Donbass, gemacht von Bekannten von C. Druey, publiziert in der Nowaja Gaseta vom 24. März 2022: https://novayagazeta.ru/articles/2022/03/24