Erinnern Sie sich noch an Riace in Süditalien? Dieses kleine Dorf, das vor 20 Jahren grosszügig die Flüchtlinge aufgenommen hatte, die an seiner Küste strandeten? Domenico Lucano, heute zum dritten Mal Bürgermeister, stellte den Flüchtlingen leerstehende Häuser zur Verfügung und förderte Landwirtschaft, Handwerk und sanften Tourismus, um das Dorf wieder zu beleben.
Seit Beginn unterstützen und begleiten wir dieses Projekt, das auf einfache Weise „Abwanderung“ und „Aufnahme von MigrantInnen“ verbindet. Im alten Dorfteil leben heute 300 Flüchtlinge zusammen mit der italienischen Bevölkerung.
Kleine Läden, Restaurants und die Schule sind wieder offen. Die engen Gassen haben sich wieder mit Leben gefüllt. Doch von den Geflüchteten sind die zahlreichen Neuankömmlinge noch auf Hilfe angewiesen, bis sie auf eigenen Füssen stehen können.
So hat uns vor kurzem ein dringender Hilferuf aus Riace erreicht. Ursprünglich bekam der Dorfverein „Città Futura“, der für die Aufnahme der Flüchtlinge in der Gemeinde zuständig ist, pro betreuter Person und pro Tag 35 Euro an staatlicher Beihilfe. Dies entspricht der geltenden Regelung für die Flüchtlingsbetreuung in ganz Italien.
Doch die italienische Regierung hat ohne Vorwarnung die finanzielle Hilfe an die Gemeinde eingestellt. Sie weigert sich zudem, bereits zugesicherte Zahlungen in Höhe von 650.000 Euro auszuzahlen. Sofort haben wir Riace besucht, um zu besprechen, wie wir helfen können. Zwischen Bürgermeister Domenico Lucano und uns besteht ein enges Vertrauensverhältnis.
Jetzt haben sich die Ereignisse überstürzt.
Kurz nach unserem Besuch wurde Domenico unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und unter Hausarrest gestellt: Er hätte die Müllabfuhr – vorher gab es keine – an eine Genossenschaft von Flüchtlingen vergeben, ohne das Angebot öffentlich auszuschreiben, zudem hätte er Heiraten zwischen Geflüchteten und ItalienerInnen arrangiert.
Inzwischen musste Domenico auf gerichtlichen Beschluss wieder freigelassen werden, weil sich diese Vorwürfe als unhaltbar erwiesen hatten. Er wurde aber von den Behörden sogleich wieder mit einer neuen Schikane belegt. Bis das Verfahren endgültig abgeschlossen ist, darf er sein eigenes Dorf nicht mehr betreten – eine eigentliche Verbannung. Auch diese Massnahme wird vor Gericht keinen Bestand haben, doch sie kostet Zeit und Nerven. Viele Gesetze und Verordnungen in Italien stammen noch aus der Mussolini-Zeit. Heute werden sie von der Regierung in Rom wieder benutzt, um politisch unliebsame Gegner fertigzumachen. Der rechtsextreme Innenminister Salvini will das erfolgreiche Modell von Riace zerstören! Flüchtlinge sollen nicht als Bereicherung betrachtet werden, sondern als Bedrohung.
Für die betroffenen Flüchtlinge und für das Dorf sind der Zahlungsstopp sowie die Verbannung ihres Beschützers eine Katastrophe. Zahlreiche Flüchtlinge, davon 50 Kinder, riskieren auf der Strasse zu landen. Die SozialarbeiterInnen, zum grössten Teil Frauen, die selbst als Flüchtlinge kamen, erhalten seit Monaten keinen Lohn mehr. Die Ladenbesitzer stehen vor dem Konkurs.
Was können wir tun?
Bis Anfang nächsten Jahres muss für die vom Staat verweigerten 650.000 Euro eine Lösung gefunden werden. In ganz Italien ist eine spontane Solidaritätsbewegung mit Riace entstanden. In Schulen, Spitälern, Kirchen und in sympathisierenden Gemeinden werden Unterschriften und Spenden gesammelt.
Trotz aller Solidaritätsbekundungen und Bemühungen fehlt noch die Hälfte der benötigten Summe. Jetzt braucht es uns! Wir alle sind gefordert und müssen eine zusätzliche Anstrengung unternehmen. Sehen Sie die Möglichkeit, selbst mit einem grösseren Betrag mitzumachen oder in Ihrem Freundeskreis dafür zu sammeln? Wir unterstützen Sie gerne dabei mit Unterlagen und sind auch bereit, für einen Vortrag zu kommen. Abgesehen davon freuen wir uns auch über jede kleinere persönliche Spende.
Wir dürfen uns jedoch nicht nur auf die Soforthilfe beschränken. Das Beispiel Riace muss langfristig überleben, um die Hoffnung auf ein anderes Italien und auf ein menschlicheres Europa weiter zu tragen. Domenico Lucano hat uns angefragt, an der Entwicklung eines Projektes mit zu arbeiten, das auf wirtschaftlicher Selbständigkeit beruht und nicht mehr durch Rom erpressbar ist.
Zu diesem Zweck muss die Herstellung lokaler Produkte, wie z.B. Olivenöl, verstärkt werden, das Handwerk noch mehr gefördert und der alternative Tourismus weiter ausgebaut werden. So können die neuen BewohnerInnen zu einer eigenständigen Existenz kommen.
Ein weiterer Schritt: In Richtung Vermarktung ist der Aufbau eines Nord-Süd-Solidaritätsnetzes wichtig. Sobald sich die Pläne konkretisieren, werden wir uns gerne wieder bei Ihnen melden.
Wir danken Ihnen für jede Unterstützung, die Ihnen möglich ist. Riace darf nicht untergehen!
Wir wünschen Ihnen und uns allen eine menschlichere und solidarische Welt. Mit freundlichen Grüssen Claude Braun