Selbsterklärtes Ziel der EU: die Bekämpfung von Migration. Besonders deutlich wird dies zurzeit an der polnisch-belarussischen Grenze. Fünf Aktivist·inn·en aus der Schweiz sind diesen Winter für mehrere Wochen in die Region gefahren, um die Situation vor Ort kennenzulernen und lokale Strukturen bei ihrer Arbeit in den Wäldern zu unterstützen. Wie brutal die Auswirkungen der Politik Brüssels und Berns sind, zeigt der folgende Bericht.
Viele Wege führen nach Europa. Dieser Satz hat in seiner Schlichtheit einen bitteren Beigeschmack. Die Routen, welche tausende «People on the Move» auf ihrer Suche nach Sicherheit oder Perspektiven über unterschiedliche Kontinente bis an die europäischen Aussengrenzen meistens zu Fuss zurücklegen, verändern sich fast mit jedem Jahr. Dabei werden die Wege immer länger und gefährlicher und die Gewalt, der die Menschen begegnen, immer brutaler und systematischer. Die Entwicklungen entlang der Routen ähneln dabei einem Katz-und-Maus-Spiel: Haben Menschen einen Weg nach Europa gefunden, der noch nicht von Frontex oder lokalen Grenzbeamt·inn·en überwacht wird, dauert es nicht lange, bis die EU neue Massnahmen für ebendiese Region verspricht. Mehr Grenzbeamt·innen, stärkere Kontrollen, intensivierte Überwachung – diese Herangehensweise wird von Brüssel über Bern bis Paris als «Lösung» angesehen. Dabei ist sie das keinesfalls.
Eine Lösung soll gemeinhin die Bewältigung einer herausfordernden Situation mit sich bringen. Was jedoch seit Jahren an den EU-Aussengrenzen passiert, ist eine Verlagerung der Umstände – keine Wahrnehmung von Verantwortung. Während vor ungefähr zehn Jahren Menschen hauptsächlich versuchten, die griechischen Inseln und Italien zu erreichen, und sich dort in Sicherheit wähnten, gab es einige Jahre später eine Verschiebung auf die sogenannte Balkanroute (wie zurzeit die Situation in Bosnien und Kroatien aussieht, ist in der letzten Ausgabe des Archipels von Dezember 2022 zu lesen). Mittlerweile berichten Menschen, die es nach Europa geschafft haben, von neuen Routen. So versuchen zum Beispiel immer mehr Menschen, über die Kanaren einzureisen. Oder, seit letztem Jahr vermehrt, über Länder wie Polen, Litauen und Lettland. Da, wo noch kein Militär hin delegiert und noch kein Stacheldraht errichtet wurde, entstehen alternative Wege – durch undurchdringliche Wälder, weitläufige Sümpfe, eisige Flüsse, über stürmische See. Was in den Medien berichtet wird, ist nicht allein die Beschaffenheit der Routen, sondern die drastische Zunahme an auf der Flucht verstorbenen Menschen und Vermissten. Es zeigt sich deutlich: Menschen hören nicht auf zu migrieren, stattdessen werden die Reisen länger und die Routen gefährlicher.
Migration wird gefährlicher
In der polnisch-belarussischen Grenzregion sind die Entwicklungen des letzten Jahres bezeichnend für die gesamteuropäische Migrationspolitik. Seit im August 2021 einer Gruppe von 32 Menschen aus Afghanistan und dem Irak bei Usnarz Górny zwischen Polen und Belarus, bewacht von einem Militäraufgebot, die Einreise und damit das Recht, Asyl zu beantragen, verwehrt wurde, ist die Route durch die polnischen Wälder und Sümpfe zu einem der gefährlichsten Landwege geworden.
Mitte November 2021 wurde der erste tote Körper, der eines 19-jährigen Syrers, in den Wäldern gefunden. Diese Nachricht liess nur erahnen, was darauf folgen sollte. In den letzten 14 Monaten ist die Zahl auf 27 bestätigte Todesfälle gestiegen. Mehr als 190 Menschen gelten als vermisst. Was in den belarussischen Wäldern geschieht, ist kaum bekannt. Die Risiken, die «People on the Move» zu bewältigen haben, sind zahlreich. Eine der grössten Herausforderungen sind die langen, kalten Winter. In der polnischen Region Podlachien fallen Temperaturen in den Wintermonaten bis auf minus zwanzig Grad. Kaum einer der Menschen, die versuchen das Gebiet zu durchqueren, ist für diese Wetterverhältnisse ausgerüstet. Mehrere Tage im Wald zu verbringen ist mit warmer Kleidung schon schwierig, doch viele Menschen kommen durchnässt und erschöpft in Polen an. Um über die Grenze zu gelangen, durchqueren «People on the Move» den Grenzfluss Bug oder waten durch die undurchsichtigen Sümpfe. Unterkühlung ist Todesursache Nummer eins. Wer den reissenden Fluss zu vermeiden versucht, gräbt sich unter der 186 Kilometer langen Stahlkonstruktion durch, die Polen diesen Herbst fertiggestellt hat, oder versucht deren fünf Meter Höhe zu überwinden. Die dadurch verursachten Knochenbrüche oder Verstauchungen hindern die Menschen an einer schnellen Weiterreise. Die Folge: noch mehr Nächte in den eiskalten Wäldern.
In der Zeit, die es braucht, um den Wald zu durchqueren, haben Menschen kaum Zugang zu Nahrung und Wasser. Im Sommer, wenn Pilze, Pflanzen und Beeren zu finden sind, steigt die Anzahl der Lebensmittelvergiftungen. Die einzige Wasserquelle sind dann Sümpfe oder verschmutze Pfützen. Im Winter gibt es weder das Eine noch das Andere. Neben den naturgegebenen Risiken existieren vor allem menschengemachte Gefahren. Was von anderen Grenzregionen bekannt ist, passiert auch an der polnisch-belarussischen Grenze. Menschen in den Wäldern von Polen werden von Grenzbeamt·innen aufgespürt, geschlagen, getreten und anderer physischer Gewalt ausgesetzt, bevor sie über die Grenze zurück nach Belarus gezwungen und dort in den Wäldern zurückgelassen werden. Ihnen werden Telefone, Geld und Kleidung geraubt und zerstört. Neben der körperlichen Gewalt erfahren Menschen auf der Flucht viel psychische Gewalt von staatlicher Seite. Das Ziel: Menschen dazu zu bringen, von einer erneuten Grenzüberquerung abzusehen. Auf belarussischer Seite werden die Betroffenen dann wiederum gezwungen, die Grenze zu Polen erneut zu überqueren.
Stacheldraht statt Solidarität
So wie die Knochenbrüche oder Schnittverletzungen in den podlasischen Wäldern Resultat von Polens Stacheldraht sind, so sind die gefährlichen Migrationsrouten Ergebnis einer europäischen Politik, die seit Jahren sichere Korridore nach Europa schliesst und stattdessen ihre Grenzen immer weiter externalisiert, Überwachungssysteme ausbaut und Grenzzaun um Grenzzaun errichtet. Über 1000 Kilometer davon stehen an EU-Aussengrenzen: Als Reaktion auf die Migrationsbewegungen 2015 errichtete Ungarn einen vier Meter hohen Zaun mit Betonfundament, Stahlgestänge und NATO-Draht-Krönung an seiner Grenze zu Serbien. Die Idee war nicht neu: In Ceuta und Melilla, den nordafrikanischen Enklaven Spaniens, wurden bereits 2006 im Rahmen der Frontex-Mission Hera massive Grenzzäune aufgezogen. Auch an der griechisch-türkischen Grenze und der bulgarisch-türkischen Grenze waren bereits seit 2012 bzw. 2014 Zäune befestigt. Und seither bauten Frankreich, Litauen sowie auch Polen weitere Grenzzäune. 5,5 Meter hoch und 187 Kilometer lang ist der Grenzzaun aus Stahl und Nato-Draht an der polnisch-belarussischen Grenze. Gekostet hat er 336 Millionen Euro. Und der Grenzzaun wird stetig ausgebaut: Erst im November 2022 wurden Bewegungsmelder und Wärmebildkameras installiert.
Grenzbeamt·innen, Polizei und auch das Militär patrouillieren in der Gegend. Sie stoppen Fahrzeuge, fragen nach Gründen des Aufenthalts und überprüfen in langen Prozeduren Identitäten von Personen. Auch Patrouillen der freiwilligen Armee WOT sind bewaffnet in den Wäldern unterwegs – lediglich ein sechzehntägiges Training ist dafür notwendig. Die knapp 200 Ortschaften umfassende Sperrzone, welche die polnische Regierung im September 2021 errichtete, wurde inzwischen aufgelöst. Doch ist es nach wie vor verboten, sich dem Grenzzaun näher als 200 Meter zu nähern. Überwachung, Polizei, Kontrolle – das ist Polens Antwort nicht nur an dessen Aussengrenzen, sondern auch im Innern des Landes. Wer in Polen ein Asylgesucht stellt, wird in einem sogenannten «Detention Center» (deutsch: Haftanstalt) eingesperrt – bis zur Dauer von 18 Monaten. In diesen Zentren, von denen es in Polen insgesamt sechs gibt, herrschen gefängnisähnliche Zustände: Es gibt immer wieder Berichte von Gewaltanwendungen durch Wärter·innen. Es fehlt an medizinischer und psychologischer Unterstützung; Menschen von aussen haben nur erschwert Zugang. Auch der Platz ist beschränkt: Zeitweise hatte jede Person nur 2 Quadratmeter zur Verfügung.
Wie die Gewalt gegen «People on the Move» in den podlasischen Wäldern bleibt auch vieles, was in den «Detention Centers» passiert, undokumentiert: Nur Handys ohne Kamerafunktion sind erlaubt.
Scheinheiligkeit par excellence
Menschen in geschlossenen Haftanstalten einzusperren und staatliche Grenzen mit Überwachungstechnologie aufzurüsten, löst die herrschenden Ungerechtigkeiten und Probleme der heutigen Zeit nicht. Die Milliarden, die in eine Politik gesteckt werden, die zu Gewalt statt Sicherheit führt, könnten andernorts einen weitaus sinnvolleren Beitrag leisten. Plätze für eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden oder die Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen wären nur zwei von vielen Möglichkeiten.
Denn eine solidarische Migrationspolitik ist möglich. Bereits heute wird viel unternommen, auch an der polnisch-belarussischen Grenze: «People on the Move» setzen sich dort täglich über die Abschottungspolitik hinweg. Und ein Netzwerk von polnischen Aktivist·inn·en und Kollektiven organisiert die Unterstützung der Menschen nach der Grenzüberquerung. Über eine Notfallnummer informieren «People on the Move» die Unterstützungsstrukturen über ihren Standort. Aktivist·inn·en packen daraufhin Rucksäcke mit dem benötigten Material und fahren mit dem Auto in den Wald. Zu Fuss, unbeobachtet von Grenzbeamt·innen, machen sie sich auf die Suche nach den Menschen und bringen ihnen, was sie brauchen: z.B. heissen Tee und Suppe, Thermounterwäsche und gute Schuhe, Schmerzmittel. Und so finden sich in den östlichen Wäldern Polens immer wieder neue Momente und Orte des Widerstands.
Elena Weigel, Aktivistin