Das jüngste Buch der Feministin und Soziologin Pinar Selek, das dieses Jahr auf Französisch erschienen ist (1), besteht aus Gesprächen mit dem Redakteur des Umweltmagazins Silence, Guillaume Gamblin. Das Buch vermittelt den Leser·inne·n Einblicke in den Lebensweg und die Universalität dieser zum Symbol gewordenen türkischen Exilierten, deren Kampfgeist immer schon von ihrer herzlichen Art geprägt war. Das Werk ist chronologisch aufgebaut, sodass die Leser·innen direkt zu Anfang eine junge Pinar kennenlernen, die in einer liebevollen, relativ wohlhabenden, aber trotzdem kommunistischen Familie aufwächst, welche sowohl von wunderbaren Märchen als auch von den engagierten Persönlichkeiten geprägt ist, die in der Apotheke ihrer Mutter ein und ausgehen.
1971–1998: Eine ereignisreiche Jugend
Der Staatsstreich von 1980 ist die erste kalte Dusche, als Pinars Vater, ein kommunistischer Anwalt, ins Gefängnis kommt. Wie anderswo sind auch in der Türkei die Auseinandersetzungen zwischen der etablierten Ordnung und der protestierenden «marxistischen» Jugend in vollem Gange. Es ist ebenfalls die Zeit, in der die kurdische Guerilla PKK beginnt sich zu organisieren. Diese Jahre prägen Pinar als Jugendliche und bestärken ihren Durst nach politischer Lektüre. Durch einen Zufall lernt sie in ihrer Heimatstadt Istanbul Strassenkinder kennen. Es ist eine intensive, aber nicht ganz einfache Begegnung: Sie muss sich als Junge verkleiden, um nachts an deren Seite bleiben zu können. Nach einigen Spannungen schliesst sie schliesslich Freundschaft mit dem Bandenchef des Viertels, der sich sogar davon überzeugen lässt, eine Idee umzusetzen, die ihr auf ihren Reisen nach Frankreich und Deutschland gekommen war: besetzte Künstler·innen-Häuser. «Diese Begegnung mag unglaublich erscheinen, aber durch sie habe ich gelernt, dass du, wenn du Türen öffnest, unheimlich viel zurückbekommst.» 1994 schreibt Pinar Selek sich an der Universität Mimer Sinan in Istanbul ein und entdeckt mit grosser Leidenschaft die «French theory» (Foucault usw.). Die Begegnung mit der «wunderbaren Soziologin» Meral Ozbek inspiriert sie. Sie liest auch bell hooks, Raewyn Connell, Christine Delphy und andere. Es ist ein Denkrahmen, in dem intime Themen öffentlich werden und LGBTI-Kämpfe entstehen. Pinar, die stets darum bemüht ist, den Kontakt zur Realität zu behalten, begegnet Sexarbei-ter·inne·n, Transexuellen und anderen Diskriminierten in Istanbul, mit denen sie ein Strassenkünst-ler·innen-Atelier aufbaut. Immer wieder richtet die staatliche Gewalt sich gegen sie. Pinar reflektiert die Artikulierung verschiedener Herrschaftsformen zusammen mit diesen gesellschaftlichen Aussenseiter·innen und ausgehend von dieser Vielfalt. So auch die Herrschaft der Menschen über die Natur, zu der sie durch die Lektüre des US-Amerikaners Murray Bookchin kommt.
1998-2000: Und dann fing der Albtraum an
1998 ist ein schreckliches Jahr, sie wird verhaftet und gefoltert, ihre Haft dauert von Juli 1998 bis Dezember 2000. Grund dafür ist ihre Befragung von Kurdinnen und Kurden sowie ihre Weigerung, der türkischen Polizei die Namen der Befragten preiszugeben. Als Haft und Folter ihr – trotz ihrer breiten Schwimmerinnen-Schultern – körperlich sehr zusetzen2, wird sie von kurdischen Gefangenen der PKK gepflegt, trotzdem will sie der Organisation nicht beitreten. Der türkische Staat geht in seiner andauernden Schikane gegen sie soweit, ihr ein angebliches Attentat vorzuwerfen. In Wirklichkeit war die Explosion einer Gasflasche auf einem Istanbuler Markt im Sommer '98, die den Tod mehrerer Menschen verursachte, ein Unfall, was ihre Verteidigerin im Laufe der Verhandlungen nachweisen kann. Doch in dem kafkaesken Fall folgen mehrere Wiederaufnahmen des Strafverfahrens auf verschiedene Freisprüche. 2019 besteht die Anklage gegen Pinar weiterhin und ihr droht eine lebenslange Haftstrafe. Als sie am 21. Dezember 2000 das Gefängnis verlassen kann, wird sie von einer solidarischen Menschenmenge empfangen. Doch die Erfahrung hat sie tief getroffen. «Durch die Gefängniserfahrung kann man die Dinge anders, auf viel tiefgründigere Weise sehen: Was es bedeutet Opfer zu sein auf der einen Seite, die Solidarität und den Widerstand auf der anderen Seite. Die gemeinschaftliche Existenz und die Individualität ebenfalls. Und auch das künstlerische Schaffen, trotz aller Unterdrückung. Doch dieses Trauma verletzt den Körper und die Seele. Meine geistige Kraft ist nicht mehr dieselbe. Die Dinge berühren mich viel stärker […] Meine Überzeugung und meine Liebe für die Freiheit und das Leben halten mich aufrecht. Und zugleich bereue ich nichts. Ich will kein anderes Leben, ich will eine andere Welt!»
2001-2009: Das Gefühl, dass alles möglich ist
Von 2001 bis 2009 lebt Pinar weiter in der Türkei und engagiert sich in verschiedenen, vor allem feministischen und antimilitaristischen Kämpfen. Angesichts des staatlich kontrollierten Feminismus oder des nebensächlichen Feminismus einer unbewusst patriarchalen Linken, kämpft Pinar für einen ganzheitlichen Feminismus, der das Privatleben als politisch ansieht. «Ich habe den Feminismus allerdings nie als Antwort auf alle politischen Fragen gesehen, denn er umfasst nicht alle gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht alle Probleme dieser Welt und meines Daseins,» stellt sie klar, die Artikulierung der unterschiedlichen Kämpfe für Freiheit und Gleichheit erscheint ihr absolut notwendig. Die 2000er sind auch die Jahre, in denen Pinar Selek das armenische Trauma entdeckt und den türkisch-armenischen Intellektuellen Hrant Dink kennenlernt, der seine Identität, entgegen der herrschenden Gepflogenheiten, nicht versteckt. Dink nennt Pinar «die Respektlose». Er ist Chefredakteur der zweisprachigen Zeitung Argos (die Furche), tabulos und gewaltfrei thematisiert er darin öffentlich den Genozid an den Armenier·in-ne·n. Er wird am 19. Januar 2007 ermordet. Die Tat führt zum Erwachen einer neuen solidarischen Generation. 2004 veröffentlicht Pinar ihre Studie Bar1·amad1k (Wir konnten keinen Frieden schliessen), in der sie mit den vorherrschenden militaristischen und autoritären Denkstrukturen bricht. Das Buch ist das Ergebnis ihrer Arbeiten im Gefängnis, die nicht nur mit den Machthabenden in die Kritik gehen: «Das Gebaren eines Teils der revolutionären Linken nährte meine antimilitaristische Kritik, denn ich bin der Meinung, dass Antimilitarismus sich nicht nur gegen die Armee richtet, sondern auch gegen jegliche Hierarchie, jegliche Legitimierung und Organisation von Gewalt und Macht. Alles hängt zusammen. Militarismus ist das Organisieren von Gewalt […] Wir stellten die Frage nach der organisierten Gewalt – in einem staatlichen und militärischen System, aber auch in revolutionären Organisationen. Unsere antimilitaristischen Gruppen waren transnational vernetzt und organisierten Workshops über Gewaltfreiheit.» Auf die Frage nach dem kurdischen Rojava in Syrien gibt Pinar eine differenzierte Antwort: «Die fortschrittliche Bewegung, die dort die Macht inne hat, versucht […] horizontalere Organisationsformen zu errichten. Sie ist jedoch in den anarchistischen Milieus in Europa zu einem Mythos geworden […] Meiner Meinung nach ist die PKK eine sehr hierarchische und patriarchale Organisation, die keineswegs libertär oder feministisch ist […] Ich kenne keinen libertären Wandel, der sich auf eine Armee stützt. Wenn man beginnt Waffen zu gebrauchen, muss man sich wie eine Armee strukturieren.»
Von 2009 bis heute: Andere Länder jenseits der Grenzen schaffen
Nach dem Beschluss des türkischen Kassationshofs (höchstes Gericht der Türkei) vom 7. April 2009, der den vorangegangenen Freispruch rückgängig macht und ihre Inhaftierung fordert, muss Pinar Hals über Kopf flüchten. Sie hat gerade genug Zeit, einen kleinen Koffer zu packen und den nächsten Flug nach Berlin zu nehmen (in ihrem Koffer befinden sich zwei, drei Kleidungsstücke, Fotos ihrer Schwester, ihrer Eltern und eines von Camille Claudel). Im Exil fehlt ihr nicht nur die Sprache, sie leidet unter Orientierungslosigkeit. Wie im Gefängnis, begegnet sie der Situation mit Offenheit, um angesichts der Trägheit der Zeit ihre eigenen Perspektiven und den Mut nicht zu verlieren. In Berlin begegnet sie wunderbaren Menschen, aber sie hat Angst, sich in den kommunitaristischen Beziehungen zu verlieren. Sie schreibt den Roman Halbierte Hoffnungen3 über eine Generation, die im Angesicht sozialer und politischer Unterdrückung nach Freiheit und Glück strebt. Er wird 2011 veröffentlicht, im gleichen Jahr wird sie von einem Schwurgericht zum zweiten Mal freigesprochen. Doch das Unglaubliche geschieht und die 12. Kammer des Istanbuler Strafgerichts geht ein drittes Mal in Revision. Ihr wird klar, dass ihr Exil wohl sehr lange sein wird. Das rechtliche Hin und Her der folgenden Jahre führt sogar zu dem (erfolglosen) Versuch der türkischen Behörden, ihre Auslieferung zu verlangen. Schliesslich geht sie nach Frankreich – erst nach Strassburg, dann nach Nizza. Das Exil inspiriert sie zu neuen Überlegungen und auch durch ihre Weigerung, sich als blosses Opfer zu sehen, entwickelt sie einen ikonoklastischen Blick: «Der Unterdrückten wird ein Raum zugebilligt, den sie nicht verlassen soll. Alles was den Opferstatus hervorhebt, wird sehr willkommen geheissen […] Nach und nach nimmt sie ihren Opferstatus als Identität an und definiert sich entsprechend. Doch eine Identität, die auf der erfahrenen Gewalt basiert, verdrängt alle anderen Seiten der Einzelnen und ihre Kompetenzen in den Hintergrund […] Die unterdrückte Gruppe fokussiert auf die Ungerechtigkeit, die ihr widerfährt, und legitimiert so das eigene Handeln. Wer eine Opferidentität annimmt, projiziert sich selbst in einen ewigen Unschuldsstatus.» In L’Insolente (Die Respektlose) erzählt Pinar Selek von ihrer Begegnung mit den selbstverwalteten Gemeinschaftshöfen von Longo maï. Die Bewegung entspricht ihrem Bedürfnis, in ihrem Protest nicht allein zu bleiben: «Wenn wir etwas Radikales erschaffen wollen, von der Wurzel ausgehend, dann müssen wir die Erde umgraben und sie bearbeiten […] Was mich erstaunt und mir Hoffnung gibt, ist, dass die Mitglieder von Longo maï in ständigem Wandel sind und sich immer wieder infrage stellen. Sie sind Ameisen, die ein wenig Grillen geblieben sind!» Am Ende von L’Insolente vermögen ihre wunderbaren Gedanken über die Schule des Lebens, wie sie durch eine Liebesbeziehung dargestellt wird, es nicht zu verdecken, dass sie selbst aber auch ihre Familie in der Türkei weiterhin bedroht sind. Und sie gesteht, dass es sie mitunter fast verrückt macht, ihre türkische Sprache und Kultur immer mehr zur verlieren, ohne in der französischen richtig angekommen zu sein. Manchmal ist sie es leid, immer kämpfen zu müssen, gerne würde sie einfach nur leben. Doch was kann sie, die – nach einer definition Mahmus Darwischs – an dem «unheilbaren Leiden» Hoffnung erkrankt ist, letztendlich über ihr Leben sagen? Sie schliesst das Buch mit folgenden Worten:Und was kann sie, die an dem unheilbaren Leiden erkrankt ist, das Mahmud Darwisch «Hoffnung» nennt, letztendlich über ihr Leben sagen? Sie schliesst das Buch mit folgenden Worten: «Auf den Wegen der Hoffnung macht man zauberhafte Begegnungen, schliesst tiefe Freundschaften, lernt zu teilen, zu lieben, zu reisen. So schafft man Glück.»
Auf Deutsch sind folgende Werke erschienen: Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt: Männliche Identitäten, Olanda Verlag , April 2010 Halbierte Hoffnungen, Orlanda Verlag, Dezember 2011
- L’Insolente, Dialogues avec Pinar Selek, von Guillaume Gamblin, Verlag Cambourakis, Silence, 2019.
- Sie ist immer viel geschwommen und tut es weiterhin mit grosser Leidenschaft, obwohl sie bis heute unter den Folgen der Folter leidet.
- Halbierte Hoffnungen, Orlanda, Berlin 2012