Die frühere Literatur kann uns immer wieder helfen, die Gegenwart zu verstehen. Die Pandemie durch Covid-19 hat mich zu Daniel Defoes «Journal of the Plague Year» geführt, das die Auswirkungen der «Grossen Pest» von 1665 in London beschreibt.* (1)
Das 1722, ein halbes Jahrhundert nach der Pest, veröffentlichte «Journal of the Plague Year», eine Mischung aus Roman, Geschichte, Autobiografie und Journalismus, beschäftigt sich mit der menschlichen Widerstandskraft im Angesicht des Extremen. In seinen bahnbrechenden Romanen «Robinson Crusoe» und «Moll Flanders» porträtierte Defoe Männer und Frauen, die aussergewöhnliche Herausforderungen überlebten, ohne ihren Sinn für Identität zu verlieren. Im «Journal des Pestjahres» wird der (fiktive) Erzähler nur als «HF» bezeichnet. Im Jahr 1665 war Defoe selbst erst fünf Jahre alt (und wurde schnell aus London evakuiert), aber von seinem Onkel, Henry Foe, ist bekannt, dass er während der Pest in der Stadt blieb und überlebte, so dass man annimmt, dass ein Grossteil der Erzählung von 1722 auf Henrys Erinnerungen basiert. Defoes umfangreiche ergänzende Recherchen sind es jedoch, die dem Journal seine journalistische Qualität verleihen, vollgepackt mit statistischen Belegen und überzeugenden anekdotischen Details, die durch die Ich-Erzählung eine unmittelbare Wirkung entfalten.
Distanz oder Vermischung?
Ein grosser Teil der Faszination des Journals rührt natürlich von den Parallelen zwischen unseren eigenen Erfahrungen und denen unserer Vorfahren vor dreieinhalb Jahrhunderten her. Soziale Distanzierung und Selbstisolierung waren in ihrem Leben offensichtlich genauso zentral wie jetzt in unserem: «Das beste Mittel gegen die Pest ist, vor ihr wegzulaufen. (...) Die Leute gingen in der Mitte der Strasse, näherten sich keiner anderen Person auf der einen oder anderen Seite (...), nur manchmal blieben sie stehen, schauten sie an und redeten mit ihnen, aber durch einen Zwischenraum getrennt.»
Einer der herzzerreissendsten Aspekte von Covid-19 war die Tatsache, dass die am schwersten Erkrankten im Spital nicht von nahen Verwandten besucht werden konnten; Defoe beschreibt, wie «Menschen, wenn sie eine ansteckende Krankheit hatten, bereit waren, ihrer eigenen Familie zu verbieten, in ihre Nähe zu kommen, um andere nicht anzustecken. Sie sind auch gestorben, ohne ihre nächsten Verwandten zu sehen, um diese nicht zu infizieren, und liessen sich durch die Krankenschwester, die Distanz hielt, deren Segen und Gebete zukommen.»
Im Jahr 1665 gab es, genau wie heute, Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Zeitpunkt, das zu beenden, was wir heute Lockdown nennen. Der Erzähler HF beschreibt, wie die Menschen die Pest voreilig für beendet hielten, obwohl «Ärzte den Leuten sagten, dass ein Rückfall tödlicher und gefährlicher sein könnte als die ganze Heimsuchung, die bereits stattgefunden hatte, (...) aber es war alles zwecklos, (...) sie öffneten die Läden, gingen durch die Strassen (...) und unterhielten sich mit jedem, der ihnen über den Weg lief. Dieses unvorsichtige und unüberlegte Verhalten kostete noch Vielen das Leben, auch denen, die zuvor grosse Sorgfalt und Vorsicht an den Tag gelegt und sich vor der ganzen Menschheit zurückgezogen hatten und dadurch bis zu diesem Zeitpunkt vor dieser Infektion verschont geblieben waren.»
Hass oder Hingabe
Der Mut und die Hingabe des medizinischen Personals wurde während der Grossen Pest genauso geschätzt wie heute; der Erzähler stellt fest, dass «Ärzte ihr Leben so weit riskierten, dass sie es sogar im Dienste der Menschheit verloren». Damals wie heute konnte die Situation das Beste im Menschen hervorbringen: «Es gab viele Fälle von unerschütterlicher Zuneigung, von Mitleid und Pflichtbewusstsein. Es gab aber auch solche, die versuchten, die Angst der anderen auszunutzen: «Sie liefen zu Beschwörern und Hexen und allerlei Betrügern, die sie ständig in Angst und Schrecken versetzten, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen», so wie es heute skrupellose Individuen gibt, die gefälschte «Heilmittel gegen Covid-19 verhökern.» In den letzten Wochen gab es deprimierende Berichte über Leute, die andere anhusten oder anspucken und sich damit brüsten, das Virus weiterzugeben; Defoe beschreibt einen Mann, der «eine Frau küsste und, was das Schlimmste dabei war, ihr noch dazu sagte, er habe die Pest und dass sie diese genauso haben sollte wie er.» Sowohl im siebzehnten als auch im einundzwanzigsten Jahrhundert zeigten extreme Situationen die menschliche Natur in ihrer inspirierendsten und entmutigendsten Form. Und die Menschen waren 1665 genauso erfinderisch wie heute; kontaktloses Bezahlen gab es vor 350 Jahren noch nicht, aber «ein Metzger rührte das Geld nicht an, sondern liess es in einen Topf voll Essig legen» und «ein anderer Händler nimmt den Geldbeutel mit der Zange auf und schüttelt das Geld heraus». Defoe stellt überzeugend den Wandel der Londoner von anfänglicher Selbstgefälligkeit zu zunehmender Angst dar. Zunächst dachten die Menschen «es würde gerade sie nicht erwischen und wenn doch, dann nicht so virulent.» HF berichtet von seiner eigenen wachsenden Unsicherheit und Paranoia: «Es war eine sehr schlechte Zeit, um krank zu werden, denn wenn sich jemand über irgendwelche Beschwerden beklagte, hiess es sofort, der hat die Pest (...) Ich war nicht ohne Befürchtung, dass ich wirklich infiziert war.» Der Kern dieser Befürchtung wird durch die Unsichtbarkeit der Pest erzeugt, durch die Tatsache, dass sie von Träger_inne_n weitergegeben werden kann, die wir heute als asymptomatisch bezeichnen würden: «Die Infektion verbreitete sich unmerklich und durch solche Personen, die nicht sichtbar infiziert waren, die weder wussten, wen sie ansteckten, noch von wem sie angesteckt worden waren. Wir sehen Menschen, die in der einen Stunde lebendig und äusserlich gesund sind und in der nächsten tot.» Er reflektiert über die tragische Ironie, dass «Menschen wandelnde Zerstörer geworden sind, vielleicht für eine Woche oder vierzehn Tage ... und diejenigen ruinieren, für deren Rettung sie ihr Leben riskiert hätten».
Stark betroffen: die Armen
Im April 2020 machte die Newsnight-Moderatorin der BBC, Emily Maitliss, darauf aufmerksam, dass Covid-19 nicht zu einer Nivellierung der sozialen Gegensätze führe, sondern im Gegenteil: «Diejenigen, die jetzt an vorderster Front stehen, sind disproportional die am schlechtesten bezahlten Mitglieder unserer Gesellschaft», von Transportarbeitern über Kassiererinnen bis hin zu Pflegerinnen. Defoes Erzähler ist ebenso klar, dass es die Ärmsten in der Gesellschaft sind, die am meisten gefährdet sind: «Die reichen Leute drängen aus der Stadt mit ihren Familien und Dienern. Sie alle eilen davon, während die Armen die gefährlichsten Arbeiten annehmen müssen, bei denen sie sich jederzeit anstecken können.»
Während HF den Bürgermeister und andere Beamte der Stadt dafür lobt, dass sie in London geblieben sind, um die Krise zu bewältigen (im Gegensatz zu Karl II. und seinen Ministern, die überstürzt flohen), ist er nicht unkritisch gegenüber ihrem anfänglichen Zögern, Massnahmen zu ergreifen: «Aus Mangel an rechtzeitigem Handeln ist eine so ungeheure Anzahl von Menschen in dieser Katastrophe versunken, die, wenn die richtigen Schritte unternommen worden wären, vielleicht hätte vermieden werden können», was auch aktuelle Debatten zu Covid 19 über den richtigen Zeitpunkt von Schliessungen und Ausgangssperren widerspiegelt. Und so wie heute Polizeibeamte für ihr oft stures Vorgehen kritisiert werden, zeichnet das Journal eine vergleichbare Begegnung zwischen Individuum und Beamtenschaft auf: John: «Warum halten Sie uns auf dem King's Highway an?» Polizist: «Wir haben das Recht, dich anzuhalten; unsere eigene Sicherheit verpflichtet uns dazu.»
Die englische Gesellschaft in den 1660er-Jahren war religiöser als die heutige und trotzdem fand in diesem Zeitraum eine wissenschaftliche Revolution statt. HF stellt fest, dass «die Pest auf natürliche Art verbreitet wurde. Bei niemandem im ganzen Land wurde jemals die Krankheit oder Infektion auf eine andere Art festgestellt als durch die Ansteckung von jemandem, der bereits vorher infiziert war.» Er wundert sich über den Charakter der Pest und spekuliert auch darüber, ob «mit dem Mikroskop Kreaturen von seltsamer, monströser und furchtbarer Gestalt gesehen werden könnten.» So wie jetzt die tägliche Presseinformation der Regierung immer mit der Zahl der Todesopfer von Covid-19 beginnt, wird Defoes Erzählung durch die «Rechnungen» unterbrochen – tägliche und wöchentliche Auflistungen der Toten. Er merkt schon damals an, dass es Bedenken gebe, dass die Zahlen zu niedrig veranschlagt seien: «Es wurde entdeckt, dass es eigentlich mehr Tote gab, die an der Pest gestorben waren, die aber falsch registriert waren: als an Fleckfieber oder an anderen Krankheiten Verstorbene. Dazu kamen die Opfer, die ganz einfach verschwiegen wurden.»
Die Zahl der Toten sprengte alle Dimensionen: «Die Beerdigungen wurden so zahlreich, dass die Einen für die Anderen nicht einmal mehr die Glocke läuten, trauern, weinen oder Schwarz tragen konnten, so wie sie es früher taten; auch konnte niemand mehr Särge für die Verstorbenen finden.» Die Kombination aus unerbittlichen Statistiken und den schrecklichen Beschreibungen der nächtlichen Überführung der Toten in die Massengräber verleiht einigen Passagen eine alptraumhafte, gotische Stimmung.
Das Journal endet mit einer warnenden Bemerkung. In den letzten Wochen wurde viel Hoffnung geäussert, dass wir uns selbst, unsere Gesellschaft und unsere Welt zum Besseren verändern könnten, sobald die aktuelle Covid-19-Krise vorüber sei – indem wir unsere Praxis, unsere Einstellungen und sogar unsere Werte ändern. Defoe reflektiert: «Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Stadt ein neues Gesicht hat und dass auch die Menschen ein solches zeigen, doch das Verhalten der Menschen ist genauso wie zuvor und es ist kaum ein Unterschied zu bemerken. Das Konkurrenzdenken, das den Frieden der Nation aufs Schwerste beeinträchtigt hatte, hat nicht aufgehört zu existieren.»
Eines der wichtigsten Dinge, die wir aus der Geschichte lernen können, ist jenes, wie wir vermeiden können, diese zu wiederholen.
James Burkinshaw
- Der Artikel ist im Original auf Englisch (April 2020) erschienen unter: http://portsmouthpoint.blogspot.com/2020/04/what-we-can-learn-from-journal-of.html
- Anm. d. Redaktion: Natürlich können die Auswirkungen der damaligen Pest und der heutigen Corona-Pandemie nicht direkt verglichen werden (z.B. die Tödlichkeit), sondern sollten im jeweiligen historischen Zusammenhang und entsprechend des jeweiligen Standes der Wissenschaft betrachtet werden. Der hier abgedruckte Artikel zeigt lediglich Parallelen zwischen den jeweiligen Wahrnehmungen und Reaktionen der Menschen über die Jahrhunderte hinweg auf.