PALERMO - Die Charta von Palermo – Utopie mit Zukunft?

von Jean Duflot, Schriftsteller, Essayist, Journalist, 02.08.2020, Veröffentlicht in Archipel 294

Nachdem Palermo schon seit Jahren zahlreiche Bootsflüchtlinge grosszügig empfangen hatte, gelang es der Stadtverwaltung im Jahr 2015 diverse internationale Organisationen(1) und ein lokales Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Initiativen für ein gemeinsames Manifest zu vereinen: eine Charta des Widerstands gegen die «Festung Europa» – ein Europa, das den Migrationsbewegungen immer mehr den Rücken zukehrt.

Seit der Verabschiedung dieser Charta für Bewegungsfreiheit in der sizilianischen Hauptstadt stellt sich die Frage nach deren Durchführbarkeit. Die rechtliche Gültigkeit und mögliche legislative Anwendung auf EU-Ebene wird nach wie vor abgelehnt.(2) Inwiefern wäre es möglich, den Resolutionen dieses originellen Textes oder zumindest einigen der darin vorgeschlagenen Massnahmen Gesetzeskraft zu verleihen? Im gegenwärtigen Kontext dürfte die Antwort auf diese Frage noch lange unklar bleiben. Heute wird die einstimmige Weigerung der Regierungen, die Diaspora der Migrant·inn·en zu legalisieren, damit begründet, dass sie eine Gefahr für das demokratische Gleichgewicht der Zielländer darstellen würden. Ihr «Eindringen» wird derzeit wie eine Art Epidemie behandelt, schädlich für die wirtschaftliche und/oder politische Gesundheit der wohlhabenden Länder. Es ist daher schwer vorstellbar, in der gegenwärtigen Dynamik eine gemeinsame Allianz schaffen zu können, die es ermöglichen würde, die Zugbrücken der Festung Europa zu senken. Es müsste ein allgemeines Bewusstsein geschaffen werden, das die Verantwortung Europas für die neokoloniale Ausbeutung und deren Folgen – Kriege um Rohstoffe, Flucht und Migration – zugeben würde. Daraus müsste sich ergeben, dass zumindest die Opfer dieser Politik, die den Weg nach Europa schaffen, korrekt behandelt werden.

Sinnvolle Aufnahme

Die Einwanderung, ein «Vektor der Unsicherheit» und sogar des «endemischen Terrorismus», eine «Haushaltsbelastung», ein «Faktor der Verarmung» in den Vorstädten, eine «Überlastung der Schulen», «mitverantwortlich für das Defizit der Sozialversicherung»... All dies sind Vorurteile, die in der öffentlichen Meinung weit verbreitet sind und die von den meisten politischen Parteien in ihrem Wettlauf um die Macht zunehmend aufgegriffen werden. Es ehrt eine Hafenstadt wie die sizilianische Hauptstadt, dieser negativen und irreführenden Propaganda mit einem anderem Weg zu antworten.

Seit Anfang der 1970er und 1980er Jahre, als Geflüchtete aus den Konflikten im Osten, im Nahen Osten und aus dem asiatischen Kontinent eintrafen, denen weitere aus dem Horn von Afrika und den Ländern südlich der Sahara folgten, öffneten die Stadt und ihr Bürgermeister Leo Luca Orlando(3) die Tore und sorgten dafür, dass diese Menschen in den Bezirken des Stadtzentrums und den äusseren Vororten aufgenommen wurden, die nach und nach durch deren handwerkliche und kommerzielle Aktivitäten rehabilitiert und aufgewertet wurden.

Ausgehend von den Auswirkungen dieser Einwanderung(4), die durch ökonometrische Erhebungen (Institut Pedro Arrupe) bestätigt wurden, hat Palermo auf einen Empfang gesetzt, der sowohl humanitär als auch pragmatisch ist. Die allmähliche Integration der Menschen, die in dieser Hafenstadt gelandet sind, hat auch zu einer Reihe von Neuerungen geführt, die sowohl den Einheimischen wie auch den Eingewanderten zugute kommen: Ausbau des Schulnetzes, Berufsausbildung und Schaffung einer Kulturabteilung, die von den Eingewanderten selbst verwaltet wird; Schaffung von «migrierender Literatur», von Festivals für bildende Künste und Musik und Tanz. Ein Umfeld der sozialen Integration, das Palermo zur «kulturellen Hauptstadt» Italiens gemacht hat.

Mutige Forderungen

Die grossen Einwanderungswellen von 2016-2018 voraussehend, hat die Stadtverwaltung daher im Jahr 2015 ein programmatisches Begrüssungsdokument, die Charta von Palermo, mit dem Titel «Von der Migration als Problem zur Mobilität als unveräusserlichem Menschenrecht» verbreitet. Auch auf Deutsch zu finden unter: www.comune.palermo.it. Im Widerspruch zum europäischen System der Grenzschliessung wird hier die Bereitschaft bekundet, Geflüchtete und Migrant·inn·en zu integrieren – mit dem einzigartigen Mut, das traditionelle urbane Modell auf den Kopf zu stellen und die Ausgestossenen von heute im Herzen der Stadt aufzunehmen(5).(...) Die in der Charta festgelegten Leitlinien wurden in Palermo von lokalen Bürger·innen-Initiativen im Rahmen von Debatten geprüft und diskutiert; ihre Umsetzung wurde auch von Jurist·inn·en, die sich für die Revision der Einwanderungsgesetze einsetzen, überprüft.

Die erste vorgesehene Massnahme, die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung, wirft von Anfang an eine Reihe von verfassungsrechtlichen Problemen auf. (…) In der Charta geht es darum, eine radikale Überarbeitung des Gastgeberrechts und in erster Linie die Abschaffung des Dublin-III-Vertrags zu fordern. Mit anderen Worten, das System der Zugangssperren abzuschaffen, die den freien Personenverkehr verhindern – in Übereinstimmung mit Artikel 13 der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» von 1948(6).

Der zweite Vorschlag, die Aufhebung des perversen wechselseitigen Zusammenhangs zwischen der Aufenthalts- und der Arbeitserlaubnis – der Verlust der einen führt zum Verlust der anderen – würde in Italien in der Kompetenz eines Gesetzesdekrets von Parlament und Senat liegen. Ihre Abschaffung hängt daher von den politischen Kräfteverhältnissen ab. (…) Kurzfristig wird dies wohl kaum geschehen. Doch mit dieser Forderung könnte ein Prozess in Gang gesetzt werden, der den Machtmissbrauch und die Nichteinhaltung der von Europa verfassten bzw. unterzeichneten Verträge denunziert. (7)

Leider sind Aufnahmestandards, die es ermöglichen, Migrant·inn·en in zunehmend gefängnisähnlichen Strukturen zu kontrollieren und zu konzentrieren (Hotspot, Cie, CPR) nach wie vor schwer zu verhindern. Die Entscheidung von Palermo, diese abzulehnen, zeigt jedoch, dass es mit ein wenig Mut und alternativer Organisation möglich ist, den Aufenthalt von Asylbewerber·inne·n und Personen, die internationalen Schutz suchen, zu humanisieren. In Übereinstimmung mit den Anforderungen der Charta hat die Stadt geduldig den Übergang von behördlichen Lagern zu Unterkünften in der Stadt (Gemeinde- und Pfarreiräume) und zur Aufnahme in den Häusern der Ein-wohner·innen ausgehandelt, z.B. für die Aufnahme von Minderjährigen in Familien. (…) Die Charta legt auch grosses Gewicht darauf, dass das Recht auf Schulbildung und medizinische Versorgung strikt eingehalten wird. Der Erfolg einer «kulturellen Kontamination» zeigt sich schon in den Anstrengungen, die im schulischen Bereich unternommen werden, von der Grundschule über die Berufsausbildung bis hin zu den Universitäten.

Frontex ist verfassungswidrig

Neuland betritt die Charta von Palermo mit der Forderung nach Abschaffung des Polizeimandats der militarisierten Grenzschutzagentur Frontex zur Unterdrückung der Migrationsbewegungen, damit widersetzt sie sich frontal den Richtlinien der EU. Keine Verfassungsbestimmung erlaubt ein solches Mandat und genauso wenig die repressiven Missionen, die diese von Europa finanzierte Söldnertruppe führt. Natürlich würde diese Entscheidung von der Bildung einer Mehrheitskoalition innerhalb der EU-Zentralverwaltung abhängen. Ein weiterer Legislativvorschlag der Charta besteht darin, in der gegenwärtigen ideologischen Debatte über das Recht auf Staatsbürgerschaft Partei zu ergreifen: Wer im betreffenden Land auf die Welt kommt, kann die Staatsbürgerschaft erhalten, egal welcher Abstammung er auch ist. Diese Massnahme würde den Status der Inhaber·innen von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen regularisieren und verbessern, so dass sie in den vollen Genuss einer effektiven Staatsbürgerschaft kämen. Ebenso würde der Vorschlag, Geflüchtete in die staatlichen Zivilregister einzutragen, diesen Menschen Zugang zu den damit verbundenen sozialen Rechten (Sozialversicherung, kommunale Hilfe, standardisierte Versorgung) verschaffen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die Charta von Palermo bereits als beispielhafter Rechtsrahmen für eine tiefgreifende Reform der gegenwärtigen europäischen Politik etabliert hat. Das entscheidende Hindernis für seine Umsetzung ist politischer Natur. Denn trotz aller humanitärer Implikationen dieses avantgardistischen Textes bleibt er im gegenwärtigen Kontext der so genannten und immer wieder herbeigeredeten Migrationskrise, die mit einer Vielzahl von Verfassungsverletzungen und Ausnahmegesetzen bewältigt wird, abhängig von parlamentarischen Entscheidungen und dem Entstehen progressiver Mehrheiten, die in der Lage wären, die derzeit vorherrschende Strategie umzukehren. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten Städte und Gemeinden, welche sich bereit erklären, die Charta von Palermo öffentlich zu unterstützen und auf ihrem Terrain umzusetzen.

  1. Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée, Menschenrechtsliga, Amnesty International, Oxfam, UN-Beobachter·innen, Jurist·inn·en und Rechtsanwälte, religiöse und gewerkschaftliche Vereinigungen, Netzwerk von Bürger·innen-Initiativen.
  2. Die Charta ist von den EU-Behörden nicht gebilligt worden. Ihr Inhalt bleibt für den Moment als Vorbildfunktion erhalten.
  3. Seit 1975, dem Jahr, in dem die Stadtsanierung der antiken Stadt begann («Der Frühling von Palermo»), haben die Palermitaner·innen ihn fünfmal zum Stadtpräsidenten gewählt.
  4. In Palermo ist die Bilanz zwischen den Kosten und dem durch die Einwanderung generierten Einkommen positiv.
  5. Die wohlhabenden Bevölkerungsschichten emigrierten in einen Gebäudegürtel zwischen dem Zentrum und den äusseren Vorstädten.
  6. Artikel 13: «Jeder Mensch hat das Recht auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit innerhalb der Grenzen eines Staates. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.»
  7. Konventionen zur Verteidigung von eingewanderten Arbeitnehmer·inne·n, ethnischen Minderheiten, Frauen und Kindern.