Am 25. Mai 2020 wird George Floyd, ein unbewaffneter Afroamerikaner, von einem weissen Polizisten in den USA vor laufender Kamera erstickt – weltweit gehen Hunderttausende von Menschen auf die Strasse und fordern das Ende von rassistischer Polizeigewalt.
Im Jahr 2019 gab es weltweit Protestbewegungen gegen Korruption und Machtmissbrauch oder für Umweltschutz und Klimagerechtigkeit, von denen wir dachten, dass sie sich dieses Jahr weiter ausbreiten würden. Doch dann der Schock im März: die Welt im Corona-Ausnahmezustand. Die Ursachen für die Proteste waren geblieben, doch die Menschen konnten sich nicht mehr versammeln, um ihre Forderungen kund zu tun. Hinter der Corona-Krise blieben die meisten anderen Missstände verdeckt. Niemand ahnte, wo die Maske zuerst fallen würde, doch dann geschah einmal mehr, was in den letzten Jahren fast zur tödlichen Routine geworden ist: ein unbewaffneter Afroamerikaner, George Floyd, wird in den USA vor laufender Kamera von einem weissen Polizisten ermordet. Einmal mehr und ein Mensch zu viel. Die Bewegung „Black lives matter“ (Schwarze Leben zählen) hatte seit 2014 Hunderte solcher Morde dokumentiert und immer wieder Proteste mit einem breiten Echo organisiert.
Sklavenhalter fallen vom Sockel
Doch dieses Mal stellte die Mobilisierung alle vorhergehenden in den Schatten: Innerhalb von kürzester Zeit gingen Tausende von Menschen in den meisten grossen Städten in den USA auf die Strasse – zusammen mit den Afroamerikaner_inne_n auch viele Weisse. Sogar zahlreiche Polizist_inn_en – zugegeben eine Minderheit – zeigten Verständnis für die Demonstrant_inn_en, fraternisierten mit ihnen und bezeugten mit einem Knie auf dem Boden, dass sie die rassistischen Morde verurteilen – ein Novum und Anlass zur Hoffnung, dass die undurchdringlichen Fronten ins Wanken geraten könnten. Neu ist auch, dass der Protest schnell eine weltweite Dimension erreicht hat: Hunderttausende Menschen demonstrierten und demonstrieren gegen Polizeigewalt und Rassismus in verschiedenen Ländern und Kontinenten. Und nichts ist mehr wie zuvor. So wie, nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs am Anfang der 1990er-Jahre, die Denkmäler der „Helden des Sozialismus“ demontiert wurden, um das angebliche Ende der Geschichte durch den Sieg des Kapitalismus einzuläuten, werden heute diejenigen von Sklavenhändlern, Sklavenhaltern und Kolonialisten vom Sockel gestossen. Nach dem Ende des „Kommunismus“ wird jetzt an den Grundfesten des globalen Kapitalismus gerüttelt. Denn ohne Sklavenhandel (1) und Kolonialismus hätte es keine derartige Anhäufung von Reichtümern für eine weisse Oberschicht in den USA, Lateinamerika und Europa (einschliesslich der Schweiz) gegeben, von denen heute noch Generationen von Privilegierten zehren. Und der Rassismus ist das Herrschaftsinstrument dazu – ein Konstrukt, das erfunden wurde, um die Sklaverei und den Kolonialismus zu rechtfertigen: dunkle Haut = minderwertig – Handelsware, mehr Tier als Mensch, Monster oder Untermensch. Mit Rassentheorien untermauerten so genannte Gelehrte und Wissenschaftler_innen die Minderwertigkeit der „schwarzen Rasse“ und die Vorherrschaft der Weissen.
Der Rassismus in uns selber
Rassismus ist eine Strategie der Entmenschlichung, die von Millionen von Menschen verinnerlicht wurde und in bewussten rassistischen Angriffen oder im „kleinen“ alltäglichen Rassismus zum Ausdruck kommt. Warum werfen zum Beispiel Fussballfans Bananen auf dunkelhäutige Spieler? Oder warum essen wir „Mohrenköpfe“? Warum teilen wir eigentlich die Menschheit nach „Rassen“ ein? Mit der aktuellen Bewegung wird glücklicherweise auch die Auseinandersetzung über den Sprachgebrauch neu aufgerollt. Alice Hasters, Autorin des Buches „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, (Carl Hanser Verlag 2019), erklärt in diesem Zusammenhang: „Wo Rechtsradikalismus immer rassistisch ist, ist Rassismus oft nicht radikal. Nicht die Intention qualifiziert eine Handlung oder eine Aussage als rassistisch, sondern die Denkstruktur, die dahinter steckt. Um sie zu erkennen, bedarf es der Aufklärung über Geschichte und soziale Strukturen.“(2) Auch niemand von den Weissen, die sich selbst als humanistisch, progressiv und antirassistisch begreifen – als Autor dieses Artikels schliesse ich mich da ein – ist gefeit vor eigenem Rassismus. Das N-Wort (3) wird in diesen Kreisen höchstwahrscheinlich nicht mehr verwendet. Aber es sind die vielen kleinen Details im täglichen Leben, der Mangel an Achtsamkeit oder die „gut gemeinten“ oder vermeintlich witzigen Bemerkungen von oben herab, mit denen wir zum Beispiel eine Mitstudentin oder einen Mitarbeiter dunkler Hautfarbe verletzen. Wir sollten uns mit diesen Fragen auseinandersetzen und uns immer wieder von neuem hinterfragen.
Aufarbeitung und Wiedergutmachung
Wenn das Gegenüber völlig entrechtet und entmenschlicht ist, kann es auch ausgelöscht werden. So schufen die deutschen Nationalsozialisten die Voraussetzungen für die Vernichtung der Juden und setzten den Holocaust in Gang. Die kolonialen Massaker wurden in einer ähnlichen Logik begangen. Gleichzeitig finden die Morde durch Rechtsextreme oder Polizisten an dunkelhäutigen Menschen in den USA und Europa vor dem Hintergrund der unaufgearbeiteten Vergangenheit von Sklaverei und Kolonialismus und des andauernden Einflusses derselben auf die weisse Mentalität der Gegenwart statt. Seit mehreren Jahren fordern verschiedene Initiativen Gerechtigkeit und auch Reparationen für Sklaverei und Sklavenhandel, Apartheid und kolonialen Völkermord. Doch dieses Unterfangen ist extrem langwierig und stösst auf enorme Hindernisse, denn die weissen Herrschenden wissen ganz genau, dass damit ihre Macht und ihr Reichtum grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wie viele Milliarden von Dollars, Euros und Franken müssten für eine materielle Wiedergutmachung aufgeworfen werden? Die Zerstörung der Denkmäler von weissen Ausbeutern und Völkermördern ist ein starkes Signal. Sowohl eine breite Aufarbeitung als auch eine moralische und finanzielle Wiedergutmachung der Verbrechen der Sklaverei und des Kolonialismus sind überfällig. Die jetzige anti-rassistische Bewegung könnte Schwung in diese Anliegen bringen und auch bereits bestehende Ansätze in dieser Richtung verstärken.
Rassistische Polizeigewalt in Europa
Doch zurück zum Ursprung von „Black lives matter“: Das Engagement für die Aufklärung und Verurteilung ungesühnter Fälle von tödlicher, rassistischer Polizeigewalt bleibt ein vordringliches Anliegen. Nicht nur in den USA, auch in Frankreich schliessen sich die Angehörigen von Opfern zusammen und erklären, dass es ohne Gerechtigkeit keinen Frieden geben kann. Die Opfer sind meist Menschen mit dunkler Hautfarbe von einer jungen Generation, die keine koloniale Unterdrückung oder Sklaverei am eigenen Leib erlebt, aber die Stigmatisierung und Benachteiligung aus dieser Zeit geerbt hat – sozial, wirtschaftlich und kulturell. Als äusserliches Erkennungszeichen dafür dient die dunkle Hautfarbe. Einer der bekanntesten Fälle in Frankreich ist der Tod des 24-jährigen Adama Traoré im Jahr 2016, der auf dem Revier von mehreren Polizisten zu Boden gedrückt wurde und dabei erstickt ist. Wenige Tage nach dem Mord an George Floyd in den USA kam ein skandalöses ärztliches Gutachten über den Tod von Adama zum Schluss, dass der junge, sportliche Mann an einem „kardialen Lungenödem“ gestorben sei und nicht durch die Brutalität der Polizisten. Neben der Solidarität mit der Bewegung in den USA war dies der Anlass, dass das Komitee „Vérité et Justice pour Adama“ (Gerechtigkeit und Wahrheit für Adama) , zusammen mit Angehörigen von vielen anderen Opfern, zu Kundgebungen aufrief, die zehntausende Menschen in ganz Frankreich auf die Strassen brachten – trotz Demonstrationsverbot wegen Covid-19. Die offiziellen Rechtfertigungen, wenn ein unbewaffneter Mensch mit dunkler Hautfarbe von Polizisten getötet wurde, ähneln sich über die Staatsgrenzen hinweg: Die Person war aggressiv; die Ordnungshüter mussten sie bändigen; wenn Filmaufnahmen das Gegenteil beweisen, wird das Strafregister der/des Getöteten hervorgeholt und Drogen kommen ins Spiel. Wenn all das nicht gegriffen hat, dann stellen amtliche Ärzte fest, dass der Getötete schon vorher an einer Herzschwäche oder an einem ähnlichen Gebrechen gelitten hat. Diese Art der Vertuschung betrifft auch Fälle in Deutschland und in der Schweiz. Die Familien finden keine Ruhe, solange die Morde an ihren Angehörigen straflos bleiben. Die breite Mobilisierung und der öffentliche Druck könnten endlich bewirken, dass sich das ändert. Der Tod von George Floyd war ein Fanal, um dem Rassismus künftig keine Chance mehr zu lassen.
- „Zwischen dem Anfang des 16. Jahrhunderts und den 1860er Jahren wurden geschätzt zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder versklavt und über den Atlantik verschifft. Etwa eine Million starb bei der Reise unter furchtbaren Bedingungen.“ (Die blutige Basis des britischen Wohlstands, Neue Zürcher Zeitung, 13.6.2020).
- Zitiert in: „Jetzt nicht ausweichen!“ von Anne Strotmann, Publik-Forum, Nr.11/2020
- Der Begriff „Neger“ (nachfolgend: N-Wort) steht für die Herabwürdigung und Entmenschlichung Schwarzer Menschen.