In Österreich wurde das Asylrecht so verschärft, dass es für einen Grossteil der Geflüchteten gar nicht mehr existiert. Die Stimmung im Land ist angeheizt wie schon lange nicht mehr.
Der Kandidat der extremen Rechten hat bei der Präsidentenwahl 35 Prozent der Stimmen erhalten. Die Mitte zerbröselt; die Kandidaten der SPÖ (sozialdemokratisch) und ÖVP (bürgerlich- konservativ) erhielten jeder knapp über 10 Prozent. Es kommt zu einer Stichwahl. Ob der grüne, jedoch sowohl von Linken als auch von manchen Bürgerlichen unterstützte Van der Bellen das Aufholrennen gegen den Rechtsaussenpolitiker Hofer schafft, ist heute (Ende April) noch ungewiss.
Vorangegangen ist der – von der Regierung bewusst herbeigeführte – Zusammenbruch des Asylaufnahmesystems im Sommer 2015. Obwohl jeder Medienkonsument wusste, dass in Syrien Krieg herrscht und kein Ende absehbar ist, hatte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner keine Vorsorge getroffen, um die zu erwartende Massenflucht aufzufangen.
Das Flüchtlingslager Traiskirchen war so heillos überfüllt, dass viele Menschen im Freien unter Bäumen, ja sogar auf der Straße schlafen mussten. Die Klos waren völlig verdreckt und die Ministerin war nicht einmal imstande oder auch nur gewillt, sie reinigen zu lassen. Die skandalösen Zustände wurden von Amnesty International heftig kritisiert. Als die Innenministerin ankündigte, sie werde neue Asylanträge überhaupt nicht mehr bearbeiten lassen, hielt «Asyl in Not» am 19. Juni 2015 die erste Demonstration für ihren Rücktritt ab.
Der qualvolle Erstickungstod von 71 Menschen in einem Kastenwagen in Parndorf, den Mikl-Leitner vergebens für eine Antischlepperkampagne auszunützen versuchte, öffnete vielen die Augen. Die Schreckensbilder vom brutalen Vorgehen der Orban-Polizei gegen Flüchtende, die es bis Ungarn geschafft hatten, ebenso. Hunderte Österreicher_innen fuhren mit ihren PKWs nach Ungarn, um Flüchtende über die Grenze nach Österreich zu schleusen (Aktion «Flüchtlingskonvoi – Schienenersatzverkehr»1).
Effiziente Solidarität
So erzwang die Zivilgesellschaft, im Bund mit den Flüchtenden selbst, die Öffnung der Grenzen. Der Staat hatte für einen Augenblick abgedankt; hunderte freiwillige Helfer_innen organisierten die Aufnahme und Verpflegung an den Bahnhöfen; die Menschen sahen, dass das Organisieren gesellschaftlicher Prozesse in Selbstverwaltung und ohne Staat viel besser funktioniert: unser kurzer September der Anarchie…
Am 3. Oktober 2015 demonstrierten siebzigtausend Menschen in Wien für offene Grenzen und für Mikl-Leitners Sturz. Ein paar Wochen lang waren die Rechten ziemlich stumm; wir bestimmten den Diskurs. Aber schon damals begannen erste Gegenangriffe: Die Asylbehörde missbrauchte die Öffnung der Grenze als Falle, um gegen die zunächst Durchgewunkenen sogleich individuelle Dublin-Verfahren2 einzuleiten. Aber diese Versuche scheiterten an unseren Rechtsmitteln und an der Judikatur: Ungarn (das Flüchtlinge nach Serbien abschiebt) gilt seither als nicht sicherer Dublin-Staat.
Zu Jahresbeginn 2016 setzte eine massive Hetzkampagne ein, die den islamistischen Terror ebenso ausnützte wie die Ereignisse in Köln und ähnliche in Österreich verübte Verbrechen; es war bewundernswert, wie die ärgsten rechten Frauenhasser sich auf einmal als Beschützer «unserer» Frauen gegen die «Fremden» aufspielten.
Hätte es diese Ereignisse nicht gegeben – man hätte einen anderen Vorwand gefunden für den rechten Gegenschlag, der zu einer Zeit erfolgte, als viele der (vom Staat allein gelassenen) freiwilligen Helfer_innen vor Erschöpfung nicht mehr konnten.
Aber die Solidarität blieb ungebrochen. Hunderte im Vorjahr entstandene kleine Initiativen setzen ihre Arbeit fort. Am 19. März 2016 marschierten zehntausend Menschen in Wien für eine menschliche Asylpolitik und für den Rücktritt der Polizeiministerin. Die Regierung kündigte eine massive Gesetzesverschärfung an. Zugleich veranstaltete die FPÖ zwei Hetzkundgebungen gegen Flüchtlingsheime in den Wiener Arbeiterbezirken Liesing und Floridsdorf. Unsere gleichzeitigen Gegendemonstrationen waren jedoch viel stärker besucht. In Liesing meldeten sich spontan 130 Menschen aus dem Bezirk zur freiwilligen Betreuungsarbeit für die Geflüchteten im dortigen Heim.
Mikl-Leitner, durch unser Dauerfeuer zermürbt, warf das Handtuch. Ihr Nachfolger Sobotka ist um keinen Deut besser. Trotzdem war ihr Sturz unser Sieg. Mikl-Leitner war nicht die erste und wird nicht die letzte sein; eine Kerbe mehr in meinem Kugelschreiber…
Mittlerweile wurde die Gesetzesverschärfung vom Parlament abgesegnet. Sie ermöglicht es der Regierung, einen Notstand zu proklamieren, wenn angeblich Gefahr für die Sicherheit besteht, und sodann per Verordnung die verfahrensfreie Zurückweisung schutzsuchender Menschen an der Grenze durchzuführen.
Im Asylverfahren gilt die Dublin-Verordnung: Flüchtende müssen im ersten EU-Land, das sie betreten, den Asylantrag stellen. Wenn sie weiterflüchten, schiebt man sie zurück. Aber dazu musste bisher ein Verfahren durchgeführt und ein Bescheid erlassen werden, gegen den wir eine Beschwerde einbringen konnten, und wie erwähnt, hatten unsere Rechtsmittel öfters Erfolg. So werden Griechenland und Ungarn eben nicht mehr als sichere Dublin-Staaten angesehen.
Die Gesetzesverschärfung
Genau das hat den Herrschenden nicht gepasst. Daher die Gesetzesänderung. Sie wirft uns rechtlich weit zurück. Denn sie schneidet die Geflüchteten vom Zugang zum Recht ab: Wenn sie am Grenzzaun hängen bleiben, den uns Mikl-Leitner hinterlassen hat, dann ist klar, über welches EU-Land sie kommen; und dorthin schiebt man sie sofort zurück. Bis zu uns NGOs kommen sie gar nicht mehr durch; daher wird es schwer sein, für sie Beschwerden einzubringen. Abschiebung – unter Ausschluss des Rechtswegs und der Öffentlichkeit. Wir werden aber trotzdem, da bin ich sicher, in einigen Fällen Vollmachten erhalten und Rechtsmittel ergreifen; ich bin auch überzeugt davon, dass wir diese verfassungswidrigen Abschiebungen in letzter Instanz zu Fall bringen können (ähnlich wie bei früheren Gesetzesverschärfungen), aber bis dahin können Jahre vergehen und es werden viele Menschen unter die Räder kommen.
Der neue Innenminister Sobotka hat in einem Zeitungsinterview erklärt, der ungarische Justizminister habe ihm versichert, dass Ungarn absolut sicher sei; also werde er dorthin zurückschieben… Na ja, wenn der es sagt! Uns liegen Berichte syrischer Flüchtlinge vor, die in Ungarn zu zwanzigst in einen Gitterkäfig gesperrt wurden, 18 Stunden lang, ohne Essen und Trinken; ohne Möglichkeit, aufs Klo zu gehen. Ein sicherer Dublin-Staat!
Als nächstes wird Sobotka uns erzählen, der Kalif al Baghdadi habe ihm erklärt, dass der Islamische Staat ein todsicheres Herkunftsland sei und keine Andersgläubigen verfolge, so dass man auch dorthin abschieben könne.
Weitere Verschärfungen: «Asyl auf Zeit», auf drei Jahre befristet. Ein krasser Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention, die Asylaberkennungen nur in Ausnahmefällen, bei nachhaltiger Änderung im Herkunftsland, in der Regel jedoch die beschleunigte Einbürgerung anerkannter Flüchtlinge vorsieht. Auch der Familiennachzug wird weiter erschwert. Da die Balkanroute auf Betreiben Österreichs geschlossen wurde, sitzen zahllose Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen in Idomeni fest. Grosser Dank gilt den vielen Freiwilligen aus Österreich und anderen Ländern, die dort (koordiniert von der Volkshilfe) seit Monaten im Einsatz stehen. Viele andere werden auf die noch gefährlichere Seeroute ausweichen; daher werden neue Schiffbrüche mit tausenden Toten zu erwarten sein.
Die Gesetzesverschärfung wurde möglich durch den perfiden Kurswechsel des vormaligen Bundeskanzlers Werner Faymann, der sich mit dem Winde drehte, als es nicht mehr genügte, Flüchtende nach Deutschland durchzuwinken, sondern viele in Österreich blieben. Faymann wurde daher am 1. Mai 2016 bei der Kundgebung am Rathausplatz von vielen empörten Parteimitgliedern ausgepfiffen und niedergeschrien; wenige Tage später trat er zurück. So haben wir gleich zwei unserer Gegner kurz nacheinander stürzen gesehen; ein Beweis dafür, dass Protest sich lohnt. Faymanns Nachfolger Christian Kern, bisher Chef der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), hatte im Herbst 2015 den Weitertransport zehntausender Flüchtlinge nach Deutschland organisiert und geniesst daher bei uns zumindest keinen Misstrauensvorschuss; wir werden weitersehen.
Im ersten Wahlgang erhielt die FPÖ 35 Prozent. Wenn Hofer Präsident würde, könnte er die Regierung absetzen und Neuwahlen ausschreiben, deren Resultat möglicherweise ein Bundeskanzler Strache (rechtsextremer Populist, Vorsitzender der FPÖ) wäre. Der nächste Schritt könnten Notverordnungen, nicht mehr nur gegen Flüchtlinge, sondern (wie 1933) gegen uns alle sein.
P.S.: 23. Mai 2016
Wir haben es geschafft. Van der Bellen ist mit 50,3 Prozent zum Bundespräsidenten gewählt worden. Es ist ein Sieg der vielen kleinen Basisinitiativen, die in wochenlanger harter Arbeit um die Stimmen der Unentschlossenen gekämpft haben. Es ist der Erfolg einer antifaschistischen Bewegung, quer durch Lager und Parteien. Die Gefahr ist damit nicht gebannt. 49,7 Prozent haben für den Kandidaten der extremen Rechten gestimmt. So viele waren es nie zuvor. Weitere schwere Auseinandersetzungen stehen uns bevor.
Michael Genner
Obmann von «Asyl in Not» Sprecher der Plattform für eine menschliche Asylpolitik
www.asyl-in-not.org
- Siehe «Unterwegs mit Flüchtlingen», Archipel 241, Oktober 2015.
- Die Dublin-Verordnungen sehen vor, dass Flüchtende im ersten EU-Staat, den sie betreten, um Asyl ansuchen müssen, egal wie schrecklich die Zustände dort auch sind.