Am Nachmittag des 22. Juli 2011 werden Teile des Regierungsviertels von Oslo von einer Autobombe zerstört. Die Explosion dröhnt durch die ganze Stadt. Die spontanen Reaktionen gehen alle in die gleiche Richtung: «Das ist islamistischer Terror!»; «Das ist ein Angriff der Al Qaïda!»; «Das haben wir davon, dass wir in Afghanistan und Libyen an der Seite der Amerikaner Krieg führen!» Ausländer werden auf der Straße tätlich und verbal angegriffen. Alle – Ausländer wie Einheimische – flüchten nach Hause, schalten den Fernseher ein und erfahren kurz danach, dass jemand auf der Insel Utöya, eine Autostunde von Oslo entfernt, junge Menschen niederschießt. «Islamterror-Experten» aller Schattierungen besetzen den Bildschirm, um die Bedrohung in allen Details auszumalen.
Erst spät in der Nacht wird bekannt: Der Täter ist ein blonder Norweger, 32 Jahre alt und Anti-Islamist. Sein Name ist Anders Behring Breivik. Auf der Insel Utöya hat er 69 Jugendliche umgebracht, im Regierungsviertel sind weitere acht Personen gestorben. Dort arbeiten normalerweise 1.600 Menschen, es war aber Freitagnachmittag, Ferienzeit und fast niemand anwesend. Auf Utöya hingegen waren 600 Mitglieder der AUF (die Jugendorganisation der sozialdemokratischen Regierungspartei) zum jährlichen Sommerlager versammelt. Die Insel ist klein, ohne Straße oder Brücke. Der Täter fuhr in Polizeiuniform mit der Fähre zur Insel, «um dort die Sicherheit nach den Ereignissen in Oslo zu überprüfen». Auf der Insel angekommen, schoss er zuerst die zwei Leute, die ihn in Empfang nehmen wollten, aus nächster Nähe nieder. Die Jugendlichen flüchteten in alle Richtungen der Insel. Mit einem Gewehr und einer Pistole bewaffnet, beide legal registriert, tötete er dann ruhig und systematisch diejenigen, die ihm begegneten. Im Ohr hatte er einen iPod. Als er eine Stunde später verhaftet wird, ergibt er sich widerstandslos. «Ich bin fertig», sagt er.
Mit der Nachricht vom norwegischen Täter hat sich die Stimmung schlagartig verändert. Die «Islamterror-Experten» schlichen sich nach Hause – in «Anti-Islamterror» kennen sie sich nicht aus. Die Angst nimmt ab und trotz des allgemeinen Schockzustandes macht sich eine gewisse Erleichterung bemerkbar: Was wäre passiert, wenn der Täter ein Moslem gewesen wäre? Jetzt vermutet man, dass es sich um einen Verrückten, allem Anschein nach einem Einzeltäter, handelt. Die Ausländer trauen sich wieder auf die Straße. Der Premierminister, persönlich sehr betroffen, gibt den Ton an: «Wird unser Gesellschaftsmodell angegriffen, werden wir mit mehr Offenheit reagieren!» Die Straßen füllen sich mit Blumen, Kerzen und norwegischen Flaggen. Patriotische Lieder erklingen. Im ganzen Land nehmen Hunderttausende von Menschen an Trauerversammlungen und Beerdingungen teil. Menschen, die ausländisch aussehen, werden von Fremden umarmt – viele der Opfer waren Immigranten-Kinder. Es ist rührend und beunruhigend zugleich: So viele schöne Worte, so viel akute Vaterlandsliebe. Kann daraus wirklich etwas Neues und Positives entstehen?
Ein bisschen zu radikal
Der Täter hatte, nur drei Stunden vor der Einleitung seiner Gräueltaten, ein Schriftstück von 1.500 Seiten im Internet veröffentlicht. In Wirklichkeit, schreibt er, dienen seine Taten hauptsächlich einem Zweck: Durch Aufsehen erregende Ereignisse soll sein Manifest «2083 A European Declaration of Independence» gründlich bekannt werden. Fünf Jahre lang hat er an dieser Kampfschrift gegen die «Islamisierung Europas» gearbeitet. Eine Reihe von «wissenschaftlichen» Texten, von selbst ernannten Experten geschrieben und vom Internet heruntergeladen, sollen «dokumentieren, dass die Angst vor der Islamisierung keineswegs aus der Luft gegriffen ist».Die Beweisführung ist «historisch» und umständlich, ihre Schlussfolgerungen aber bestens bekannt. Seit zehn Jahren sind sie tagtäglich von den Rednerpulten in Parlamenten und Regierungen vieler Länder Europas zu hören.
Nur die Mittel und Wege, die von Anders Behring Breivik selbst formuliert werden, sind so radikal, dass sie nicht offen ausgesprochen werden dürfen. Der Hauptfeind sind «Kulturmarxisten» und «politisch korrekte Multikulturalisten», die bewusst zum Untergang der christlichen Kultur beitragen. 90 Prozent der Parlamentarier und 95 Prozent der Journalisten Europas würden zu diesen Feinden zählen. Die Gefährlichsten von ihnen müssten zum Tode verurteilt werden; das wären allein in Norwegen mehr als 4.000 Personen. Die Aufgabe sei also übermenschlich und daher sei es jetzt, in der ersten Phase des Kampfes, sehr wichtig, neue Anhänger für «unsere Ideen» zu gewinnen. Durch gezielte Aktionen sei dies am besten gewährleistet. Obwohl er jeden Schritt seiner Tatvorbereitungen sehr genau in einem »Tagebuch» schildert, sagt er nie, was er wirklich vorhat. Er sieht vor, dass der Kampf mit der «Erklärung der Unabhängigkeit Europas vom Islam» im Jahr 2083 abgeschlossen sein wird.
Wer «wir – die Widerständler Europas» sind, bleibt diffus. Er selbst beteiligt sich an einem Kreuzritterbund, gegründet in England im Jahre 2003. Der Bund hat nicht viele Mitglieder, jeder einzelne ist seine eigene «Zelle» – Richter und Henker zugleich. Sie halten untereinander keine Kontakte, das sei zu gefährlich. Breivik bezieht sich aber auch auf die europäische, breite muslimfeindliche «Anti-Djihadist-Bewegung», die in unterschiedlichen Erscheinungsformen in vielen Ländern auftritt und verschiedene Blogs und Internetseiten betreibt. Die «Anti-Djihadisten» organisieren seit 2009 jährliche «Gipfeltreffen», auf denen rechtsextreme Abgeordnete wie Geert Wilders aus Holland und Oskar Freysinger aus der Schweiz Redner sind. Anders Behring Breivik unterhält mit allen nur virtuellen Kontakt. Seine «Freunde» haben sich allesamt im Nachhinein von ihm distanziert und die Behauptung, sie hätten geistig zu seiner Tat beigetragen, zurückgewiesen: Sie hätten nie zur Gewalt aufgerufen. (Nebenbei bemerkt: Das hat Anders Behring Breivik vor der Veröffentlichung seines Manifests auch nie getan.) Auch die norwegische rechtsradikale «Fortschrittspartei» reagiert so. Bei den Wahlen 2009 gewann sie 23 Prozent der Stimmen und 41 der 169 Sitze im Parlament. Anders Behring Breivik ist jahrelang Mitglied gewesen, aber ausgetreten, als er anfing, seine Tat vorzubereiten. Jetzt schaut die Vorsitzende voll Trauer zu Boden und sagt: «Wir können nichts dafür. Er ist ein verrückter Einzeltäter. Wir distanzieren uns von allem, was er sagt und vertritt. Heute sind wir alle Sozialdemokraten». Man könnte glauben, sie würde ihre Partei auflösen. Als jemand sie daran erinnert, dass sie immer militant gegen «schleichende Islamisierung» zu Felde gezogen ist, eilen ihr die Kollegen aus anderen Parteien zur Hilfe: «Nicht weil ein Verrückter im Name der Islamfeindlichkeit Gräueltaten begangen hat, muss man gleich nach Sündenböcken suchen. Geschmacklos!» Einige, die keineswegs als Rechtsradikale bekannt sind, fügen hinzu: «Wegen dieser Ereignisse werden wir nicht unsere legitime Kritik am Islam einstellen.» Niemand findet es nötig, den Ausdruck «legitime Kritik am Islam» zu definieren, gehört er doch bereits zur politisch korrekten Sprache. In neun von zehn Fällen dient er aber nur dazu, die moderne Fremdenfeindlichkeit elegant zu vertuschen.
Ein Land ohne Krise
Im Ausland glaubt man, dass Norwegen noch immer eine sozialdemokratische Idylle sei: Ein Land mit knapp fünf Millionen Einwohnern (davon 12 Prozent Einwanderer), fast keine Arbeitslosigkeit, der Premierminister und seine Leibwächter radeln zur Arbeit und alle duzen sich. Wegen des Erdöls ist das Land steinreich und hat keine Auslandsschulden. Das stimmt alles. Es stimmt aber auch, dass es seit 20 Jahren mehr und mehr Millionäre gibt und dass der Sozialstaat gleichzeitig dahinsiecht. Früher wurde die egalitäre Sozialdemokratie von ehemaligen Arbeitern geleitet und von fast allen norwegischen Bürgern als «Staatsform» akzeptiert. Heute gibt es echte Armut - nicht nur unter den Ausländern. Der Graben zwischen Peripherie und Zentrum wird, in geographischer und wirtschaftlicher Hinsicht, immer tiefer. Die «Arbeiterpartei» ist zum größten Vorkämpfer des Neoliberalismus geworden. Sogar die Konservative Partei, die traditionell die Wirtschaftsbonzen vertritt, findet manchmal, dass die Sozialdemokraten viel zu weit gehen. Kein Wunder, dass die «Arbeiterpartei» massiv ihre früher so treuen Anhänger, die Arbeiter mit geringer Ausbildung, an die rechtsradikale Fortschrittspartei verliert. Sie versucht krampfhaft, diese Wähler zurückzugewinnen und führt in Fragen der Ausländerpolitik eine harte Linie, wenn auch mit einer anderen Rhetorik als die Fortschrittspartei. Die Wähler sind aber endgültig enttäuscht und ziehen das Original – die Fortschrittspartei – vor.
Das tagtägliche Zusammenleben von «Fremden und Einheimischen» spielt sich in Wirklichkeit ganz gut ab. Hie und da gibt es aber Schlägereien zwischen Jugendlichen, Kindesentführungen oder Zwangsehen. Norwegen hat mehr als 100 Tageszeitungen, nur zwei davon werden überall verkauft. Sie sind auf allerlei Skandale spezialisiert, und in diesem ein wenig langweiligen Land können solche Geschichten den Lesern während Tagen oder Wochen ein bisschen Spannung bieten. Auch wirtschaftlich haben die rechtsradikalen Populisten ein leichtes Spiel. Der Staat hat Milliarden von Erdölgeldern in einem Fonds angelegt, worauf die Norweger zurückgreifen sollen, wenn das Erdöl einmal aus ist (und das wird anscheinend ziemlich bald sein). Mit diesen Geldern wird mittlerweile investiert und spekuliert - rund um den Erdball. Die Fortschrittspartei, die in der Praxis neoliberal ist, hat einfache und leicht verständliche Wahlversprechen: Man will die Steuern senken (die Norweger zahlen sehr viel), in Krankenhäuser investieren, die Altersrente erhöhen, das Straßennetz ausbessern - das alles mit den Erdölgeldern finanziert. Schuld an der Misere der kleinen Leute seien die Verräter der Arbeiterpartei, die Eliten, die Besserwisser und schließlich natürlich die Ausländer.
In diesem Lande hat man sich daran gewöhnt, dass der Staat sich um alles kümmert und Lösungen für die meisten Fragen hat. Originelle Initiativen von Menschen, die selbst die Probleme angehen wollen, findet man äußerst selten. Auf den Internetseiten der Tageszeitungen hingegen, lassen die Bürger anonym «ihren Dampf» ab, auch nach dem 22. Juli und trotz der heilen Eintracht auf den Straßen und am Fernsehschirm. Die Vorsitzende der Konservativen Partei sagte in einem Interview: «Heute wird über Moslems geredet, wie man in den Zwanziger Jahren über Juden geredet hat. Damals hat dies eine Stimmung geschaffen, die die Massenvernichtungen ermöglichte». Die Zeitung musste darauf hin die Kommentarseite schließen, da so viele und so rabiate Reaktionen auf diese Aussage folgten.
So trauen sich nur wenige Kommentatoren, schwierige Probleme anzugehen. Man diskutiert viel lieber darüber, ob man anonyme Beiträge auf allgemein zugänglichen Internetseiten verbieten soll. Die Situation ist heikel. Die Gemeinderatswahlen stehen an. Vor dem 22. Juli hatte die Fortschrittspartei vollen Wind in den Segeln. Sie stellt sich immer als Opfer dar, die von den anderen Parteien schlecht gemacht und angegriffen wird, was vielen Wählern scheinbar gefällt. Jetzt ist die Arbeiterpartei zum Opfer von Gräueltaten geworden und Tausende von Menschen strömen als neue Mitglieder zur Partei. Jetzt gilt es, die Situation zu erfassen und richtig zu reagieren, um die alten oder neuen Vorteile nicht zu verlieren.
Der verrückte Einzeltäter
Rechte und Linke sind sich alle einig: Anders Behring Breivik ist verrückt. Mit Verrückten muss man sich nicht weiter auseinandersetzen. Das tun schon die Gerichtspsychiater.
Nur gewinnt man den Eindruck, dass es sich hier um eine ganz neue Art von Verrücktheit handelt. Einige Überlebende des Massakers haben ausgesagt, dass er «völlig unbeteiligt» ausgeschaut hat, als ob er «dabei war, Computerspiele zu spielen». Er hörte Musik, legte ab und zu eine Pause ein, um die Polizei zu rufen, dass sie jetzt kommen solle. Dann tötete er weiter. Während der Rekonstruktion nach der Tat auf Utöya, die acht Stunden gedauert und sich laut der Polizei «beispielhaft gut» abgespielt hat, hat Breivik alles sehr genau beschrieben.
In seinem Manifest gibt es eine Art von «Handbuch des einsamen Terroristen», das er auf Grund seiner eigenen Erfahrungen zusammengestellt hat. Einsam muss man sein, alles andere sei zu gefährlich. Selber habe er sich fünf Jahre von der physischen Umwelt vor dem Computer in seiner virtuellen Welt abgesondert «um seine Tat geistig und materiell vorzubereiten». Er hat an «seinem Buch» geschrieben, hat extrem gewalttätige (aber voll legale) Kriegscomputerspiele gespielt, hat «Selbstindoktrinierung» betrieben («muslimische Terroristen beten fünfmal am Tag; wir müssen andere Rituale erfinden»), hat mit Aufbaumitteln und Drogen experimentiert, um zu erfahren, wie man am besten die Aggressivität und das Durchhaltevermögen erhöhen kann. Er erklärt, wie man legal viel Geld verdienen kann, um sich ganz der großen Sache widmen zu können, wie man legale Firmen gründet, um an Kreditkarten heranzukommen und um Düngemittel für eine Bombe kaufen zu können.
Für alles, was man braucht, gibt es Internet-Adressen und sogar die Musik, die man während der Tat abspielen soll, kann man hier herunterladen. Sehr wichtig ist es, die Einsamkeit und die eigene Demoralisierung zu überwinden und, natürlich, immer von der Polizei unentdeckt zu bleiben.
Nach der Tat hat die Sprecherin der politischen Polizei gesagt: «Selbst in einem Polizeistaat wäre dieser Mensch dem Überwachungsdienst nicht aufgefallen».
Er ist Christ, ohne an Gott zu glauben, er ist «gegen die Muslime» ohne sie zu hassen. In Allem bleibt er stets ruhig und kühl, ohne negative oder positive Leidenschaft zu zeigen. Er hatte nur geistige Verbündete und die kamen alle aus der virtuellen Welt. Noch traut sich niemand, es offen auszusprechen, dass solches Durchhaltevermögen, solche Entschlossenheit leider bei einem bestimmten Personenkreis sogar Bewunderung hervorrufen kann. Es ist zu hoffen, dass dies ein Einzelfall, ein einmaliger entsetzlicher Einzelfall bleibt.