Die Tagelöhner_innen der Gewerkschaft SOC-SAT besetzen immer noch die Gewächshäuser eines Unternehmers der sich mit Schulden in Höhe von mehreren Millionen aus dem Staub gemacht hat1. Seit einigen Wochen haben sie begonnen den ersten Hektar Land in Selbstverwaltung zu kultivieren.
Anfang letzten Monats erhielten 130 marokkanische Tage-löhner_innen, die im Agro-Unternehmen von Simon Sabio arbeiteten, die Kündigung. Sabio zählt mit seinen Gewächshäusern auf Dutzenden Hektar in Almeria und Investitionen in Marokko zu den «erfolgreichen» Unternehmern. Doch durch Eingreifen der Gewerkschaft SOC-SAT kam die schändliche Geschäftspraxis dieses Modellunternehmers an die Öffentlichkeit. Seit zwei bis drei Jahren haben sich über eine Million Euro Lohnschulden angesammelt und den Tagelöhnern war völlig unbekannt, dass seit April 2012 ein Konkursverfahren vor Gericht läuft. Unter Druck waren unausgezahlte Lohnzettel unterschrieben worden und eine fiktives Unternehmen des Schwagers von Sabio hatte mitgemischt. Möglicherweise hatten die Konkursverwalter, die seit einem Jahr die Geschäftskontrolle übernahmen, an der Betrügerei teilgenommen oder zumindest toleriert.
Aber seit Mai haben sich bezüglich der Kündigungen der Arbei-ter_innen dieses Unternehmens einige Neuigkeiten ergeben.
Auf Rat und mit Unterstützung von SOC-SAT, haben die Tage-löhner_innen in einer Versammlung beschlossen die Gewächshäuser, die zu dieser Zeit in voller Tomatenproduktion standen, nicht zu verlassen: Sie haben 35 Hektar auf die Dörfer von San Nicolàs, Las Norias, Tierras de Almería und Campohermoso (Nijar) verteilt. Ihnen war bewusst wie schwer sie an ihre ausstehenden Löhne und sonstigen Entschädigungen durch juristische Klagen über die Konkursverwaltung kommen würden. Die dank ihrer Anstrengung geschaffene Produktion musste verteidigt werden und neben den Forderungen an den «Patron» und die Verwaltung, begann sich für sie der ungewisse, aber spannende Horizont der Selbstverwaltung abzuzeichnen. (...) Nach einigen auseinandersetzungsreichen Monaten wurden die Verhandlungen Anfang September wieder aufgenommen, nachdem die Besetzer_innen begonnen hatten das Land zu pflügen und ihre Entschlossenheit, langfristig auszuharren, sichtbar machten. (...)
Im Herzen des Plastikmeers von Almeria, wo tausende Hektar industriell intensiv bewirtschaftet werden, stehen heute etwa zehn marokkanische Landarbeit-er_innen und einige andalusische Arbeitslose jeden Tag auf, um in ein Gewächshaus «ohne Chef» arbeiten zu gehen. (...)
Jeden Morgen vor Sonnenaufgang öffnen vier marokkanische Sans-Papiers, die den Hof des Unternehmens bewohnen, die Gewächshäuser auf den 11 Hektar in San Nicolàs zwischen Vìcar, La Mojonera und El Ejido. Nach dem Verschwinden des Chefs und von der Konkursverwaltung im Stich gelassen, hatten sie es geschafft, das Werkzeug, die Maschinen und den Bewässerungscomputer sowie das Land zu behalten. Ohne ihren Eifer und ihre Arbeit wäre gewiss alles gestohlen oder zerstört worden. Etwas später kommen Paco, ein ehemaliger andalusischer Fischer, der jetzt hier die Arbeit koordiniert, zwei Frauen - Mutter und Tochter - die seit mehr als fünf Jahren für das Unternehmen arbeiteten, einige andere ehemalige Angestellten von Simon Sabio und zwei, drei Gewerkschaf-ter_innen und Aktivist_innen von SOC-SAT aus El Ejido und Almeria dazu. Ein anderer Kollege, der ebenfalls neben dem Gewächshaus wohnt, bringt zuerst seine drei Kinder zur Schule. Nach einem Monat Arbeit ist der erste Hektar Land für die Pflanzung von Bio-Zucchini bereit. Man plant einen vielfältigen Garten mit Gemüse zur Selbstversorgung und für den lokalen Vertrieb. Die Brigade «ohne Chef» hat gerade das Wasserreservoir, an welches die Häuser der Familien angeschlossen sind, gereinigt und aufgefüllt. Nun machen sie sich daran einen zweiten Hektar zu säubern und vorzubereiten.
Mittags, als die unerträgliche Hitze in den Gewächshäusern jede menschliche Anwesenheit unmöglich macht, erwartet Hamid die Gruppe der Arbeiter_innen in seinem Haus-Schuppen mit einem ausgezeichneten Couscous oder Tajine und man meint darin einen Hauch Schweiss der kollektiven Anstrengung und der enormen Freude zu schmecken, die dieses aussergewöhnliche Abenteuer inmitten dieser agroindustriellen Welt «ohne Chef» zu arbeiten, erweckt.
Mit einem dringenden Appell bitten sie sozial engagierte Organisationen und Menschen in ganz Europa um politische und finanzielle Unterstützung. Es müssen geeignete Unterbringungen für die Arbeiter_innen aber ebenso für Besucher_innen geschaffen werden. Auch ein Raum für das gemeinsame Essen und die täglichen Treffen der «Cheflosen» soll hergerichtet werden. «Wir haben weder Angst vor der Polizei, noch vor den Landwirten, noch vor sonst jemand“ stellt ein junger marokkanischer Besetzer fest, «wenn wir zum Schluss vertrieben oder sogar aus Spanien ausgewiesen werden, sind wir sicher, getan zu haben, was zu tun war: unsere Arbeit zu verteidigen und für eine Veränderung der Situation der ausgebeuteten Tagelöh-ner_innen zu kämpfen».
Nicht nur die Besetzung und das Bebauen des Bodens wird unterstützt. Gerade in diesem Moment fordern die Gewerkschaft SOC-SAT und der Verein der «Tagelöhner_innen ohne Chef von Almeria» die Junta de Andalucìa – die andalusische Regierung – auf, die Enteignung des Bodens einzuleiten und mit der Konkursverwaltung und anderen Unternehmen eine Übereinkunft auszuhandeln, die darauf abzielt, die Produktion in dem Betrieb mitsamt den gekündigten Angestellten wieder aufzunehmen. Gefordert wird ebenfalls das Schaffen einer Arbeitsbörse mit denen, die arbeitslos bleiben, das Ausstellen von Vorverträgen für ungefähr 20 Sans-Papiers, damit sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, das Wohnrecht der auf dem Hof wohnenden Familien zu respektieren und das Überlassen von Gewächshäusern auf einer Fläche von fünf Hektar für die selbstverwaltete Produktion einer Kooperative von Tage-löhner_innen.
Es ist kein leichter Kampf in Anbetracht der völlig gegensätzlichen Interessen der Unternehmer-, Justiz- und Finanzwelt, deren Vertreter gleich Aasgeiern um die verlassenen Gewächshäuser kreisen, die eine potentielle Geldquelle darstellen. Aber egal was kommt, die Tagelöh-ner_innen von SOC-SAT werden diesen Boden während dem noch drei oder vier Jahren andauernden Konkursverfahren nicht verlassen. Die Besetzung verleiht ihnen eine starke Position und vor allem Würde; und sie ermöglicht ihnen jenseits der kapitalistischen Ausbeutung gegenseitige Hilfe, Solidarität und kollektive Selbstverwaltung zu erproben.
- siehe Archipel Nr. 217, Juli 2013 und auf der Webseite des EBF Kontakt und mehr Information: www.socalmeria.wordpress.com
socalmeria(at)yahoo.es
sober.alim.sindicatoandaluz(at)gmail.com
- Verantwortlicher für die Arbeitsgruppe Nahrungsmittelsouverenität SOC-SAT, Andalusien und der Unterstützungskampagne von SOC-SAT Almeria