Am 2. August wurde eine Radiosendung zum Thema «Migration und Solidarität» ausgestrahlt. Um den runden Tisch des mobilen Studios von Radio Zinzine sassen Natascha (CAMZ)1 aus der Ukraine, Dieter aus Österreich (EBF) Oumarou aus Mali (AEI)2, Nathalie aus Paris und engagierte Menschen aus Ventimiglia und aus Thessaloniki. Hier eine Zusammenfassung des Gesagten.
EU-Aussengrenze Ukraine
Europa schiebt unerwünschte Flüchtlinge in die Ukraine ab. Im Jahr 2008 wurde in der Ukraine die Organisation Border Monitoring Project gegründet, um Migrationsbewegungen an der Grenze zu Ungarn zu beobachten, Zeugenaussagen der Migrant_innen entgegenzunehmen und zu sammeln. Es kommen vor allem Somali-er_innen, Tschetschen_innen und Afghan_innen, oft werden sie aus europäischen Ländern zurückgeschickt.
Nach ihrer Ankunft in der Ukraine werden sie eingesperrt mit der Begründung, unerlaubt die Grenze nach Europa überschritten zu haben. Diese, wie es heisst «vorübergehende» Internierung der Flüchtlinge in Lagern wird von der EU finanziert, manche Insass_in-nen bleiben bis zu einem Jahr, wie z.B. Somalier_innen, die nicht nach Somalia zurückgeschickt werden können, weil dort Bürgerkrieg herrscht. Die meisten Geflüchteten haben die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch nach Europa zu kommen, und stellen daher keinen Asylantrag in der Ukraine. Folglich bekommen sie dann keine Hilfe vom UNHCR.
Seit 2014, dem Beginn des Konflikts in der Ostukraine, hat sich die Situation der Geflüchteten weiter verschlechtert, da die Route über Russland gesperrt ist. In letzter Zeit kommen vor allem Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und Bangladesh über Rumänien in die Ukraine. Auch russische und weissrussische Oppositionelle flüchten in die Ukraine, aus Angst, in Russland verhaftet zu werden. Das Border Monitoring Project übt gemeinsam mit anderen NGOs Druck auf die ukrainische Regierung aus, damit diese den Geflüchteten finanzielle Hilfe zuteilt. Lokale Initiativen helfen im Bereich ihrer Möglichkeiten.
Österreich riegelt ab
Österreich veranlasst die Balkanländer, den «Flüchtlingsstrom» einzudämmen. Im Februar diesen Jahres rief der österreichische Innenminister die Vertreter der Balkanländer zusammen, da «die EU nicht in der Lage ist, den Strom der Flüchtlinge einzudämmen, die unter den Mitgliedsländern aufgeteilt werden sollen». Das Ziel dieses Treffens war, die Kontrollen entlang der «Balkanroute» durch zusätzliche Polizeieinsätze an den kritischen Stellen weiterhin zu verstärken.
Im September 2015, erinnert sich Dieter, machten sich auf Grund eines über Internet verbreiteten Appells 170 Autos auf den Weg, um in Ungarn blockierte Geflüchtete über die Grenze nach Österreich zu bringen. Eine solch aussergewöhnliche Aktion ist heute auf Grund der von Österreich eingeführten drastischen Kontrollmassnahmen nicht mehr möglich. Immerhin hat diese Mobilisierung bewiesen, dass die Bürger_innen fähig sind, ihre Solidarität unter Beweis zu stellen und aktiv zu werden, um den Migrant_innen zu helfen. Konfrontiert mit neuen Absperrungen und Kontrollen nahmen die Österreicher_innen, die sich gegen diese Abschottungspolitik wehren wollen, Kontakt zu Gruppen in den Balkanländern auf, mit dem Ziel, den Migrant_innen dabei zu helfen, sich direkt zu koordinieren. Die Solidarität existiert also weiterhin.
Blockaden in Afrika
Das transnationale Netzwerk Afrique-Europe-Interact (AEI) wurde 2009 gegründet und ist in Afrika (Togo, Mali, Burkina-Faso, Guinea-Conakry) und in Europa (vor allem in Deutschland) aktiv. Die Organisation beschäftigt sich sowohl mit dem Themenkomplex Migration als auch mit dem Phänome des Landraubs in den subsaharischen Ländern Afrikas.
Im Niger, einem Transitland für Migrant_innen, versucht die EU die Durchreisenden im Norden aufzuhalten, wo grosse Uranvorkommen von europäischen Firmen gefördert und verarbeitet werden. Die EU hat geplant, 480 Millionen Euro in das Projekt von zwei Auffanglagern zu investieren, eines an der Grenze zu Nigeria, das andere in Niamey, der Hauptstadt.
Diese und ähnliche europäische Investitionen haben zum Ziel, die europäischen Grenzen vorzulagern und somit zu externalisieren. Im Sudan beispielsweise bekam die Regierung von Omar al-Bachir, gegen den ein Haftbefehl des internationalen Gerichtshofes vorliegt, 100 Millionen Euro, um eritreische Migrant_innen sowie Oppositionelle aus dem eigenen Land besser daran hindern zu können, in Richtung Libyen zu reisen. Die militärischen Interventionen in Libyen haben zweifellos unter anderem auch zum Ziel, die Weiterreise von Geflüchteten nach Europa zu verhindern.
Der Kampf von Afrique-Europe-Interact gegen den Landraub hängt eng mit der Migrationsfrage zusammen. Im Togo führt Afrique-Europe-Interact Aktionen gegen den Abbau von Phosphat durch, der verheerende Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung hat. In Burkina-Faso kämpft das Netzwerk gegen die Enteignung der Bauern und Bäuerinnen, für die das politische Umfeld des gestürzten Präsidenten Blaise Compaoré verantwortlich ist. In Guinea-Conakry haben Mitglieder des Netzwerks zwei Hektar Land für die Gemüseproduktion der dort lebenden Aktivist_in-nen gekauft. Alle diese Aktionen haben zum Ziel, die lokale Nahrungsmittelautonomie zu stärken.
Räumungen in La Chapelle
«Seit zwei Jahren entstehen in Paris-La Chapelle informelle Lager von Geflüchteten, die immer wieder geräumt werden», erzählt Nathalie. Bis jetzt haben bereits 30 Räumungen stattgefunden. Das Szenario dieses administrativen Nonsens ist jedes Mal das Gleiche: Die Geflüchteten werden in Sporthallen gebracht, um dort identifiziert und «sortiert» zu werden; ein Teil von ihnen wird wieder entlassen, und sobald sie frei kommen, kehren sie an den gleichen Ort zurück oder ein bisschen weiter, in die Metro-Station Jean Jaurès. Erst kürzlich befanden sich unter diesen Geflüchteten schwangere Frauen und Kinder, die keinerlei Zugang zu sanitärer Versorgung hatten. Die Geflüchteten sind vor allem aus Pakistan (ihnen wurde von ihrer Regierung die Staatsbürgerschaft entzogen, sie sind staatenlos), Afghanistan und Syrien; sie hoffen, wenigstens vorübergehend ein Dach über den Kopf zu bekommen. Andere werden weggebracht, und es ist schwierig, ihre Spur weiter zu verfolgen. Es gibt Menschen, die sie unterstützen, darunter Kollektive ehemaliger Papierloser. Sie versuchen, eine Kartographie der Deportationsorte aufzustellen.
Solidarität in Griechenland
Von 15. bis 24. Juli haben sich im No-Borders-Camp in Thessaloniki 1200 Menschen aus Ost, West und Süd versammelt; auch mehrere hundert Flüchtlinge konnten sich hier austauschen und koordinieren. Eine Zeitung wurde in mehreren Sprachen veröffentlicht und zwei Demonstrationen wurden organisiert, eine in Thessaloniki selbst mit 4000 Teilnehmer_in-nen, die andere vor dem Aufnahmelager von Panaresti. In der ehemaligen Kaserne werden 800 Migrant_innen aus Algerien, Marokko und Pakistan festgehalten, offiziell bis zu sechs Monate, doch viele sind schon seit einem Jahr dort, finanziert von der EU. Zwanzig Personen – Ärzt_innen, Anwält_innen, Übersetzer_innen – konnten in das Lager hineinkommen, um Zeugenaussagen der Insassen zu sammeln. Wir erfuhren bei dieser Gelegenheit, dass die Funktion des Fotografierens von den Handys der Migrant_innen gelöscht wird! Eine andere Aktion richtete sich gegen das Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM), welche die Regierungen in Migrationsfragen berät.
Drei Tage nach Ende des No-Borders-Camps liess die griechische Regierung drei selbstverwaltete Häuser in Thessaloniki räumen, in welchen die Solidarität mit Flüchtlingen und Migrant_innen konkret gelebt wurde. Regelmässig wurden von dort Konvois zum Flüchtlingslager nach Idomeni organisiert, um gegen die Konsequenzen der Abkommen zwischen der EU und der Türkei zu protestieren, um Nahrungsmittel herbeizuschaffen und zu verteilen und um Unterbringungen anzubieten, dank eines weitverzweigten Solidaritätsnetzwerkes.
Verhärtung in Ventimiglia
Die italienisch-französische Grenze ist seit dem 15. Mai geschlossen, und die Anzahl der Migrant_innen wird nach einem Plan des italienischen Innenministeriums kontrolliert. Regelmässig werden Razzias durchgeführt, um die Einrichtung informeller Flüchtlingscamps in den Strassen von Ventimiglia zu verhindern. Die Migrant_innen werden festgenommen und in den Süden Italiens zurückgeschoben. Um diese Rückschiebungen möglichst diskret zu gestalten und ihnen ein «menschliches» Gesicht zu verleihen, hat das Rote Kreuz für die Flüchtlinge ein Transit-Lager 5 km von der Stadt entfernt geöffnet, in dem sie sieben Tage bleiben können. Bei ihrer Ankunft bekommen sie eine Karte mit einem elektronischen Code zu ihrer Identifikation, der sich nach sieben Tagen von selbst wieder löscht. Viele weigern sich, in dieses Lager zu gehen, da sie keinen Asylantrag in Italien stellen wollen, sondern hoffen, irgendwann doch nach Frankreich weiter zu kommen.
Am 15. Juli wurde die Kirche von Ventimiglia, in der etwa 250 Migrant_innen Schutz gefunden hatten, von der Polizei geräumt, und die Migrant_innen wurden ins Rote-Kreuz-Zentrum gebracht. Von dort sind sie weiter in den Süden transportiert worden. Einige versuchten, ein selbstorganisiertes informelles Camp, 100 Meter vom offiziellen Lager entfernt, aufzumachen, doch bald erschien die Polizei und verbot jegliche Nahrungsmittel- und Wasserzufuhr. Bei dieser Aktion wurden fünf Europäer_innen, die die Migrant_innen unterstützten, verhaftet und die Ausländer_innen unter ihnen wurden mit einem fünfjährigen Verbot, das italienische Territorium zu betreten, bestraft. Seit dem Attentat von Nizza wird die Militarisierung von Ventimiglia weiter verstärkt.
- CAMZ: Komitee der medizinischen Hilfe in Transkarpatien
- AEI: Afrique Europe Interact