Am 15. Februar 2022 schloss die EU-Antibetrugsbehörde OLAF ihren Bericht über die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ab. Der Bericht umfasst 129 Seiten und wird aber bis heute geheim gehalten. Zum Glück wurde er einem Rechercheteam von Lighthouse Report, Spiegel und Le Monde zugespielt.
Er belegt mit amtlicher Autorität zum einen die massiven Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten an den europäischen Aussengrenzen, die Frontex mitträgt und zum anderen die systematische Kontrollverweigerung der Frontex-Leitung durch eigene oder andere EU-Gremien. Wer einen Beweis für die Nicht-Reformierbarkeit dieser Behörde braucht: Die Lettländerin Aija Kalnaja, heutige Direktorin von Frontex und Nachfolgerin des unhaltbar gewordenen Franzosen Fabrice Leggeri, hat den Bericht nicht einmal gelesen!
Bezüglich interner Kontrolle nur ein Beispiel: Die Grundrechtsbeauftragte von Frontex, die Spanierin Immaculada Arnaez, erhielt vom Leitungsteam (noch unter Ex-Direktor Leggeri) den Übernamen «Pol Pot»in Anspielung auf den kambodschanischen Diktator und Massenmörder. Dieselbe Leitung wird im Bericht dahingehend zitiert, dass die Kontrollmechanismen der EU das Überleben der Agentur gefährden könnten1. Wer möchte noch ernsthaft an eine Reformierbarkeit dieser Organisation glauben?
Der Skandal im Skandal
Die Schweiz ist bekanntlich auch Mitglied von Frontex und entsendet zwei Vertreter·innen in den Verwaltungsrat der Agentur. Medea Meier und Marco Benz mussten also vom OLAF-Bericht Kenntnis haben und hätten den Bundesrat über dessen Brisanz informieren müssen. Auch die Schweizer Öffentlichkeit hätte zwingend vom Inhalt erfahren müssen, denn sie stimmte am 15. Mai 2022 über eine massive Erhöhung der finanziellen und personellen Beteiligung der Schweiz an Frontex ab.
Als Verwaltungsrat Marco Benz während des Abstimmungskampfes im vergangenen April beteuerte, dass Frontex den Schutz der Grundrechte sehr ernst nehme, hatte er bereits Kenntnis vom Inhalt des OLAF-Berichts. Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), das für die Zusammenarbeit mit Frontex zuständig ist und dem Bundesrat Ueli Maurer untersteht, bestätigt auf Anfrage der WOZ2, dass die Mitglieder die Möglichkeit hatten, den Bericht vor Ort einzusehen. «Die Schweizer Vertreterin im Verwaltungsrat hat am 7. März 2022 davon Gebrauch gemacht und in der Folge Bericht erstattet.» Dies bedeutet, dass Finanzminister Maurer und Justizministerin Keller-Suter von diesem Zeitpunkt an Kenntnis vom verheerenden Befund der Untersuchung haben mussten. Die Beteiligung des schweizerischen Bundesrats an der systematischen Verschleierung und Vertuschung der Missstände innerhalb von Frontex und die Irreführung der Stimmbürger*innen vor der Volksabstimmung vom 15. Mai 2022 ist damit erwiesen.
Claude Braun
- Le Monde-Artikel vom 29.7.2022
- Siehe dazu Woz-Artikel von Lukas Tobler vom 4.8.2022