Ende 2016 haben wir den Bürgermeister von Palermo, Leo-Lucas Orlando, getroffen - eine unangepasste, aufmüpfige politische Persönlichkeit. Er verteidigt die Abschaffung von Aufenthaltstiteln, prangert das unmenschliche Europa an und baut mit der sizilianischen Bevölkerung eine Willkommenskultur für Tausende von Geflüchteten und Migrierenden auf, die über die Insel reisen. Hier ein Auszug aus dem Interview.1
EBF: Sie sagen, die aktuelle Migrationspolitik Europas sei eine Perversion der grundlegenden Idee Europas.
Orlando: Wir müssen den Mig-rant_innen dankbar sein, da sie Europa ein menschliches Gesicht gegeben haben. Wir müssen ihnen danken, da sie sagen, dass Europa nicht das Europa der Banken, des Geldes ist, sondern der Menschenrechte. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Zeit der Globalisierung leben. Was ist die Globalisierung? Das ist die Mobilität des Geldes, der Dinge; aber es ist auch die Mobilität der Menschen, der Migrant_in-nen. Wir sind alle Migrierende. Weil wir alle Mosaike verschiedener Identitäten sind.
Die Gründungsväter hatten eine andere Vision, jene eines Europas der Bürger_innen, der Menschenrechte, nicht ein Europa der Banken. Ich bin überzeugt, dass meine Meinung nicht die eines vereinzelten Intellektuellen ist, sondern die der Bevölkerung. Ich wurde immerhin viermal wiedergewählt. Und Palermo ist nicht die Peripherie der Welt, es ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft!
Es gibt Städte in Europa, die Angst haben, weil bei ihnen zehn Mig-rant_innen ankommen. In den letzten zwei Jahren sind in Sizilien 400‘000 angekommen. Wir haben nicht eine einzige Tat der Intoleranz, nicht eine einzige rassistische Gewalttat gesehen. Und ganz zu schweigen von der grossen Stadt: in Palermo2 haben wir 10‘000 Immigrierte. Jede Woche bin ich im Hafen, um 1‘000 bis 2‘000 Menschen willkommen zu heissen. Sie kommen in der Stadt an und stossen weder auf Widerstand noch auf Rassismus, weil Palermo eine migrantische Stadt ist. Das kann man in den Strassen an den verschiedenen Identitäten sehen, an der Moschee, den katholischen Kirchen.
Wie nehmen Sie diese Migrations-Bewegung wahr, die von den europäischen Ländern als Gefahr für ihre Stabilität gefürchtet wird?
Orlando: Es ist scheinheilig, einen Unterschied zwischen Wirtschaftsmigration und politischer Migration zu machen. «Ah, du bist in Gefahr, durch einen Krieg zu sterben? Ich nehme dich auf. Du bist in Gefahr, durch Hunger zu sterben? Ich nehme dich nicht auf.» Mobilität ist ein Menschenrecht. Ich bin gegen den humanitären Ansatz. Ich bin gegen den Ansatz der Sicherheitspolitik. Wir müssen einen juristischen Ansatz der Menschenrechte haben. Einen wirtschaftlichen Ansatz, weil die Migrant_innen der Reichtum Europas sind. Einen kulturellen Ansatz, da sie ein kultureller Reichtum sind.
Die Willkommenskultur ist die beste Gewährleistung der Sicherheit. Weil jedes Mal, wenn ein Muslim, der vielleicht ein Terrorist ist, in Palermo ankommt, rufen die Muslime von Palermo den Bürgermeister an, da sie ihre Stadt verteidigen! Die Muslim_innen, die in den Banlieus von Paris leben, rufen nicht den Bürgermeister an, wenn dort ein Terrorist ankommt, weil sie Paris nicht als ihre Stadt empfinden.
Europa hat während Jahrzehnten Empfehlungen und Verträge zur Verteidigung der Menschenrechte verfasst: für die eingewanderten Arbeiter_innen, für diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen im Exil sind, für Minderjährige, für ethnische Minderheiten. Europa hat sich mit einem internationalen Gerichtshof ausgestattet; es ist also in einer heiklen Lage bezüglich seiner eigenen Normen, wenn es die Einrichtung von Hotspots fördert und Zentren der Identifizierung und Deportation.
Orlando: Der Artikel 13.2. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist verlogen: Es gibt darin die Erklärung, dass jeder Mensch das Recht habe, sein Land zu verlassen, aber er regelt nicht, was passiert, nachdem ich mein Land verlassen habe. Das aktuelle europäische System ist ein kriminelles System. Es ist ein System, das mafiöse Strukturen hervorbringt – in Libyen, in Italien. Denn ohne Aufenthaltstitel bin ich Opfer von kriminellen Organisationen. Sie stellen mir eine Unterkunft zur Verfügung, die eine Abstellkammer ist, eine Elendsbehausung. Und ich kann mich nicht beschweren, denn sonst zeigen sie mich als «illegal» oder «papierlos» an. Ohne Aufenthaltstitel muss ich undeklariert («schwarz») arbeiten, ohne jegliche Garantien. Wenn ich keinen Aufenthaltstitel habe und ich nicht akzeptiere, dass mein Arbeitgeber mit meiner Frau schläft, zeigt er mich bei der Polizei an und ich werde ausgewiesen.
Um zu zeigen, in welchem Ausmass Europa kriminell ist, möchte ich mal für einen Augenblick die Unterscheidung hernehmen zwischen Wirtschaftsmigrant_innen und Asylbewerber_innen, zum Beispiel aus Syrien, denen prinzipiell momentan das Asylrecht zugestanden wird. Da es das Problem mit den Aufenthaltstiteln gibt, können syrische, äthiopische, eritreische Migrierende nicht ein Flugticket kaufen, das ihnen erlaubt, nach Paris, Rom, London, Madrid oder Barcelona zu reisen. Sie sind gezwungen, Tausende von Dollars an Kriminelle zu bezahlen, die ihren Transport organisieren auf behelfsmässigen Booten, schrottreifen Nussschalen, mit dem Risiko, dass sie und ihre Familien auf dem Meer versinken und sterben, bevor sie Sizilien erreichen. Und wenn sie in Sizilien ankommen oder an einer Küste der Halbinsel, werden sie auf dem Kontinent in grosse Auffanglager gepfercht, wo sie auf ihren Aufenthaltstitel warten, den es in den meisten Fällen nicht geben wird. Europa akzeptiert die Einrichtung von Checkpoints für Asylbe-werber_innen in allen Flughäfen und an den Grenzen des europäischen Gebiets, auch wenn jene das Recht haben, sich in Europa aufzuhalten, konform mit Europas Gesetzen und Grundsätzen. Indem man das System der Aufenthaltstitel aufrechterhält, zwingt man Asylbewerber_innen und Wirt-schaftsmigrant_innen dazu, mafiöse Gruppen zu finanzieren.
Das ist das kriminelle Europa, das ich nicht akzeptiere; es schliesst die Augen, die Ohren und den Mund. So wie es uns, den Sizili-aner_innen, vorgeworfen wurde, dass wir es gegenüber der Mafia täten.
In Palermo haben wir kein CARA (Asylzentrum, Anm. d. Red.), wir wollen keine Hotspots! In Palermo bemühen wir uns, die Migrant_innen – Erwachsene und Kinder – in Unterkünften für 100, 120 oder maximal 150 Menschen zu beherbergen. Denn so kann die Aufnahme vernünftig gehandhabt werden. Das ist der Fall in den Heimen, in den Sozialwohnungen, im Netzwerk «Astalli» der Caritas. In Einrichtungen mit 3‘000 bis 4‘000 Personen bilden sich kriminelle Organisationen. In Unterkünften mit einer solchen Konzentration von Menschen gibt es immer einen mafiösen Chef, um die Einsitzenden zu kontrollieren.
Es gibt ein anderes Hindernis der Bewegungsfreiheit: nämlich, dass der Aufenthaltstitel an die Arbeit geknüpft ist.
Orlando: Dass das Recht auf Mobilität von Arbeit abhängt, ist ein weiterer inakzeptabler Zustand, aus dem dieses System der Erpressung resultiert. Der Mensch hat Rechte, auch wenn er nicht arbeitet! Die Tatsache, dass die Rechte von Arbeit abgeleitet werden, erlaubt es zahllosen Kriminellen Erpressung auszuüben. Verstehen Sie, was das bedeutet, wenn man Menschenrechte von Arbeit abhängig macht!? Menschenrechte kommen Arbeitslosen zu, Obdachlosen, Menschen mit Behinderung und auch Kindern, die nicht im Alter sind, um zu arbeiten. Ich persönlich respektiere das Gesetz, aber mehr als das Gesetz: das Recht! An dem Tag, an dem ich festgenommen werde, weil ich einen papierlosen Einwanderer bei mir beherbergt habe, werde ich eine Strafe bekommen und diese akzeptieren. Und doch wird es der schönste Moment meines Lebens sein.
Das Interview wurde geführt von Jean Duflot*, EBF Frankreich
* Autor des Buches «Orangen fallen nicht vom Himmel – der Sklavenaufstand in Rosarno», Verlag Europäisches BürgerInnen Forum-Cedri, Basel, 2011.