Am Mittwoch, den 11. November 2020, konnten 100 geflüchtete Personen, nachdem ihr Boot Schiffbruch erlitten hatte, vom Schiff Open Arms gerettet werden. Doch sechs von ihnen starben, darunter Joseph, ein halbjähriges Baby. Die von Open Arms verständigten Rettungskräfte waren nicht rechtzeitig eingetroffen und der Kleine starb kurz nach seiner Bergung. Es wäre ganz falsch, diese x-te Tragödie einer Verspätung der Rettungskräfte zuzuschreiben. Die Verantwortung für diese Toten sowie für unzählige andere liegt darin, dass es keinen institutionellen Plan für Rettungsaktionen im Mittelmeer gibt, dass die internationale Gesetzgebung zur Bergung auf hoher See geschwächt wurde und parallel dazu humanitäre Organisationen kriminalisiert werden, weil sie weiterhin im Namen der Menschlichkeit handeln, die in unserer Gesellschaft immer seltener wird.
Für das Mittelmeer, eines der meistfrequentierten und meistüberwachten Meere der Welt, gibt es kein von den Staaten, von Italien oder der Europäischen Union organisiertes Rettungsprogramm mehr. Nachdem die Operation Mare Nostrum eingestellt worden war, lief auch die Operation Triton aus, deren Schwerpunkt im Vergleich zu ihrer Vorgängerin schon viel weniger auf Rettung lag. Der umstrittenen Operation Sophia, die 2015 ihren Anfang nahm und deren Ziel nicht die Rettung von Schiffbrüchigen, sondern vielmehr der Kampf gegen Menschenschmuggel zwischen Libyen und Italien war, wurden zunächst die Mittel gekürzt, bis auch sie im März 2020 beendet und durch nichts ersetzt wurde. Doch um das Ziel zu erreichen, alle Rettungsaktionen einzustellen, musste eine „technische“ bzw. „para-wissenschaftliche“ These her, die auf allen möglichen Kanälen zirkulierte: Es handelt sich um die „Pull-Faktor“-These, laut derer Rettungsaktionen auf See die Schleppernetzwerke stärken, d.h. dass mehr Menschen fliehen und so die Anzahl der Toten steigt, statt zu sinken.
Zahlreiche Studien haben bewiesen, dass diese These falsch ist und es sich dabei um von der Agentur Frontex in die Welt gesetzte Fake news handelt.(1) Wer die Pull-Faktor-These für glaubwürdig gehalten hatte, dachte vielleicht, dass die eingestellten Rettungsaktionen wie angekündigt durch eine seriöse Politik zum Schutz der Ärmsten kompensiert würde. Man sprach von einem europäischen Plan für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen, die in einem Transitland feststeckten oder von neuen Strategien mit demselben Ziel, zum Beispiel humanitäre Aufenthaltsgenehmigungen. Aber nichts davon kam zustande. Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Irrglauben nehmen die reichen Regionen der Welt (laut Angaben des UNHCR) immer weniger Geflüchtete auf, die meisten unfreiwilligen Migrant_inn_en (85 Prozent) leben in armen Ländern. 27 Prozent von ihnen landen in den absolut ärmsten Ländern der Welt.
Kriminialisierung der Retter_innen
In der 2015 von der Junker-Kommission verabschiedeten Migrationsagenda, die bereits in Richtung Grenzschliessung ging, gab es immerhin noch die Idee eines europäischen Plans für die Neuansiedlung von Migrant_inn_en aus Drittländern mit verpflichtenden Quoten für alle Mitgliedsstaaten. Doch dieses Projekt wurde nie realisiert. Das neue Migrations- und Asylpaket, das Ende September 2020 von der neuen Europäischen Kommission verabschiedet wurde, gibt diese Perspektive definitiv auf: In den wenigen (nichtssagenden) Zeilen, welche dieser Thematik gewidmet sind, wird die Neuansiedlung den Mitgliedsstaaten als freiwillige Aktion vorgeschlagen. Und schliesslich wurden alle diesbezüglichen Massnahmen aufgrund von Covid 19 auf 2022 verschoben.
Es gibt in diesem Pakt dennoch einige Bemerkungen in Bezug auf Rettungsaktionen auf hoher See: Es steht dort zum Beispiel: „Europa wird (…) Menschen, die vor Verfolgung oder Krieg flüchten, die Hand reichen – das ist unsere moralische Pflicht. Dasselbe gilt für die Rettung von Menschenleben im Meer. Hier benötigen wir einen tragfähigeren Rahmen für Such- und Rettungseinsätze.“ Ursula von der Leyen sprach auch von der Notwendigkeit, die „Kriminalisierung von humanitären Organisationen zu vermeiden“. In der Tat hat die – nie dagewesene und völlig unterschätzte – Hartnäckigkeit der NGOs, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Rettungsaktionen fortgesetzt haben, der Politik, keine Rettungsaktionen auf hoher See mehr durchzuführen, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht nur haben die NGOs weitergearbeitet, sie wurden auch lästige Zeuginnen der Folgen dieser Politik. Aus diesen Gründen hat man die Retter_innen auf alle möglichen Arten verleumdet und sogar beschuldigt, mit den Schleusern unter einer Decke zu stecken.
Die Kriminalisierung der NGOs war ein wichtiges Thema der rechtsextremen politischen Formationen. Aber wenn man genau hinsieht, sind die so genannt „gemässigten“ Regierungen demselben Weg gefolgt, nur einen Ton weniger scharf in ihrer Kommunikation. Ein Umschwenken in Bezug auf diese tödliche Politik scheint in weiter Ferne. Noch heute beharrt das Infrastruktur- und Transportministerium in Italien auf Massnahmen, welche die Arbeit der NGOs behindern und investiert viel Geld in die Überwachung des Sizilianischen Kanals, ohne den geringsten Hinweis auf Rettungsaktionen. Das neue Dekret vom 21. Oktober 2020, das zurzeit im Parlament diskutiert wird, könnte das lange erwartete Umschwenken bedeuten, doch der Text ist zweideutig und konfus. Es herrscht darin ein feindlicher Unterton gegenüber den Rettungsaktionen der NGOs, die angeklagt werden könnten, die „zuständige Behörde für die Rettung auf See“ nicht respektiert zu haben, auch wenn sie zum Beispiel Schiffbrüchige zu einem Hafen eines anderen Landes transportiert haben als das innerhalb des SAR-Raumes (Search And Rescue), wo die Rettungsaktion stattgefunden hat.
In dieser Phase der Debatte ist es mehr denn je nötig, dass der Text der Regierung zurückgenommen oder zumindest gründlich abgeändert wird. Es muss klar sein, dass die Rettungsaktionen, die auf der Grundlage des internationalen Seerechts und nach der Europäischen Konvention der Menschenrechte und dem Nichtabschiebungsprinzip durchgeführt werden, unter keinen Umständen als Delikt angesehen werden dürfen.
Gianfranco Schiavone, Vizepräsident der ASGI*
*Vereinigung für juristische Studien über die Immigration in Italien. Der Artikel ist am 13.11.2020 in der Tageszeitung Il Riformista erschienen.
- U.a. der Bericht von 2017 Blaming the rescuers von Charles Heller und Lorenzo Pezzani sowie die ausgezeichnete Studie von Matteo Villa und Eugenio Cusumano für das European University Institute, welche die Landungen in Italien zwischen 2014 und 2019 unter die Lupe nimmt.
- Zuerst der „Praxisleitfaden“ des umstrittenen Ministers Minniti und dann das „Sicherheitsdekret bis“ von Salvini (vom 4.6.2019 Nr. 53, abgeändert am 8.8.2019 Nr.77).