Das Binnenland Schweiz trägt das gewalttätige EU-Grenzregime tatkräftig mit. Unter anderem durch steigende personelle und finanzielle Beteiligung an der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Auf Anfragen reagiert die verantwortliche Eidgenössische Zollverwaltung (EZV)* ausweichend. Zeit, genauer hinzuschauen!
Wenn es um die Schattenseiten der EU-Abschottungspolitik geht, versteckt sich die Schweiz gerne hinter ihrem Status als Binnenland. Doch ein Blick auf ihre Beteiligung an der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigt auf, dass sie voll hinter deren Politik der Migrationsabwehr steht und deren Ausbau und die Militarisierung weit über Europa hinaus ohne Wenn und Aber mitträgt. Mit einem ausführlichen Fragenkatalog an die EZV haben wir versucht, etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Das Resultat ist wenig überraschend: Wo immer es kritisch wurde, gab es ausweichende Ausführungen oder gar keine Antworten, immer wieder mit Verweis auf die Zuständigkeit oder auf einsatztaktische Gründe.
Mitentscheiden? Fehlanzeige!
Die Schweiz ist finanziell wie personell an Frontex beteiligt. Ein Geflecht an Verträgen und Erweiterungen regelt die Beziehung und Beteiligung. Die Schweiz trug den Ausbau von Frontex stets mit, auch als 2015 aus der «Agentur für die Zusammenarbeit an den Aussengrenzen» die «Agentur für die Grenz- und Küstenwache» wurde. Sie ist durch das sogenannte Schengener Abkommen seit 2009 Mitglied von Frontex und stellt neben finanzieller Unterstützung eine steigende Anzahl Grenzwächter·innen zur Verfügung – bis 2027 über 60 Personen im Jahr. Total soll Frontex bis dann auf ein stehendes Heer aus 10000 Einsatzkräften zurückgreifen können.
Für die Übernahme der neuen gesetzlichen Grundlagen, die den Ausbau der Agentur regelten, setzte sich in den vergangenen Jahren besonders SP-Bundesrätin Simmonetta Sommaruga ein. Während einzelne Mitglieder ihrer Partei sich davon distanzierten, trug eine Mehrheit der Schweizer Sozialdemokrat·inn·en diese Politik lange mit. In jüngster Vergangenheit gab es zwar vermehrt kritische Stimmen aus dem realpolitischen Spektrum. Das wird an der grundlegenden Voraussetzung jedoch wenig ändern: Die offizielle Schweiz steht hinter Frontex. Und dies, ohne deren Entwicklung wesentlich mitbestimmen zu können. So schreibt die EZV auf Anfrage zur Entscheidung neuer Kompetenzen und Gesetze: «Die Erweiterung des Frontex-Mandats bedurfte einer Anpassung der EU-Verordnung zu Frontex. Diese wurde im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet, bei dem das Europäische Parlament und der Rat dasselbe Mitspracherecht hatten. Die Schweiz ist an den Beratungen des Rates beteiligt; da die EU-Verordnung Teil des Schengen-Acquis ist, ist die Anpassung der EU-Verordnung resp. die Erweiterung des Frontex-Mandats eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes. Die Schweiz hat als an Schengen assoziierter Staat bei Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes ein Mitspracherecht, jedoch kein Stimmrecht.» Mit anderen Worten: Das Schweizer Parlament kann also lediglich bejahen oder ablehnen, aber eben nicht mitentscheiden. Bisher nahm es alle Vorlagen an.
Die EZV: Bindeglied zu Frontex
Das institutionelle Bindeglied zwischen der Schweiz und Frontex ist die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV). So ist denn auch einer der Vertreter der Schweiz im Frontex-Verwaltungsrat EZV-Vizedirektor Marco Benz. Als zweite Vertreterin fungiert Medea Meier, Historikerin und Sozialanthropologin. Eine Übersicht über deren Abstimmungsverhalten im Verwaltungsrat wollte die EZV auf Anfrage nicht mitschicken. Der Frontex-Verwaltungsrat stand in den vergangenen Monaten aufgrund der Berichterstattungen über Direktor Leggeri selber immer wieder scharf in der Kritik, was für die EZV jedoch kein Grund für erhöhte Transparenz ist. Darüber hinaus hat die Schweiz im Frontex-Hauptquartier in Warschau eine sogenannte Verbindungsperson im Dienste der Grenzschutzagentur. Die Schweiz entsendet ausserdem seit diesem Jahr zwei Expert·inn·en im Bereich Grundrechtschutz in den Dienst der Agentur und Personal aus der Schweiz nimmt auf verschiedenen Ebenen regelmässig an Sitzungen von Frontex teil. Schliesslich nehmen Schweizer Beamt·inn·en an den Grenzschutzmissionen sowie an Ausschaffungen teil, wie die EZV auf Anfrage bestätigt. Die Entwicklung der Grenzschutzagentur scheint die EZV zu inspirieren. Denn diese versucht unter Führung von Oberzolldirektor Christian Bock und SVP-Bundesrat Ueli Maurer, ähnlich wie Frontex in den letzten 15 Jahren, ihre eigenen Kompetenzen massiv auszubauen.
Menschenrechte als Nebenschauplatz
Doch trotz dieser Entwicklung gibt es kaum Platz für Menschenrechte. Die gehören laut EZV nur beschränkt in ihr Verantwortungsgebiet. So schreibt diese in ihrer Antwort, dass sie dutzende Stunden Videomaterial aus den Archiven der türkischen Küstenwachen zu gewaltsamen griechischen Pushbacks gesichtet habe. Trotzdem entsendet sie weiterhin Grenzschutzbeamt·inn·en in die Region. Diese nahmen unter anderem an der Mission «RBI Evros 2020» teil, die für den Grenzschutz an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei zuständig ist. Dabei hatte der Grundrechtsverantwortliche von Frontex der Agentur 2019 empfohlen, die Evros-Mission abzubrechen, falls dort weiterhin schwere Menschenrechtsverstösse auftauchten. Das ist bis heute nicht geschehen. Die zahlreichen Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen – darunter Pushbacks, Gewalt und mehrere Todesfälle waren weder Grund genug für Frontex, den Einsatz zu stoppen, noch für die Schweiz, sich davon zu distanzieren. Die EZV weigert sich, in dieser Sache Stellung zu beziehen und die Positionen der Verwaltungsratsmitglieder der Schweiz offenzulegen. Sie betonte abwehrend, dass es nicht in der Kompetenz der Schweiz liege, «Untersuchungen über Vorkommnisse auf dem Staatsgebiet eines EU-Mitgliedstaats einzuleiten» und verwies auf das Grundrechtsbüro von Frontex. Ein Blick auf ebendiese Abteilung unterstreicht derweil eindrücklich, dass Grundrechte keine Priorität haben, denn währenddessen die Agentur in allen Bereichen rasant wächst, geht es auffallend langsam voran, wenn es um das Einstellen von Grundrechtsbeauftragten geht. 40 an der Zahl hätten bis Ende 2020 ihre Arbeit aufnehmen sollen. Doch deren Einstellung kommt nur zögerlich voran: Laut EZV sind nach wie vor nur 20 davon eingestellt.
Zwischen März und September 2020 nahmen vier Schweizer Grenzschützer·innen im Bereich Grenzüberwachung an der Evros-Mission teil. Evros ist der Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Die Grenzregion ist ein schwer zugängliches und stark militarisiertes Gebiet. Frontex ist dort mit viel Personal und Einsatzgerät präsent – unter anderem Einsatzwagen, aber auch Drohnen und sogar mit einem Zeppelin als Überwachungsinstrument. Seit Jahren existieren Berichte von systematischen Pushbacks aus der Region. Ähnliche Berichte zu systematischer Gewalt mit Frontex-Beteiligung gibt es auch aus Bulgarien und Kroatien. In Berichten des «Border Violence Monitoring Networks» schildern Betroffene die Vorfälle im Detail. Pikant dabei: Immer wieder gibt es Verweise auf deutschsprechende Frontex-Mitarbeiter·innen, die an der Gewalt und an den Pushbacks beteiligt sind – es wird sogar der Schriftzug «Polizei» erkannt. Der könnte auch auf aus der Schweiz stammenden Uniformen oder Einsatzmaterialien stehen.
Die EZV unterstreicht, dass Schweizer Beamt·innen im Einsatz Menschenrechtsverletzungen umgehend melden müssten. Bei allen bisherigen Einsätzen seien aber keine entsprechenden Meldungen eingegangen. Das wirft Fragen auf: Wie kann es sein, dass gut ausgebildete Einsatzkräfte in einer Region, in der systematische Menschenrechtsverletzungen begangen werden, während mehreren tausend Einsatztagen keinen einzigen berichtenswerten Vorfall sehen? Immer mehr Personal, immer höhere Beiträge
Für 2021 sind 53 Einsätze mit insgesamt 1902 Einsatztagen vorgesehen. Die geplanten Einsatzgebiete sind Griechenland, Bulgarien, Kroatien, Italien und Spanien. Das ist ein beachtlicher Anstieg im Vergleich zu den Einsatztagen vom Vorjahr. Doch nicht nur die geleisteten Einsatztage nehmen zu, sondern auch die finanzielle Beteiligung: Die jährlichen Beitragszahlungen steigen ständig – bis 2027 auf gegen 60 Millionen CHF. Die Schweiz bezahlt gemessen an ihrer Einwohnerzahl und Grösse einen beachtlichen Teil des Frontex-Budgets, nämlich ungefähr 5 Prozent. Es ist die Europäische Abschottungspolitik in a nutshell: Binnenländer wie die Schweiz kaufen sich in ein System voll mit Militarisierung und Gewalt ein. Auf Kosten der Rechte von Menschen auf der Flucht.
Lorenz Naegeli
*Die EZV untersteht dem Eidgenössischen Finanzdepartement unter der Leitung von SVP-Bundesrat Ueli Maurer.