Flüchtende aus Afghanistan, Syrien und anderen Kriegs- und Krisenländern versuchen, die Alpen an der französisch-italienischen Grenze zu überqueren, um einen sicheren Ort in Frankreich oder Nordeuropa zu erreichen. Oft sind es ganze Familien mit kleinen Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen. Das EBF unterstützt die Bemühungen der Freiwilligen (der so genannten "Maraudeurs") vor Ort, um den Menschen auf der Flucht zu helfen. Doch die polizeiliche Repression ist brutal gegenüber den Flüchtlingen und ihren Unterstützer_inne_n. Hier geben wir den Bericht eines 16-jährigen afghanischen Jungen wieder, der mit seiner Mutter und seinem 13-jährigen Bruder auf dem Weg von Italien nach Frankreich war (übersetzt aus dem Englischen):
„Am Montag, den 16. November 2020, bin ich mit meiner Mutter und meinem Bruder aus Oulx in Italien abgereist. Wir nahmen den 13-Uhr-Bus, zusammen mit zwei anderen Familien. Wir stiegen in Claviere aus dem Bus und liefen direkt los in Richtung Frankreich. Nachdem wir die Grenze überquert hatten, fanden wir einige Leute, die uns halfen. Wir wollten gerade in die Autos einsteigen, als viele Polizisten ankamen, schwarz gekleidet und auch in militärischen Uniformen. Alles wurde durchsucht: unsere Körper, unsere Taschen, wir mussten unsere Schuhe ausziehen. Die Frauen wurden von Polizistinnen durchsucht.
Wir mussten alle zur Polizeistation laufen und wurden in einen Container hinter dem Grenzposten gesteckt, alle zusammen. Wir wurden erneut durchsucht. Wir mussten etwa acht Stunden in diesem Container bleiben, also in einem einzigen Raum, und kamen erst heraus, als die italienische Polizei eintraf. Doch bevor dies geschah, befragte die französische Polizei jeden von uns über unsere Identität – auf Französisch. Ich sagte, dass wir nur Englisch verständen, aber die Polizei redete weiter auf Französisch. Wir bekamen weder zu trinken noch zu essen, obwohl eine schwangere Frau und eine mit Diabetes dabei waren. Nach etwa sechs oder sieben Stunden kamen vier Polizeibeamte, um uns zu zwingen, Dokumente zu unterschreiben. Die Papiere wurden nicht übersetzt, niemand informierte uns über unsere Rechte. Anschliessend mussten wir – einer nach dem anderen – ins Büro der italienischen Grenzpolizei, die unsere Fingerabdrücke, von jedem Zeigefinger, nahm, ausser bei den Minderjährigen. Dann haben uns die italienischen Polizisten wieder in Oulx am Bahnhof abgesetzt, von wo wir herkamen.
Am Donnerstag, den 19. November, versuchten wir es nochmals in Richtung Frankreich und fuhren wieder mit demselben Bus, mit einer zweiten Familie. Dann sind wir etwa zwei Stunden marschiert, es ging steil bergauf. Zum Glück trafen wir wieder Leute, die uns geholfen haben. Wir bildeten zwei Gruppen. Meine Familie wurde gegen 18 Uhr, nach dem Gipfel, angehalten, als wir zum Auto der Ärzte (von Médecins du Monde, Anm.d.Red.) herunterstiegen. Aber es waren schon viele Polizisten da, sechs in dunkelblauer Kleidung und fünf in Militäruniformen. Als wir auf der Strasse ankamen, tauchte ein weisses Auto auf, das keinerlei Aufschrift trug, um uns abzuholen, und das brachte uns erneut zum Grenzposten. Wir landeten wieder in diesem Container. Meine Mutter hatte einen sehr schmerzenden Knöchel und bat über eine Stunde lang, einen Arzt sehen zu dürfen. Drei Polizisten kamen, um ihren Knöchel zu untersuchen, sie drückten auf ihm herum, obwohl sie grosse Schmerzen hatte. Einer der Polizisten erklärte: „Ich bin Arzt.“ Aber schliesslich riefen sie dann doch das Krankenhaus an, und endlich kam ein Ambulanzwagen und brachte uns ins Hospital.“
Dieser Bericht wurde von Daphne, die in der Initiative „Tous Migrants“ engagiert ist, im „Refuge Solidaire“ von Briançon am 23.11.2020 aufgezeichnet.