Derzeit finden die größten selbstorganisierten Proteste von Asylwerber_innen in der jüngeren Geschichte Österreichs statt.
Bereits Mitte Oktober 2012 kam es zu einer Demonstration und zweitägigen Dauerkundgebung somalischer Flüchtlinge vor dem österreichischen Parlament in Wien. Am 24.November marschierten Asylbewerber_innen von Traiskirchen nach Wien und bauten ein Lager vor der Votivkirche auf. Dem vorausgegangen waren die Proteste rund um die Kärntner «Sonderanstalt» auf der Saualm und der erneute Fokus um die katastrophale Lebenssituation von Flüchtlingen in Österreich in den über das Land verteilten Unterkünften aber auch im Erstaufnahmelager Traiskirchen. Weitere konkrete Gründe für die Proteste in Österreich: ein äußerst prekärer Rechtsstatus, ärgste Schubhaftbedingungen, willkürliche Asylverfahrenspraxis und soziale Entrechtung sind für viele Flüchtlinge in Österreich Lebensrealität.
Schon den ganzen Sommer über kam es zu Flüchtlingsprotesten in ganz Europa. In Deutschland etwa startete Anfang September ein mehrere Wochen dauernder Protestmarsch nach Berlin1. Diesem waren Flüchtlingsproteste in zahlreichen deutschen Städten vorausgegangen. Auch in Budapest, Berlin, Amsterdam und an den Außengrenzen der EU kam es zu Protesten vor nationalen Parlamenten, des weiteren wurden Protestcamps oder Besetzungen von Refugees durchgeführt, oftmals gemeinsam mit Unterstützer_innen2.
Was wollen die protestierenden Flüchtlinge?
Die Flüchtlinge haben eine Reihe von Forderungen. Diese reichen von ganz grundlegenden, die unter anderem das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und die dortige triste Lagersituation betreffen, bis zu solchen, die an eine höhere politische Instanz gerichtet sind. Dazu gehören etwa die Forderungen nach Zugang zum Arbeitsmarkt oder nach einem legalen Aufenthalt in Österreich. Von den EU-Instanzen wird die Abschaffung des Dublin-II-Systems3 gefordert. Kaum eine dieser Forderungen ist neu – sie werden vielmehr seit Jahren von namhaften Expert_innen aus NGOs, Gewerkschaften oder auch kirchlichen Einrichtungen gestellt, insbesondere die dringende Forderung nach freiem Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie sind eigentlich unstrittig, wenn-gleich sie von der Politik bisher ignoriert wurden. Neu ist nun, dass Flüchtlinge, also die unmittelbar von der Politik in diesem Bereich Betroffenen, ihre Forderungen selbst artikulieren, diese an die verantwortlichen Politiker_innen richten und sich außerdem durch den aktuellen Protest Gehör verschaffen.
Wer sind die Refugees?
Ausgehend von der menschenunwürdigen Situation im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und unter dem Eindruck der Bewegungen in den Nachbarländern haben Flüchtlinge beschlossen zur Selbstorganisierung zu schreiten. Migrant_innen u. a. aus Pakistan, Afghanistan, Somalia, Algerien, Marokko beteiligen sich. Begleitet wird dieser Prozess von Unterstützer_innen, die sich in einer sicheren Situation in Österreich befinden.
Im Zentrum stehen die von der Politik in diesem Bereich betroffenen Flüchtlinge, sie bezeichnen sich selbst als Refugees. Die beteiligten Flüchtlingsaktivist_innen kommen aus zahlreichen Ländern, sprechen verschiedenste Sprachen und mussten aus unterschiedlichen Gründen aus ihren Heimatländern nach Europa flüchten. Unter ihnen befinden sich Aktivist_innen, die sich schon seit vielen Jahren in Österreich aufhalten, aus verschiedenen Gründen immer noch keinen abgesicherten Aufenthaltsstatus haben, aber auch Aktivist_innen, die vor kurzem erst in Österreich angekommen sind und die unwürdige Situation in ihren Unterbringungseinrichtungen nicht mehr aushalten. Viele sind sehr jung, manche aber auch älter. Auch sozial sind die Refugee-Aktivist_innen keine homogene Gruppe, sondern haben unterschiedliche religiöse, politische, ökonomische und familiäre Hintergründe.
Schutz in der Kirche
Seit dem 18. Dezember 2012 haben die Flüchtlinge nun in der Votivkirche im Zentrum von Wien Schutz gefunden. Seit dem 22. Dezember befinden sie sich im Hungerstreik. Abgesehen von einer zehntägigen Unterbrechung Ende Jänner, wird dieser fortgesetzt bis die politischen Forderungen erfüllt sind. Am 28. Dezember räumte die Polizei das Camp der Refugees, das während Wochen vor der Kirche bestanden hatte. Der Protest in der Kirche geht indes weiter. Der Protest der Flüchtlinge hat in Österreich eine lebhafte Debatte um fehlende Menschenrechte und über das Recht auf Asyl ausgelöst. Zahlreiche prominente Schauspieler_innen, Autor_innen, Künstler_innen und andere Personen des öffentlichen Lebens haben sich mit den Anliegen der Refugees solidarisiert. Am 13. Jänner stattete der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, den Geflüchteten in der Kirche einen Besuch ab und unterstützte ihre Forderungen.
Tägliche Informationen über den weiteren Verlauf der Proteste finden Sie auf der Homepage http://refugeecampvienna.noblogs.org
- siehe Archipel No 208.
- siehe Artikel «Widerstand gegen Grenzregime» in dieser Ausgabe.
- Die Dublin II-Verordnung sieht vor, dass das europäische Land, welches von den Asylsuchenden als erstes betreten wird, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.