Die Lage dieser Menschen könnte kaum paradoxer sein: einerseits spricht man auf dramatisierte und übertriebene Weise von den zehntausenden subsaharischen Migrant_innen, die in Marokko leben und nur darauf warten würden, nach Europa «einzudringen». Doch wenn es darum geht, die Verantwortung für die Bootsunglücke zu übernehmen, die ja eine unmittelbare Konsequenz der europäischen Migrationspolitik sind, spielt man oftmals die Zahlen herunter und redet von einigen «Illegalen», die ertrunken seien.Die Zahlen, die im ersten Fall angegeben werden, sind oftmals Gegenstand von Verhandlungen über Finanzhilfen oder politische und diplomatische Dividenden. Sie werden in Europa von populistischen Medien publiziert, um in der Bevölkerung Angst zu schüren und so die Implementierung einer Migrationspolitik zu rechtfertigen, die einzig und allein einem Sicherheitsdispositiv gehorcht. Aus diesen Gründen ist es unbedingt notwendig, die Zahlen, die in Bezug auf die so genannte irreguläre Migration zirkulieren, kritisch zu betrachten und zu hinterfragen.
Sicherheit – für wen?
Die Europäische Union macht sich gerade daran, auf ihrem Territorium so genannte Hot Spots zu errichten. Es werden sogar zahlreiche Lager ausserhalb der EU errichtet, die sowohl dazu dienen sollen, diejenigen Migrant_in-nen aufzuhalten, die sich in Richtung Europa aufmachen wollen, als auch diejenigen zurückzunehmen, die aus Europa abgeschoben wurden. Um diese Logik abzusichern, erfindet die EU eine ganze Reihe neuer Begriffe, die ihre Politik gegenüber der Öffentlichkeit absichern sollen. So hört man nun immer wieder von so genannten «sicheren Drittländern» oder «sicheren Herkunftsländern».
Juristinnen und Juristen dürften sich gewundert haben, als sie plötzlich Länder wie die Türkei, Marokko, Algerien und Tunesien auf der Liste sahen, die die Europäische Union als sicher einstuft. Wenn es nach Brüssel geht, so sind nicht mehr diejenigen Länder sichere Dritt- bzw. Herkunftsländer, die die elementaren Rechte und Freiheiten der Bürger_innen garantieren, sondern schlicht diejenigen, die akzeptieren, sich in die Logik der Externalisierung der EU-Grenzpolitik einzuschreiben. Das bedeutet, dass für die EU ein Land dann als «sicher» gilt, wenn sich deren politische Verantwortliche sowohl dazu bereit erklären, Migrant_innen auf ihrem Weg nach Europa zu blockieren, als auch diejenigen Geflüchteten wieder zurückzunehmen, die als Transit-Migrant_innen durch ihr Land hindurchgereist sind. Es ist genau dieses Rahmenwerk, das nun dazu geführt hat, dass die EU Marokko als sicheres Drittland deklariert hat und diesem Land die Rolle des Grenzgendarmen für einen Teil ihrer Aussengrenzen zuweist.
Die Grundidee besteht darin, die Verantwortung für das eigene Handeln abzugeben und den anderen die schmutzige Arbeit zuzuteilen. Um seine Ziele zu erreichen, gibt die EU Milliarden Euros aus und lockt mit politischen und ökonomischen Dividenden. Auf diese Weise sollen die entsprechenden Länder zur Kooperation bewegt werden. Was mich am Abschluss dieser Verträge besonders irritiert, ist der Umstand, dass diese riesigen Summen ungeachtet der Tatsache ausgegeben werden, dass es hier um das Leben von Menschen geht – unterliegen die Unterzeichner_innen dieser Verträge hier nicht einer ebenso mafiösen Logik wie die Schlepper, die sie als so schändlich und skrupellos verurteilen?
Ein «sicheres» Drittland?
Marokko wird also nun als «sicheres Drittland“ gehandelt, obwohl die Situation der subsaharischen Migrant_innen dort alarmierend ist: Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist versperrt, ausserdem finden laufend Verhaftungen und Rückschiebungen aus den nördlichen Grenzstädten Nador und Tanger statt. Die Betroffenen werden in den Grossstädten Casablanca, Rabat und Fès einfach auf der Strasse ausgesetzt. Diejenigen, die keine Papiere haben, werden oftmals nach Oujda abgeschoben, ins Grenzgebiet zwischen Marokko und Algerien. Dort wirft man sie in einen Graben von sieben Metern Tiefe, der ausgehoben wurde, um Migrant_in-nen daran zu hindern, von Algerien nach Marokko zu gelangen. Doch auch denjenigen, die vom UNHCR und vom marokkanischen Staat anerkannt wurden, verweigert man die Ausstellung eines Reisepasses. Der Zugang zu Krankenhäusern ist für Migrant_in-nen nach wie vor äusserst eingeschränkt: Die Betroffenen können nur dann sicher sein, überhaupt behandelt zu werden, wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin einer antirassistischen Gruppe oder einer NGO sie begleitet. Des Weiteren erweist sich der Zugang zur Schulausbildung für Kinder von Migrant-_innen als sehr schwierig. Die Behörden erlauben zwar theoretisch, dass sie die marokkanischen Schulen besuchen – doch es gibt keinerlei Unterstützungs- oder Begleitmassnahmen, die dem Umstand gerecht werden, dass die allermeisten in enorm prekären Bedingungen leben. In einzelnen Schulen kommt es ausserdem vor, dass Flüchtlingskinder schlicht und einfach abgewiesen werden. Geflüchtete werden oftmals Opfer verschiedener Formen von Diskriminierung, von Beschimpfungen und physischer Aggression. Subsaharische Migrant_innen, die auf der Strasse betteln, werden oftmals festgenommen, eingesperrt und ebenfalls an die algerische Grenze abgeschoben – eine Praxis, von der beispielsweise syrische Flüchtlinge oder marokkanische Staatsbürger_innen, die betteln, nicht betroffen sind.
Ich bin nicht überrascht, dass Europa Marokko als sicheres Herkunftsland deklariert – dennoch verweist die Haltung Europas auf den Mangel an Aufrichtigkeit und auf die Doppelzüngigkeit der europäischen Staaten. Sie verweist ungeschminkt auf die grosse Lücke, die zwischen dem Diskurs über Demokratie und Menschenrechte auf der einen Seite und der bitteren Realität der Sicherheitspolitik der EU auf der anderen Seite klafft.
Wirkliche Unterstützung
Es mangelt der EU auch an Aufrichtigkeit, weil sie genau weiss, dass die finanziellen Rücküberweisungen, welche die in Europa lebenden Migrant_innen in ihre Herkunftsländer schicken, einen weitaus grösseren Beitrag zur Ökonomie der Länder des Südens leisten als die so genannte Entwicklungshilfe. So hat die Afrikanische Entwicklungsbank im Jahr 2013 geschätzt, dass Migrant_innen jährlich mehr als 67 Milliarden Dollar nach Afrika schicken, während die jährliche Entwicklungshilfe, die die EU den 54 Ländern des Kontinents gewährt, sich auf nur rund 20 Milliarden Dollar beläuft. Es ist ausserdem erwiesen, dass die Rücküberweisungen der Migrant_inn-en die Marginalisierten in den Ländern des Südens direkt erreichen. Diese Rücküberweisungen sind die vorrangige Geldquelle zahlloser Familien; sie dämpfen soziale Spannungen und sind oftmals der einzige Schutzanker angesichts der fehlenden Jobmöglichkeiten vor Ort. Hingegen bleibt ein grosser Teil der Entwicklungshilfegelder in den Händen der Geber: Sie dienen dazu, Experten zu bezahlen und Apparate zu erhalten. Ein weiterer grosser Teil der Gelder landet oftmals in den Taschen der afrikanischen Machthaber, die damit ihre Position sichern oder Unsummen im Ausland verschleudern.
Notwendiges Umdenken
Die Doppelzüngigkeit der EU zeigt sich auch daran, dass sich die reale Politik darauf beschränkt, stets strengere, repressivere und diskriminierendere Gesetze zu erlassen; gleichzeitig gibt man vor, die Gründe, die Menschen zur Flucht zwingen, zu bekämpfen. Doch kann man den Migrantinnen und Migranten die Türe vor der Nase zuschlagen und gleichzeitig die Türe sperrangelweit offen lassen, durch die die Rohstoffe aus den Herkunftsländern der Geflüchteten in den Norden fliessen? Die repressive Politik, die hier ins Werk gesetzt wurde, wird an der aktuellen Situation nichts ändern. Sie wird höchstens dazu führen, die Migrationsrouten zu verschieben und die Zahl der Todesopfer noch weiter in die Höhe zu treiben. Diese Erkenntnis sollte Europa wachrütteln und dazu bringen, eine humanistische Politik zu betreiben, die die fundamentalen Rechte der Migrant_innen respektiert.
Es wird niemals gelingen, die Migration einzudämmen, indem man grosse Summen an Geld für die Militarisierung der Grenzen ausgibt. Im Gegenteil: Es wird notwendig sein, den Mut aufzubringen, den Problemen klar gegenüberzutreten, welche die Menschen dazu zwingen, zu migrieren.
Dazu wird es notwendig sein, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass viele bewaffnete Konflikte deshalb zu keinem Ende kommen, weil Waffenkonzerne daran gut verdienen. Des weiteren wird man akzeptieren müssen, dass die Verantwortung für die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Südens bei den multinationalen Konzernen liegt, die in Komplizität mit den europäischen Politikern handeln sowie mit den afrikanischen Machthabern, die ihrerseits nicht von einer schlechten Regierungsführung abweichen und sich der Unterstützung des Westens trotzdem fortwährend sicher sein können. Solange sich an diesem Gefüge nichts ändert, werden die Menschen weiterhin ihre Länder verlassen.
Konkrete Hilfe
Was nun unser Engagement betrifft, so haben wir uns angesichts der aktuellen Lage dazu entschlossen, konkrete Hilfsmassnahmen für die subsaharischen Frauen zu ergreifen, die in Marokko stranden und nicht wissen, wo sie eine Herberge finden können. Für sie haben wir nun ein Schutzhaus mit dem Namen «Baobab» aufgebaut. Es steht subsaharischen Frauen und Kindern offen und hat Aufnahmekapazitäten für rund 20 Personen. Der Bedarf an Plätzen ist jedoch noch viel grösser und nimmt auch ständig zu. Diesen September haben wir ein Schulbildungsprogramm für Flüchtlingskinder in Angriff genommen und haben es zunächst geschafft, 30 Kinder in Schulen zu integrieren. Für dieses Projekt sind wir auf der Suche nach Einzelpersonen oder Organisationen, die eine Patenschaft für die Schulbildung von Flüchtlingskindern in Marokko übernehmen.
Emanuel Mbolela
Kurzbiographie des Autors
Emmanuel Mbolela, geboren 1973, studierte in Mbuji-Mayi, Provinz Kasai, in der demokratischen Republik Kongo Ökonomie und war in der Studierenden-Organisation der Oppositionspartei UDPS (Union für Demokratie und sozialen Fortschritt) aktiv. Im Jahr 2002 wurde er im Zuge einer Demonstration gegen das Regime von Joseph Kabila inhaftiert, konnte jedoch entkommen und flüchtete. Seit 2008 lebt und arbeitet er in den Niederlanden. Er ist Vortragender und antirassistischer Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact. Emmanuel Mbolela schreibt in seiner autobiographischen Erzählung Mein Weg vom Kongo nach Europa – zwischen Widerstand, Flucht und Exil (Mandelbaum-Verlag, 4. Auflage, Wien, 2015) über seine politische Aktivität im Kongo, die brutale Repression staatlicher Sicherheitsorgane, sowie über seine Flucht durch den afrikanischen Kontinent und den Aufbau von selbstorganisierten Sans-Papiers-Gruppen in Marokko. Kontakt für Vorträge, Lesungen und Unterstützung auf Französisch: arcom100(a)yahoo.fr, auf Deutsch: da.behr(a)reflex.at (Dieter Alexander Behr, Übersetzer des Buches, sowie dieses Artikels und Mitstreiter von Emmanuel Mbolela im Netzwerk Afrique Europe Interact).